eJournals unsere jugend 69/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2017
697+8

Selbstverletzendes Verhalten an der Schwelle von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie

71
2017
Gunter Groen
Astrid Jörns-Presentati
Anna Vetter
Harry Strößner
Selbstverletzendes Verhalten und andere selbstgefährdende Verhaltensweisen von Jugendlichen stellen für alle helfenden Professionen und beteiligten Fachkräfte eine besondere Herausforderung dar. Nicht selten strapazieren sie auch die Zusammenarbeit der Kinder- und Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Verbindliche Kooperationsstrukturen, gemeinsam abgestimmte Hilfen und insbesondere Notfallkonzepte sowie ein verstehender Zugang und verlässliche Beziehungsangebote können die Versorgung der jungen Menschen verbessern.
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317 unsere jugend, 69. Jg., S. 317 - 324 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art48d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Gunter Groen Jg. 1970; Professor für Psychologie mit den Schwerpunkten Klinische Psychologie und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg; Psychologischer Psychotherapeut und Supervisor Selbstverletzendes Verhalten an der Schwelle von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie Ein Fallbeispiel aus dem Projekt „Grenzgänger“ Selbstverletzendes Verhalten und andere selbstgefährdende Verhaltensweisen von Jugendlichen stellen für alle helfenden Professionen und beteiligten Fachkräfte eine besondere Herausforderung dar. Nicht selten strapazieren sie auch die Zusammenarbeit der Kinder- und Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Verbindliche Kooperationsstrukturen, gemeinsam abgestimmte Hilfen und insbesondere Notfallkonzepte sowie ein verstehender Zugang und verlässliche Beziehungsangebote können die Versorgung der jungen Menschen verbessern. Das Praxis- und Forschungsprojekt „Grenzgänger - Abgestimmter Umgang mit Kindern und Jugendlichen bei Vorliegen einer psychischen Störung sowie eines Unterstützungsbedarfs gemäß SGB VIII“ wird seit März 2015 durchgeführt und vom Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein gefördert. Ausgangspunkt des Pro- Anna Vetter Jg. 1977; Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Regio Klinikum Elmshorn Astrid Jörns-Presentati Jg. 1979; Dozentin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg Harry Strößner Jg. 1952; Moderator der Clearinggruppe im Grenzgängerprojekt; ehemaliger Leiter des Amtes für Jugend, Familie und Sport, Kreis Steinburg 318 uj 7+8 | 2017 Selbstverletzendes Verhalten an der Schwelle von Jugendhilfe und -psychiatrie jektes ist das gemeinsame Ziel der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Elmshorn und der Jugendämter der Kreise Pinneberg und Steinburg, ihre Zusammenarbeit zu optimieren, um so vor allem besonders gefährdete und herausfordernde Kinder und Jugendliche effektiver zu versorgen. Der gemeinsamen Kooperation soll ein tragfähiger und verbindlicher Rahmen gegeben werden, um das gegenseitige fachliche Verständnis zu erhöhen und Hilfen in einem Austauschprozess gemeinsam abzustimmen. Kern des Projektes sind regelmäßige moderierte Treffen einer Clearinggruppe, die sich aus den Leitungskräften der Klinik, der Jugendämter und zwei Jugendhilfeträgern sowie den für den jeweiligen Einzelfall verantwortlichen Fachkräften zusammensetzt. Als besonders herausfordernd wahrgenommene Kinder- und Jugendliche („Grenzgänger“) bzw. Fallverläufe werden besprochen und reflektiert. Nach Möglichkeit werden gemeinsam unmittelbare Maßnahmesettings entwickelt und für den Hilfeplanungsprozess aufbereitet. Neben der Arbeit am konkreten Fall werden immer wieder grundsätzliche Inhalte thematisiert, die die gemeinsame Versorgung belasteter junger Menschen betreffen. Hierzu zählen der Erfahrungs- und Wissensaustausch z. B. zum Verständnis psychischer Erkrankungen, zu den Handlungsoptionen in der Jugendhilfe, zu Praxiskonzepten und formalen Rahmenbedingungen der Hilfesysteme sowie