eJournals unsere jugend 69/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2017.art50d
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2017
697+8

Körperbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen

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2017
Annette Schneider
Das Körperbewusstsein entwickelt sich bereits in der frühen Kindheit und gilt als protektiver Faktor in der Gesundheitsförderung. Alters- und geschlechtsabhängige Unterschiede in der Körperwahrnehmung, das subjektive Körpergefühl und das subjektive Gesundheitsempfinden basieren auf gesellschaftlichen Normen, welche in diesem Beitrag vorgestellt und diskutiert werden.
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333 unsere jugend, 69. Jg., S. 333 - 341 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art50d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Annette Schneider Jg. 1960; Dipl.-Biologin, Professorin für Kindheitspädagogik an der SRH Hochschule Heidelberg Körperbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen Schlussfolgerungen für die Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe Das Körperbewusstsein entwickelt sich bereits in der frühen Kindheit und gilt als protektiver Faktor in der Gesundheitsförderung. Alters- und geschlechtsabhängige Unterschiede in der Körperwahrnehmung, das subjektive Körpergefühl und das subjektive Gesundheitsempfinden basieren auf gesellschaftlichen Normen, welche in diesem Beitrag vorgestellt und diskutiert werden. Kinder und Jugendliche gehören, auf Basis der Inanspruchnahme medizinischer, psychologischer und psychiatrischer Dienste, zur gesündesten Bevölkerungsgruppe (Cierpka/ Seiffge- Krenke 2009). Allerdings häufen sich auch bei ihnen in den letzten Jahren zivilisationsbedingte Defizite und Erkrankungen. Neben Verhaltensauffälligkeiten, erhöhtem Unfallrisiko und Haltungsproblemen gelten die Zunahme des sitzenden Lebensstils sowie die stetig ansteigende Zahl an übergewichtigen und adipösen Kindern und Jugendlichen als besonders besorgniserregend (Bundesministerium für Gesundheit 2008). Dieser Entwicklungstrend steht in krassem Gegensatz zu dem heute vorherrschenden Schönheitsideal. In den Medien werden die Kinder und Jugendlichen mit superschlanken weiblichen Models und sportlichen, muskelbepackten jungen Männern konfrontiert, die den heute gängigen Lifestyle präsentieren, der jedoch für die meisten unerreichbar ist. In diesem Kontext ist es daher nicht verwunderlich, dass die aktuelle HBSC-Studie (Health Behaviour of School-aged Children, eine unter der Schirmherrschaft derWHO in 39 Ländern durchgeführte Studie) ergab, dass die deutschen Jugendlichen „… traurige Spitzenreiter in Sachen Körperunzufriedenheit sind“ (Kolip/ Buksch 2012). Ein positives Bild vom eigenen Körper ist jedoch die notwendige Voraussetzung dafür, sich „in seinem Körper wohlzufühlen“ und pfleglich und verantwortungsbewusst mit diesem umzugehen. Ein positives Körperverständnis bietet Schutz vor schädigenden Einflüssen, ermöglicht Verständnis für Krankheiten und Einsicht in Therapien (Schneider 2012). Weiterhin weisen Ergeb- 334 uj 7+8 | 2017 Körperbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen nisse der Resilienzforschung darauf hin, dass eine positive Körperwahrnehmung und eine realistische Einschätzung der körperlichen Fähigkeiten als personale Schutzfaktoren gelten, die bei der Bewältigung anstehender Entwicklungsaufgaben im Kindes- und Jugendalter unterstützen können (Bengel et al. 2009). Die