unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2017.art28d
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Rezension: Michael Schulte-Markwort: SUPER-KIDS. Warum der Erziehungsehrgeiz unsere Familien unglücklich macht. 2016, Pattloch Verlag, München, 269 Seiten, € 19,99
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2017
W. Topel
Michael Schulte-Markwort: SUPER-KIDS. Warum der Erziehungsehrgeiz unsere Familien unglücklich macht 2016, Pattloch Verlag, München, 269 Seiten, € 19,99
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uj 4 | 2017 189 Rezension Die Familie verfügt über spezifische erzieherische Potenzen, die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes eine wesentliche Bedingung sind und von anderen Erziehungsträgern kaum oder gar nicht ersetzt werden können. Von besonderem Einfluss sind neben strukturellen und sozioökonomischen Determinanten die Beziehungen der Familie zum gesellschaftlichen Umfeld, die Familienatmosphäre, die Eltern- Kind-Beziehungen, das Verhältnis der Eltern zueinander, ihre Persönlichkeitseigenschaften sowie der von ihnen praktizierte Erziehungsstil und die Erziehungsmaßnahmen. Die meisten Mütter und Väter sind bestrebt, die gesunde und harmonische Entwicklung ihrer Kinder nach besten Kräften zu unterstützen. M. Schulte-Markwort, auch bekannt durch sein lesenswertes Buch „Burnout-Kids“, möchte mit dieser Schrift aus der Sicht eines Kinder- und Jugendpsychiaters darauf aufmerksam machen, wie sich gesellschaftliche Gegebenheiten auf die Ausprägung der Lebenseinstellungen, sozialen Interaktionen, kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, Gewohnheiten und Charaktereigenschaften von Kindern und Jugendlichen auswirken. Ausgehend von seinen langjährigen klinischen Erfahrungen als Arzt, möchte er zur Diskussion über die Erziehungsziele unserer Gesellschaft herausfordern. Dabei geht es ihm vor allem darum, dass die heranwachsende Generation physisch und psychisch gesund aufwächst, nicht durch den übersteigerten Ehrgeiz der Sorgeberechtigten („Trainer-Eltern“) im Wettbewerb mit anderen „Konkurrenz-Eltern“ - oft bei Ignorierung des realen Leistungsvermögens der Kinder - überfordert wird oder chronische psychische Erkrankungen entstehen. Er möchte verhindern, dass Kinder zu„hyperangepassten Leistungsträgern“ werden, die in der Tiefe ihres Herzens unglücklich sind (S. 13). Der Autor vermutet nicht zu Unrecht, dass heute viele Familien am Optimierungsstreben und Erziehungsehrgeiz leiden. Seine Erkenntnisse können zweifellos dazu beitragen, sich im Spagat zwischen der extremen Optimierung der individuellen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen und ihrer ungestörten Persönlichkeitsentfaltung zurechtzufinden. Deshalb ist die Forderung berechtigt, gemeinsam mit den Eltern - auf Augenhöhe - eine „respektvolle Dienstleistung“ am Kind durchzuführen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie kann dabei im Rahmen der ärztlichen Fürsorge gewiss eine wichtige Rolle spielen. Das Buch ist verständlich, durch zahlreiche Kasuistiken anschaulich und praxisnah abgefasst. Der Autor möchte keine Patentrezepte vermitteln, sondern dazu beitragen, das dynamische Wesen der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu verstehen, auf Perspektiven aufmerksam machen, die neue Denk- und Erlebnisstrukturen für die Erziehung der Jungen und Mädchen ermöglichen. Die ersten beiden Kapitel („Die Superhelden“, „Die Supereltern“) charakterisieren wichtige psychische Variablen der heutigen Kinder- und Elterngeneration. Die hier vorgestellten Kinder und Jugendlichen zeigen Stimmungsschwankungen, „Schulleiden“ und die Folgen der Zwistigkeiten zwischen Eltern, denen mit Einfühlungsvermögen und praktischen Hilfestellungen begegnet werden sollte, die jedoch keiner „optimalen Formung“ bedürfen. Eine gründliche Persönlichkeitsdiagnostik der betroffenen Mädchen