Informationen über regionale und überregionale Angebote der freien Jugendhilfeträger. Zusammenarbeit im Umgang mit selbstverletzendem Verhalten in den stationären Hilfen Vor allem bei Kindern und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe besteht oft ein komplexer interdisziplinärer Hilfebedarf (vgl. BMFSFJ 2009). Die Prävalenz psychischer Störungen unter jungen Menschen in der Heimerziehung ist beträchtlich und kann auf ca. 60 bis 75 % geschätzt werden (Dölitzsch et al. 2014; Schmid et al. 2008). In diesem Zusammenhang finden sich bei den jungen Menschen gehäuft biografische Belastungen und Benachteiligungen und ein hohes Ausmaß an Traumatisierung, Beziehungsabbrüchen und anderen einschneidenden Lebensereignissen. Gemäß einer aktuellen Studienübersicht (Vasileva/ Fegert/ Petermann 2015) erleben 73,0 bis 91,6 % aller Kinder und Jugendlichen vor ihrer Fremdunterbringung mindestens ein schwerwiegendes Trauma, 40,0 bis 63,5 % sind sogar zwei oder mehr Traumata ausgesetzt. Als Folge haben die betroffenen Kinder und Jugendlichen oft komplexe Störungen und Symptome ausgebildet, die sich in vielen Fällen als komorbide Störungen bzw. transdiagnostische Psychopathologie präsentieren (Dölitzsch et al. 2014; Ritschel/ Miller/ Taylor 2013; Tarren-Sweeny 2013). Oft zeigen sich nach Deprivation, Trauma und Belastung besondere Schwierigkeiten in der Regulation von Emotionen und in der Gestaltung zwischenmenschlicher Kontakte. Als ein hieraus oft resultierendes, besonders schwieriges Verhaltensmuster kann selbstverletzendes Verhalten verstanden werden. Häufige Funktionalitäten von selbstverletzendem Verhalten bestehen darin, besondere emotionale Anspannung abzubauen (Affektregulation), sich selber zu spüren und sich als real zu empfinden (Anti-Dissoziation), sich zu bestrafen oder auch das eigene Leid und die eigene Hilfebedürftigkeit zu unterstreichen bzw. Hilfe zu erhalten (interpersonelle Funktionalität) (vgl. z. B. Plener 2014). Die fachliche Bewertung und psychopathologische Einschätzung sollte dabei nie vorschnell und generalisierend erfolgen. Hintergründe und Schweregrade selbstverletzender Verhaltensweisen sind sehr heterogen und individuell. Sie können sowohl Ausdruck einer entwicklungsgemäßen emotionalen Krise als auch Anzeichen einer schwerer wiegenden psychischen Erkrankung sein. 319 uj 7+8 | 2017 Selbstverletzendes Verhalten an der Schwelle von Jugendhilfe und -psychiatrie Im Rahmen von Krisen in der stationären Jugendhilfe oder drohenden Abbrüchen von Jugendhilfemaßnahmen sowie auch im Hinblick auf die Kooperation von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie spielen selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität eine große Rolle. Eine gelingende Zusammenarbeit zwischen den Fachkräften von Jugendamt, Jugendhilfeeinrichtungen und des psychiatrisch-psychotherapeutischen Gesundheitssystems ist in der Versorgung dieser vulnerablen Gruppe besonders wichtig, lässt sich jedoch in der Praxis nicht immer reibungslos und idealtypisch umsetzen. Die interprofessionelle Kooperation der beiden Systeme wird von einer Reihe von Faktoren beeinflusst. Neben formalen Rahmenbedingungen (rechtliche Verortung und Finanzierung) spielen auch das professionelle Selbstverständnis sowie das Verständnis von „Normalität“ und die daraus resultierende Diagnostik bzw. das Fallverstehen der jeweiligen Fachrichtung eine wichtige Rolle. Folglich ist der Umgang mit selbstverletzendem Verhalten bzw. mit suizidalen Krisen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zumeist anders, als er im Kontext einer Jugendhilfeeinrichtung sein wird. Fachkräfte in der Psychiatrie sind regel- und routinemäßig mit selbstverletzendem und suizidalem Verhalten konfrontiert. Kinder und Jugendliche in einer solchen Krise zu erleben gehört sozusagen zum Normalfall bzw. zur „Alltagssituation“ (Ader/ Klein 2011, 25). Für Mitarbeitende einer Jugendwohngruppe stellt der Umgang mit Selbstverletzung bzw. suizidalen Krisen eher eine Ausnahme dar, auf die wiederholt oft spontan bzw. improvisierend