altersabhängige Entwicklung des Körperbewusstseins Was genau ist aber mit dem Begriff „Körperbewusstsein“ gemeint und wie entwickelt sich dieses? Je nach Fachdisziplin wird der Begriff des Körperbewusstseins etwas unterschiedlich definiert. Die hier zugrunde liegende anthropologisch-verhaltensbiologische Definition versteht unter Körperbewusstsein die „… gedankliche Einschätzung des eigenen Körpers, seiner motorischen und sensorischen Fähigkeiten“ (Schneider 2012; Haug-Schnabel 2002). Das Körperbewusstsein wird in diesem Sinn als gedankliches Konstrukt vom eigenen Körper verstanden, das hauptsächlich von motorischen und sensorischen Erfahrungen geprägt ist und sich über mehrere, aufeinander aufbauende Stufen entwickelt (Abb. 1). Ein Basisbaustein ist die Körperbewegung. Aus vielen einzelnen, in unterschiedlichen Situationen und verschiedenen Interaktionen mit der Umwelt ausgeführten Körperbewegungen baut sich im Gehirn im Laufe der frühkindlichen Entwicklung das Bewegungsgedächtnis auf. In diesem werden sowohl die vom Individuum ausgeführten Bewegungssequenzen als auch die vorangegangenen oder nachfolgenden Reaktionen aus der Umwelt verarbeitet, sortiert, mit bereits bestehenden motorischen Erfahrungen kombiniert und letztendlich gespeichert. Aus der Summe der im Bewegungsgedächtnis gespeicherten Bewegungssequenzen bildet sich dann die Körperpraxis, beschreibbar als der körperlich-motorische Umgang mit dem Körper in der Lebensumwelt (Schneider 2012; Haug-Schnabel 2007). In einer ähnlichen Entwicklungskaskade verläuft der Aufbau des sensorischen Bereichs. Unter Verwendung aller zur Verfügung stehenden Sinnesleistungen des Körpers nimmt das Individuum seine belebte und unbelebte Umwelt wahr. Die dabei gemachten Erfahrungen werden ebenfalls im Gehirn verarbeitet, sortiert und mit bereits erlebten Empfindungen kombiniert und dann gespeichert. Die Palette an gespeicherten Empfindungen hilft dem Individuum, auch den eigenen Körper wahrzuneh- Bewegungsgedächtnis Körperwahrnehmung Körperpraxis Körpergefühl Körperfunktion Körperkenntnis Körperbewegung Sensorische Wahrnehmung Abb. 1: Stufenmodell zur Entwicklung des Körperbewusstseins (Schneider 2009, modifiziert nach Haug-Schnabel 2001) 335 uj 7+8 | 2017 Körperbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen men, dessen Erscheinungsform, Funktionsfähigkeit, Bedürfnisse und auch Schwächen. So entsteht in der frühen Kindheit eine subjektive Körperwahrnehmung, die, durch einen Abgleich mit bzw. den Reaktionen von anderen Sozialpartnern, zur Ausbildung eines subjektiven Körpergefühls führt. Das Körpergefühl bedingt die Gefühle, die ein Individuum seinem Körper entgegenbringt, und es kann, je nach erlebten Erfahrungen, positiv oder negativ sein und muss auch nicht zwangsläufig der Realität entsprechen (Schneider 2012). Sensorische und motorische Fähigkeiten bedingen sich in diesem Konstrukt gegenseitig, denn ohne Bewegung ist ein Zugewinn an Wahrnehmungserfahrungen kaum möglich, genauso wenig, wie Bewegung ohne Sinnesleistungen erfolgen kann. Letztendlich müssen sowohl der motorische als auch der sensorische Bereich entsprechend entwickelt sein, damit das Individuum letztendlich auch die Möglichkeit hat, Erfahrungen über den Aufbau und die Funktionsweise des Körpers zu erlangen (Schneider 2012). Kommt es in dieser Entwicklungskaskade zu Verzögerungen oder Unterbrechungen, d. h. ist eine Fähigkeit unvollständig oder fehlt gänzlich, ist davon auszugehen, dass sich auch die weiteren Bausteine nicht in