und Jungen erweist sich als grundlegende Voraussetzung für adäquate Unterstützungsmaßnahmen. Deutlich wird zugleich: Viele Eltern haben Schwierigkeiten, die Bedürfnisse und Fähigkeiten ihrer Kinder objektiv zu beurteilen, immer Michael Schulte-Markwort: SUPER-KIDS. Warum der Erziehungsehrgeiz unsere Familien unglücklich macht 2016, Pattloch Verlag, München, 269 Seiten, € 19,99 190 uj 4 | 2017 Rezension mehr suchen nach dem Patentrezept für „patente Kids“. Zuzustimmen ist, wenn von der Gesellschaft eine den Anlagen der Mädchen und Jungen entsprechende Förderung gefordert wird, die eine Erziehung im „Optimierungswahn“ ausschließt. Das dritte und vierte Kapitel („Super - muss das sein? Familiäre Wirklichkeit heute“, „Gesellschaftliche Zwänge“) thematisieren das Innenleben von „Superfamilien“ und die gesellschaftlichen Bedingungskonstellationen, die den Rahmen liefern für die „Optimierungsmaschinerie“. Interessante Ausführungen erfolgen über die Familie als „Kleinunternehmen“, die Probleme von „inkludierten“ Kindern, gescheiterte Ehen, schulische Leistungsmängel und Intelligenzuntersuchungen. Richtig ist zweifellos die Empfehlung, sich nicht nur als Objekt gesellschaftlicher Einflüsse zu sehen, sondern aktiv auf die Veränderung fragwürdiger Umstände hinzuwirken. Was kann getan werden, damit Eltern das tun, was den wirklichen Bedürfnissen und Leistungsdispositionen der Kinder entspricht? Dazu unterbreitet Schulte-Markwort im umfassenden Kapitel fünf („Statt eines Rezeptbuchs: Wie Beziehung heute funktionieren kann“? ) wertvolle Anregungen. Er versucht in den einzelnen Unterkapiteln die Fragen zu beantworten, die von Eltern ihm häufig in Beratungssituationen gestellt worden sind. Diese Hilfestellungen, das „Handwerkszeug“ für eine kindgemäße Förderung, basieren seiner Meinung nach auf einer authentischen Beziehung zwischen den Eltern und Kindern, weniger auf Erziehungsstrategien. Seine Feststellung, „eine Erziehung auf der Basis einer beeinträchtigten, gestörten oder sonst wie erkrankten Beziehung kann nicht gut funktionieren“ (S. 144), entspricht den täglichen pädagogischen Erfahrungen. Die Hilfen durch den „Optimierungsdschungel“ tangieren eine Vielzahl von Fragen des pädagogischen Alltags, beispielsweise die Rolle des individuellen Profils der Kinder und Jugendlichen im pädagogischen Prozess, die Aufgaben von Selbst- und Fremdbestimmung bei der Persönlichkeitsentwicklung, die Wechselwirkung von Vertrauen und Kontrolle, „Drohnen- Eltern“ (kümmern sich maximiert und optimiert um ihre Kinder) als Risikofaktor für die Persönlichkeitsentfaltung, die alltäglichen Formen der Verwahrlosung oder die Bedeutung von Liebe und Respekt in den Eltern-Kind-Interaktionen. Die Denkanstöße des Verfassers sollten im Kontext mit der Spezifik der jeweiligen familiären Situation unvoreingenommen durchdacht werden. Das Kapitel sechs („Nachwort oder: Das Wildwasserkanu“) ist eine Zusammenfassung signifikanter Erkenntnisse, die mit der Hoffnung verbunden wird, die Eltern mögen sich nicht vom „Optimierungswahn“ der Welt und von „Vergleichseltern“ anstecken lassen, sondern gelassen und entspannt die Ausprägung der individuellen Potenzen der Kinder und Jugendlichen konstruktiv unterstützen. Fazit: Eine praxisorientierte Publikation, die vor allem für Eltern überdenkenswerte Impulse für die gesunde und ungestörte Entwicklung ihrer Kinder gibt, und zugleich davor warnt, durch einen übermäßigen Ehrgeiz die Mädchen und Jungen zu überfordern. Dabei geht es keineswegs vorrangig um die Behandlung gravierender psychopathologischer Phänomene, vielmehr um das alltägliche Erziehungsgeschehen in Familien, die Prävention von Störungen des Erlebens und Verhaltens. Das Buch ist deshalb auch für Erzieher, Lehrer, Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte eine nützliche Informationsquelle. Dr. habil. W. Topel, Leipzig DOI 10.2378/ uj2017.art28d