reagiert werden muss, was deutliche Auswirkungen auf alltägliche Abläufe hat und die anderen Bewohner/ innen erheblich irritieren kann. Fallvignette zur Illustration Die folgende anonymisierte Fallvignette aus dem Projekt „Grenzgänger“ eröffnet exemplarisch einige der Herausforderungen und Chancen in der Zusammenarbeit von Fachkräften der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) und Kinder- und Jugendhilfe auch im Umgang mit schwerer Selbstverletzung bzw. Suizidalität. Der erste Zugang von Yasmin ins Hilfesystem findet über die KJP statt. Dadurch hatte diese lange Zeit eine steuernde Funktion. Der wesentliche Kern der gemeinsamen Clearingstelle des Grenzgängerprojektes ist die abgestimmte Suche von zuständigem Jugendamt und KJP nach passenden Maßnahmen für eine gelingende dauerhafte Versorgung der Kinder und Jugendlichen im Anschluss an eine Behandlung in der KJP. Hierfür ist Voraussetzung, ein gemeinsames aus beider Sicht umfassendes Fallverstehen zu erarbeiten. Darauf aufbauend wird angestrebt, ein Setting zu beschreiben, das den Bedarfen des Kindes bzw. Jugendlichen entspricht und den aufnehmenden Einrichtungen sowie den Fachkräften ausreichend Hilfestellung gibt, um die notwendige Versorgung und Förderung unter den ihnen gegebenen Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Der planhafte und abgestimmte Umgang mit zu erwartenden Krisensituationen ist dabei zu verabreden. Yasmin, 17 Jahre Als der Fall in der Clearingstelle vorgestellt wird, ist die siebzehnjährige Yasmin zuletzt seit rund fünf Monaten geschlossen in der Klinik untergebracht. Die Vermittlung in eine passende Jugendhilfeeinrichtung hat sich bisher als äußerst schwierig gestaltet. Das wirkt sich wenig motivierend auf Yasmin aus. Die KJP erscheint zeitweise als einziger Lebensort für sie. Yasmin stellt sich erstmalig vor gut zwei Jahren mit ihrer Mutter in der Institutsambulanz der Klinik vor. Bereits zu diesem Zeitpunkt hat sie aufgrund latenter Suizidalität und massiven Selbstverletzungen (u. a. Ritzen und Glasscherben schlucken), parasuizidalen Handlungen sowie depressiven Einbrüchen einen Aufenthalt in einer anderen KJP hinter sich. Yasmin gibt an, unter 320 uj 7+8 | 2017 Selbstverletzendes Verhalten an der Schwelle von Jugendhilfe und -psychiatrie Stimmungsschwankungen zu leiden, wobei sie von Traurigkeit, gedrückter Grundstimmung bis hin zu dissoziativen Zuständen berichtet. Die Jugendliche leide an Schlafproblemen und verweigere zeitweise die Nahrungsaufnahme. Yasmin berichtet, in der Kindheit Opfer von sexuellem Missbrauch und gewalttätigen Übergriffen gewesen zu sein. Die Täter stammten alle aus dem näheren Familienbzw. Freundeskreis. Seit der neunten Klasse besuche sie nicht mehr die Schule. Yasmins Mutter lebe zurzeit bei einer Freundin, gehe mehreren geringfügigen Beschäftigungen nach und leide an einer Borderline-Störung. Vorgeschichte/ Anamnese: Die Mutter überwindet durch die Schwangerschaft mit Yasmin ihre Drogensucht und lebt während der Schwangerschaft drogenfrei. Yasmin wird unehelich geboren, wobei die Mutter sich kurz nach der Geburt vom weiterhin drogenabhängigen Kindsvater aufgrund von Gewalttätigkeit trennt. Als die Patientin zwei Jahre ist, zieht die Mutter mit dem Vater der heute achtjährigen Halbschwester zusammen. Mit acht Jahren erlebt Yasmin einen ersten sexuellen Übergriff durch einen Freund der Familie. Der Täter wird angezeigt und es kommt zur gerichtlichen Verurteilung, wobei die Mutter den Eindruck hat, dass die Gerichtsverhandlung retraumatisierend gewirkt habe. Als die Lebenspartnerschaft der Mutter wenige Jahre später zerbricht, folgen zwei klinische Kriseninterventionen aufgrund von suizidalen Tendenzen. Die emotionale Instabilität der Mutter führt dazu, dass Yasmin ebenfalls in eine emotionale Krise gerät. Im Rahmen des ersten stationären Aufenthaltes wird der zweite, kurz zuvor stattgefundene sexuelle Missbrauch aufgedeckt, der durch einen knapp erwachsenen Cousin verübt worden sei, mit dem Yasmin aufgewachsen ist. Behandlungs- und Hilfeverlauf: Nach der Erstvorstellung in der Institutsambulanz vor gut zwei Jahren wird bei Yasmin eine schwere depressive Episode, eine Posttraumatische Belastungsstörung und eine Emotional-Instabile Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Kurz nach Beginn der Therapie, die zunächst von Yasmin freiwillig aufgenommen wird, verfällt die Patientin in ein stark autodestruktives Verhalten. In einem Zeitraum von wenigen Monaten ereignen sich wiederholt selbstgefährdende Handlungen, die auch zu geschlossenen Aufenthalten führen. Yasmin läuft wiederholt weg, wird von der Polizei aufgegriffen und muss stationär überwacht werden, da es zu wiederholten schweren Selbstverletzungen sowie Suizidversuchen kommt (z. B. Rasierklingen schlucken, auf der Autobahnbrücke stehen), die immer wieder Kriseninterventionen vonseiten der Klinik nötig machen. Das zunehmend eskalierende Verhalten führt zu einem regelmäßigen Kontakt mit der Polizei, auch im Rahmen von Großeinsätzen und tätlichen Auseinandersetzungen. Erst im Laufe der weiteren Behandlung wird die außerordentliche Rolle der Mutter von Yasmin deutlich. Sehr spät berichtet die Mutter von eigenen starken emotionalen Krisen und Stimmungsschwankungen. Auch sie stamme aus einem schwer belasteten Familiensystem und habe Traumatisierungen erlebt. Es wird offensichtlich, unter welch chronischer Suizidalität die Mutter leidet. In dieser Zeit entwickelt die Mutter die Überzeugung, dass es für Yasmin unmöglich sein werde, ein gutes Leben zu führen, und ein Suizid der Tochter für beide, Mutter und Kind, eigentlich die einzige Erlösung darstelle. Als die Mutter diese Überzeugung während eines Klinikaufenthaltes äußert, wird ihr das Sorgerecht entzogen, Umgang besteht weiterhin, eine Rückkehr in den häuslichen Rahmen scheint aber nicht mehr vertretbar. Yasmin mangelt es deshalb an einer Perspektive, und es besteht die dringende Indikation, sie für die Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung zu gewinnen. Gleichzeitig stellen die latente Suizidalität und ihr autodestruktives Verhalten ein großes Hindernis dar, die Patientin in eine Wohngruppe zu vermitteln. Teilweise wird gefordert, dass seitens der Klinik ein Attest ausgestellt werden müsse, dass die Patientin sich fortan nichts mehr antun werde. So entsteht ein fast unauflösbarer Teufelskreis aus einer sich selbst aufrechterhaltenden Suizidalität bei fehlender Perspektive. 321 uj 7+8 | 2017 Selbstverletzendes Verhalten an der Schwelle von Jugendhilfe und -psychiatrie Darüber hinaus führen die langen Klinikaufenthalte zu einer besonderen Nähe zu den KlinikmitarbeiterInnen, welche dann eine Ablösung von der Klinik und die Überleitung in eine dauerhafte Platzierung zusätzlich erschweren. Bei enger Zusammenarbeit mit einer Wohngruppe nahe der KJP kann Yasmin jedoch für einige Monate in diese Jugendhilfeeinrichtung vermittelt werden und somit den Raum für eine erste Perspektiventwicklung und Lösung von Suizidalität erhalten. Yasmin braucht zunächst eine klare Begrenzung, um nicht ständig in die Klinik zurückzudrängen und erhält teilweise sogar „Klinikverbot“, wobei die Mitarbeitenden der Wohngruppe jederzeit die Möglichkeit erhalten, auf die Sicherheit der Klinik zurückgreifen zu können. Es gibt einen sehr niedrigschwelligen Austausch zwischen Klinik und Wohngruppe mit DBT-angelehnten Konzepten, um Yasmin in der Übernahme von Eigenverantwortung und einer guten Selbsteinschätzung zu bestärken. Trotzdem führt dies zeitweise zu täglichen Übernachtungen in der KJPP und zu kurzfristigen Besuchen bei dem behandelnden Therapeuten, immer mit enger Begleitung durch Bezugsbetreuer/ innen der Wohngruppe. Das Vorgehen entfaltet seine Wirkung und Yasmin zeigt immer häufiger gelöstes und lebensbejahendes Verhalten, sucht engen Austausch mit den BetreuerInnen der Wohngruppe und agiert weniger destruktiv. Der Umgang mit Tieren (Hund und Pferd) begünstigen Yasmins Annahmebereitschaft für die Hilfe. Über die Dauer kann jedoch keine tragfähige Entwicklung erreicht werden und mit zunehmender Kontaktintensivierung