ausreichendem Maße ausbilden können. Die ersten sieben Lebensjahre gelten hier als sensible Phase (Ayres 2002), womit deutlich wird, dass die Entwicklung des Körperbewusstseins bereits in der frühen Kindheit beginnt, bis ins Jugendalter andauert und auch maßgeblich von der familiären und sozialen Umwelt beeinflusst wird. Mädchen und Jungen beurteilen ihren Körper unterschiedlich - empirische Befunde Um die Einflussgrößen von Familie, Peergroups und medialer Umwelt auf die Entwicklung und Ausprägung des Körperbewusstseins genauer zu analysieren, wurde an der Biologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eine repräsentative Studie zur alters- und geschlechtsabhängigenAusprägungdesKörperbewusstseins durchgeführt. An dieser Studie nahmen 2087 Probanden (1054 Jungen und 1033 Mädchen) im Alter zwischen drei und 17 Jahren teil. Die Ergebnisse zeigen alters- und geschlechtsabhängige Unterschiede im Körperbewusstsein und identifizieren die Pubertät als kritischen Punkt bei der Körperzufriedenheit und der subjektiven Beurteilung des Gesundheitszustandes. Die Ergebnisse belegen eindeutig, dass die Zufriedenheit mit dem Aussehen mit fortschreitendem Alter bei beiden Geschlechtern signifikant abnimmt (χ 2 -Test, p < 0,001), wobei die Mädchen in allen Altersklassen signifikant unzufriedener waren mit ihrer äußerlichen Erscheinungsform als die Jungen (χ 2 -Test, p < 0,001). Die größte Diskrepanz zwischen den Geschlechtern fand sich bei den 11bis 13-Jährigen, also während der Pubertät (Abb. 2). Die Unzufriedenheit mit dem Aussehen beruht bei Mädchen vor allem auf dem Gefühl, zu dick oder nicht hübsch zu sein, und diese Meinung verstärkt sich ab der Pubertät. In der Altersgruppe der 11bis 13-Jährigen fanden sich mehr als ein Viertel (27 %) der befragten Mädchen zu dick, bei den gleichaltrigen Jungen waren es nur 8 %. 100 % 75 % 50 % 25 % 0 % Probanden weiblich männlich 7 - 10 J 11 - 13 J 14 - 17 J Altersgruppen Abb. 2: Geschlechtsabhängige Nennungen zur Zufriedenheit mit dem Aussehen (Schneider 2012) 336 uj 7+8 | 2017 Körperbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen Ein ähnliches Ergebnis zeigte sich auch beim Körpergefühl. Dieses nahm zwar bei beiden Geschlechtern im Altersverlauf signifikant ab (χ 2 -Test, p < 0,001), doch die Mädchen beantworteten die Frage „Magst Du Deinen Körper? “ ab der Pubertät signifikant häufiger mit „Nein! “ als die Jungen (Abb. 3). In der Gruppe der 14bis 17-Jährigen bringen nur noch 24 % der Mädchen ihrem Körper positive Gefühle entgegen, bei den Jungen dagegen 66 %. Auffällig war auch die zunehmende Unsicherheit in der Einschätzung des Körpergefühls, was durch die Zunahme der Antwort „Ich weiß nicht“ deutlich wurde. Im Kontext obiger Ergebnisse verwundert es nicht, dass sich auch die Zufriedenheit mit dem Gesundheitszustand bei Mädchen und Jungen unterscheidet. Altersabhängig betrachtet sind Kinder bis zur Pubertät überwiegend zufrieden mit ihrer Gesundheit, danach nimmt die Zufriedenheit ab. Signifikante geschlechtsabhängige Unterschiede fanden sich erst in der postpubertären Phase (χ 2 -Test, p < 0,05). Während unter den 14bis 16-Jährigen noch 75 % der Jungen mit ihrem Gesundheitszustand zufrieden waren, reduzierte sich die Anzahl der zufriedenen Mädchen in dieser Altersklasse auf 54 % (Abb. 4). 100 % 75 % 50 % 25 % 0 % Probanden weiblich männlich 7 - 10 J 11 - 13 J 14 - 17 J Altersgruppen Abb. 3: Geschlechtsabhängige Nennungen zum Körpergefühl (Schneider 2012) 100 % 75 % 50 % 25 % 0 % Probanden weiblich männlich 7 - 10 J 11 - 13 J 14 - 17 J Altersgruppen Abb. 4: Geschlechtsabhängige Beurteilung des aktuellen Gesundheitszustands (Schneider 2012) 100 % 75 % 50 % 25 % 0 % Probanden NS SK AS 3 - 4 J 5 - 6 J 7 - 8 J 9 - 10 J 11 - 12 J 13 - 14 J 15 - 17 J Altersstufen Abb. 5: Nennungen der unterschiedlichen Organsysteme im Altersverlauf (NS = Nervensystem, SK = Skelett, AS = Atmungssystem, HKS = Herz-Kreislaufsystem, VS = Verdauungssystem) (Schneider, 2012) 337 uj 7+8 | 2017 Körperbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen In der Studie wurden die Kinder und Jugendlichen auch gebeten, in eine leere, geschlechtsneutrale Schemafigur alles einzuzeichnen und zu benennen, „… was in ihnen drin ist! “, eine gängige Methode, um Kenntnisse über die Körperkonzepte der Kinder und Jugendlichen, d. h. über deren gedankliche Vorstellungen vom inneren Aufbau des Körpers und dessen Funktionsweise zu bekommen. Generell lässt sich eine signifikante Zunahme der Organkenntnis im Altersverlauf beobachten (Abb. 5), welche allerdings nicht kontinuierlich verläuft. Es gibt zum einen Organsysteme, wie das Herz- Kreislaufsystem, deren Organe den Kindern früh bekannt sind und die über alle Altersstufen hinweg in den Körperkonzepten verankert sind. Des Weiteren finden sich Organsysteme, wie das Exkretionssystem oder die Muskulatur, die den Kindern erst im frühen Grundschulalter bewusst werden und die im weiteren Altersverlauf zwar kontinuierlich in die Körperkonzepte eingebaut werden, aber nicht so vollumfänglich wie das Herz-Kreislauf-, Verdauungs- oder Atmungssystem. Schließlich sind auch noch die Organsysteme zu erwähnen, die im Altersverlauf weniger häufig genannt werden (Skelett), also weniger stabil in die Körperkonzepte integriert werden. Hervorzuheben ist, dass sich bei den Körperkonzepten keinerlei signifikante geschlechtsabhängige Unterschiede zeigten, mit Ausnahme bei der Muskulatur und beim Genitalsystem. Die soziale Umwelt als wesentlicher Einflussfaktor Die Vorstellungen vom Inneren des Körpers basieren auf den sensorischen Wahrnehmungen einzelner Organe in der frühen Kindheit. Diese werden im Altersverlauf erweitert und modifiziert durch den zunehmenden Informationsfluss aus der sozialen (Familie, Freundeskreis, Schule) und medialen (Internet, Fernsehen, Jugendzeitschriften) Umwelt. Auffallend ist dabei, dass der Einfluss der geschlechtsspezifischen Normierungen bei den Vorstellungen zum Körperinneren deutlich geringer ist als bei der Beurteilung der äußeren Erscheinungsform. Einzig bei den Geschlechtsorganen und der Muskulatur zeigen sich Unterschiede in den Körperkonzepten von Mädchen und Jungen. Dieser Befund belegt recht eindeutig den Einfluss gesellschaftlicher Rollenstereotype auf die Körperwahrnehmung. Muskeln symbolisieren Männlichkeit und werden von Jungen vor allem in der puberalen Phase, in welcher die Identifikation mit dem eigenen Geschlecht eine gewichtige Rolle spielt, signifikant häufiger gezeichnet und benannt als von Mädchen (Abb. 6). Auch in der Wahrnehmung und dem Umgang mit dem eigenen Geschlecht lassen sich Unterschiede erkennen. Während Mädchen bis zur Pubertät ihre Geschlechtsorgane selten in die Umrissfigur einzeichnen, werden diese von Jungen signifikant häufiger gemalt und benannt. Erst ab der Pubertät, mit Beginn des Menstruationszyklus, rücken die Geschlechtsorgane auch bei Mädchen ins Bewusstsein und werden dann nachhaltig in das Körperkonzept übernommen, während Jungen ab der postpuberalen Phase die Geschlechtsorgane seltener nennen bzw. die Region der Geschlechtsorgane „zensieren“, indem beispielsweise die Umrissfigur mit einem Höschen bekleidet oder ein schwarzer Balken über den Genitalbereich gelegt wurde. Die geschlechtsabhängigen Unterschiede in der Entwicklung und Ausprägungen des Körperbewusstseins manifestieren sich auffallend deutlich ab der Pubertät. Die Pubertät gilt als besonders sensible Entwicklungsphase, in welcher der Körper eine Vielzahl von biologischen, kognitiven und sozialen Veränderungen erfährt. Im Umgang mit dem Körper orientieren sich Mädchen und Jungen an gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen, zum Beispiel aktuellen Schönheits- oder Schlankheitsidea- 338 uj 7+8 | 2017 Körperbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen len, wie sie in den Medien zuhauf präsentiert werden (Hähne/ Dümmler 2008). Diese Veränderungen müssen in das bis dahin entwickelte Körperbewusstsein integriert werden durch eine konkrete Auseinandersetzung mit dem sich verändernden Körper. Die Bewältigung körperbezogener Entwicklungsaufgaben ist mit Beginn der Pubertät eng mit dem sozial geprägten Geschlechtsbild und diesbezüglichen Rückmeldungen aus der Umwelt verknüpft. Dem Körper kommt beim „doing gender“ eine Schlüsselrolle zu, da er als Darstellungsmittel fungiert, um Geschlechtlichkeit oder geschlechtsadäquates Verhalten auszudrücken. Die soziale Anerkennung bei Mädchen scheint dabei stärker an die Erfüllung ästhetischer Normen (Attraktivitätsnormen, Körperformnormen etc.) gekoppelt zu sein. Sie betrachten ihren Körper kritischer und sind weniger zufrieden mit ihrer Figur als Jungen, was in einem deutlich negativeren Körpergefühl mündet. Dies macht sich auch beim subjektiven Gesundheitsempfinden bemerkbar, welches bei Mädchen weniger positiv ausfällt als bei Jungen. Zwar beurteilen beide Geschlechter ihren Gesundheitszustand bis zum Beginn der Pubertät durchaus positiv, aber die Abnahme der Zufriedenheit ab der Pubertät fällt bei den weiblichen Jugendlichen deutlich höher aus. Als Gründe für die Unzufriedenheit mit dem Gesundheitszustand wurden in etwa zu gleichen Teilen die Antworten „weil ich oft krank bin“, „weil ich an einer Krankheit leide“ und „weil ich oft müde bin“ genannt. Da die deutschen Kinder und Jugendlichen auch im internationalen Vergleich verschiedener Gesundheitsparameter einen Spitzenplatz einnehmen im Bereich „häufige Müdigkeit“ (Currie et al. 2000), sollte die heutige Lebenswelt unserer Kinder und Jugendlichen auch unter dem Gesichtspunkt „Zeitmanagement“ kritisch betrachtet werden, da die Kinder und Jugendlichen doch sehr „unter Druck“ stehen mit opti- Abb. 6: Körperkonzept eines 11-jährigen Jungen (links) und Mädchens (rechts) (Schneider 2012) 339 uj 7+8 | 2017 Körperbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen maler Schulausbildung und einer Vielzahl von zusätzlichen Terminen, welche wenig Raum für Entspannung und Muße lassen. Ein wichtiges Merkmal für die subjektive Beurteilung des Gesundheitszustandes sind gesundheitliche Beschwerden ohne erkennbare Ursache, die den psychosomatischen Beschwerden zugeordnet werden können. In der Studie zum Körperbewusstsein gab die Hälfte aller Befragten an, immer wieder unter Kopfschmerzen zu leiden (Mädchen häufiger im Grundschulalter, Jungen häufiger ab der Pubertät) und ein Drittel unter Bauchschmerzen. Mädchen laborierten in allen Altersklassen häufiger unter Bauchschmerzen als die Jungen und der Unterschied stellte sich besonders in der postpuberalen Phase gravierend dar, was vermutlich auf Menstruationsbeschwerden und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten zurückzuführen ist. Welche Folgen hat die zunehmende Unzufriedenheit mit dem Körper? Im Entwicklungsverlauf werden Kinder und Jugendliche mit einer Vielzahl von Entwicklungsaufgaben konfrontiert, die bewältigt werden müssen auf dem Weg ins Erwachsenenalter. Ergebnisse der Resilienzforschung lassen den Schluss zu, dass ein positives Körperbewusstsein als Schutzfaktor wirken und die Resilienz von Kindern stärken kann. So gelten unter anderem eine positive Wahrnehmung der eigenen Person und eine realistische Selbsteinschätzung als personale Schutzfaktoren, was durch verschiedene Studien belegt werden konnte (Carlton et al. 2006). Dies deckt sich mit den eingangs getroffenen Annahmen, dass ein positives, aber realistisches Bild vom eigenen Körper zu einem verantwortungsbewussten und pfleglichen Umgang mit diesem anregt. Ein positives Körperbewusstsein kann Kindern und Jugendlichen demnach dabei helfen, auf belastende Lebenssituationen angemessen zu reagieren. Resilienz ist jedoch keine angeborene Persönlichkeitseigenschaft und auch kein zeitlich stabiles Konstrukt, sondern eine variable Größe, die sich prozesshaft im zeitlichen Verlauf und im Kontext der Mensch-Umwelt-Interaktion über Situationen hinweg entwickelt (Bengel et al. 2009). Die empirischen Befunde haben gezeigt, wie störanfällig die Entwicklung des Körperbewusstseins ist und welchen nachhaltigen Einfluss die heutigen gesellschaftlichen Anforderungen haben können. Anspruch (gertenschlanke, hübsche Mädchen; durchtrainierte, erfolgreiche Jungen) und Wirklichkeit klaffen hier auseinander und fördern ein negatives Bild vom eigenen Körper, welches sich wiederum negativ bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, wie beispielsweise der Pubertät, auswirkt. Dies mündet in einer Negativspirale, welche zu verzerrten und realitätsfernen Wahrnehmungen und subjektiven Beurteilungen des Körpers führt und sich z. B. in der Zunahme von Ernährungsstörungen wie Magersucht und Adipositas (Schaffrath Rosario/ Kurth 2006), Risikoverhaltensweisen (Gondoli 1999), psychosomatischen Erkrankungen (Horch 2009) und psychischen Auffälligkeiten (Hölling et al. 2007) erkennen lässt. Beispiel aus der Praxis: Ein zehnjähriges, normalgewichtiges Mädchen wollte im Rahmen einer Befragung zu den Körperkonzepten ihr Körperinneres auf keinen Fall zeichnen, da sie dieses eklig und schwabbelig fand und nicht daran denken wollte. Ein neunjähriger übergewichtiger Junge zeichnete sich große Muskelpakete an die Oberarme und interpretierte seine stämmige Figur als Ausdruck dafür, kräftig und fit zu sein. Empfehlungen für die Gesundheitsförderung Welche Möglichkeiten gibt es, die Entwicklung eines positiven Körperbewusstseins und damit auch die Gesundheitskompetenz bei Kindern und Jugendlichen zu fördern? 340 uj 7+8 | 2017 Körperbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen Die ressourcenorientierte Gesundheitsförderung betont die Herstellung und Beibehaltung eines umfassenden Wohlbefindens (Sygusch et al. 2008; Fröhlich-Gildhoff 2009). Ob sich ein Individuum wohl fühlt, hängt von den subjektiven Bewertungen der aktuellen Befindlichkeiten ab, also auch von der subjektiven Wahrnehmung des eigenen Körpers, dem Körpergefühl und der Wahrnehmung des subjektiven Gesundheitszustandes. Diese werden maßgeblich beeinflusst von der momentanen Situation, in der sich das Individuum befindet, und von den physischen, psychischen, sozialen und gesellschaftlichen Anforderungen und Aufgaben, die aktuell an das Individuum gestellt werden. Und hier gilt es anzusetzen. Einmalige Förderangebote, Präventionsprojekte und kognitive Wissensvermittlung zeigen hier wenig Erfolg und es wird auch kaum möglich sein, die gesellschaftlich vorgegebenen Normen (körperliche Leistungsfähigkeit, Schönheitsideale oder schulische und berufliche Leistungsvorgaben) zu verändern. Es wäre wünschenswert, Kindern von klein auf die Möglichkeit zu geben, ihren Körper mit allen Sinnen und in unterschiedlichen Situationen wahrzunehmen (Schneider 2015) und ihr persönliches Leistungsspektrum in vielfältiger Weise zu erfahren. Dazu gehört z. B., sich im Sport ohne Leistungsdruck ausprobieren, körperliche Grenzen ausloten und eigene Bewegungsmuster ausprobieren zu können. Körperbewegungen schulen die Körperwahrnehmung und begünstigen eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, was wiederum zu einem positiven Körperbewusstsein und einem positiven Selbstkonzept führt. Für die in der Kinder- und Jugendarbeit Tätigen bedeutet dies, langfristig Räume und Möglichkeiten zu schaffen, in welchen sich Kinder und auch Jugendliche ausprobieren und eigene Erfahrungen machen können, ohne Leistungsdruck und ohne Lernanspruch. Wichtig für die Fachkräfte ist in diesem Kontext auch eine Selbstreflexion über die eigene Einstellung zum Körper, den Umgang mit gesellschaftlichen Normen und den defizitbzw. ressourcenorientierten Blick auf die Klienten. Es sind oft ganz niederschwellige Maßnahmen, die zur Förderung eines positiven Körperverständnisses beitragen können, die aber freiwillig sein und den Kindern und Jugendlichen nicht „übergestülpt“ werden sollten: ➤ regelmäßige, freiwillige Bewegungsangebote, die motivieren und Spaß machen ➤ regelmäßige Wahrnehmungsspiele und -übungen ➤ Angebote zur Einschätzung der eigenen Fähigkeiten ➤ regelmäßige Angebote zur Entspannung und Stressreduktion ➤ gemeinsame kritische Reflexion der gesellschaftlichen und medialen Normen und Stereotype Zusammenfassend bedeutet dies, Kindern und Jugendlichen vorurteilsfrei zu begegnen und regelmäßige Bewegungs- und Wahrnehmungsangebote in die alltägliche Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen einzubauen, mit dem Ziel, Kinder und Jugendliche zu motivieren, sich mit ihrem Körper auseinanderzusetzen, ihn kennen und schätzen zu lernen und dadurch ein positives Körperbewusstsein aufzubauen. Prof. Dr. Annette Schneider SRH Hochschule Heidelberg Fakultät für Sozial- und Rechtswissenschaften Ludwig-Guttmann-Straße 6 69123 Heidelberg Tel. (0 62 21) 88-20 30 E-Mail: annette.schneider@srh.de 341 uj 7+8 | 2017 Körperbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen Literatur Ayres, A. J. (2002): Bausteine der kindlichen Entwicklung. Springer, Heidelberg, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-642-55999-0 Bengel, J., Meinders-Lücking, F., Rottmann, N. (2009): Schutzfaktoren bei Kindern und Jugendlichen - Stand der Forschung zu psychosozialen Schutzfaktoren für Gesundheit. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, 35. BZgA, Köln Bundesministerium für Gesundheit (2008): Strategie der Bundesregierung zur Förderung der Kindergesundheit. BMG, Berlin Carlton, B. S., Goebert, D. A., Miyamoto, R. H., Andrade, N. N., Hishinuma, E. S., Makini, G. K. (2006): Resilienz, family, adversity, and well-being among Hawaiian and non-Hawaiian adoescents. 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