zwischen Mutter und Tochter verschlechtert sich Yasmins Zustandsbild erneut so dramatisch, dass wieder Krisenaufenthalte, insgesamt neun Mal, innerhalb kurzer Zeit mit Unterbringungsbeschluss nötig werden. Das Verhalten der Jugendlichen wird sukzessive schwerer begrenzbar, sodass sie auch in der Klinik unter dauernder Beobachtung steht. Die Mitarbeitenden der Wohngruppe können die immer extremeren Formen der Selbstgefährdung, die häufig durch eine Rettung im letzten Moment vereitelt werden, nicht mehr tragen. Die heftigen Gefährdungsimpulse beeinträchtigen das Leben der anderen Jugendlichen in der Wohngruppe stark und tragen zu einer ständigen Atmosphäre von Angst und Sorge bei. Mehrfach verschluckt Yasmin Rasierklingen, einmalig entreißt sie einer Jugendhilfemitarbeiterin eine komplette Packung Tabletten, springt aus dem Fenster und schluckt die Tabletten an einem versteckten Ort, wird bewusstlos aufgefunden, weshalb sie mehrere Tage intensivpflichtig versorgt werden muss. Ein anderes Mal verhindert ein Polizist, der sie in der Wohnung eines Freundes aufgreift, dass sie aus dem Fenster in den Tod springt. Yasmin wird darauf wieder vollstationär mit Unterbringungsbeschluss nach § 1631 b BGB aufgenommen. In den nächsten Monaten in der Klinik wird sie im Rahmen eines Stufenplans sehr engmaschig betreut und kann sich Freiheiten erarbeiten, wie beispielsweise die Klinik zeitweise zu verlassen, an Gruppengesprächen teilzunehmen und die Mutter außerhalb der Klinik zu treffen. Gleichzeitig bietet die Klinik einen Schutzraum an, den die Patientin intensiv nutzt. Medikamentös wird sie auf ein Depotpräparat eingestellt, was ihr 14-tägig als Injektion verabreicht werden kann, um das destruktive Agieren mit Tabletten wirksam zu unterbinden. In der therapeutischen Arbeit steht zu diesem Zeitpunkt im Vordergrund, in Zusammenarbeit mit der Mutter, die Patientin darin zu bestärken, sich von der Mutter zu lösen und sich dieser nicht mehr in ihrer Suizidalität verpflichtet zu fühlen. Yasmin beschreibt selbst, dass sie in der Vergangenheit nach selbstverletzendem Verhalten im Kontakt mit der Mutter Tröstung erfahren hat. Die sich wiederholende Erfahrung, Episoden von schwerster Selbstschädigung zu überleben, hätten ihr ein Gefühl der Unverwundbarkeit gegeben. Es kann mit Yasmin und ihrer Mutter im therapeutischen Verlauf eine Kontaktpause vereinbart werden, durch die Yasmin sich deutlich stabilisiert und löst und schließlich sogar den eigenen Wunsch äußert, wohnortfern untergebracht zu werden. Aufgrund ihrer hohen inneren Not wünscht sich Yasmin eine geschlossene Jugendhilfemaßnahme, die aber aufgrund ihres 322 uj 7+8 | 2017 Selbstverletzendes Verhalten an der Schwelle von Jugendhilfe und -psychiatrie Alters und der fehlenden Verfügbarkeit im Land nicht umgesetzt werden kann. Mehrere angefragte Einrichtungen deutschlandweit lehnen die Aufnahme von Yasmin ab. Als ein Ergebnis des gemeinsamen Clearings im Grenzgängerprojekt wird Yasmin schließlich in einer Jugendhilfeeinrichtung im Ausland untergebracht. Hier erhält sie einen Einzelplatz auf einem Reithof, auf dem sie durch zwei Sozialpädagoginnen betreut wird und daher das Risiko, andere Jugendliche mit ihrer Not zu belasten, in diesem Sinne nicht besteht. Hier lebt sie seit eineinhalb Jahren bis heute, konnte weiteren Abstand zur Mutter gewinnen und sich stabilisieren. Sie hat den Schulbesuch erfolgreich wieder aufgenommen und versucht, aktuell weitere Perspektiven für ihre Zukunft zu entwickeln. Herausforderungen für die Zusammenarbeit Dieser in seiner Intensität und Chronizität sicher schwerwiegende Fall verdeutlicht neben dem erheblichen Leid der betroffenen Jugendlichen und ihren immensen Anstrengungen damit umzugehen auch die besonderen Herausforderungen an die Fachkräfte und Hilfesysteme. Eine weitergehende Analyse der komplexen Symptomatik der Patientin, ihrer diagnostischen Einordnung und ätiologischen Bewertung sprengt den Rahmen dieses Beitrages. Vielmehr sollen exemplarisch die weitreichenden Auswirkungen sowie die Bedeutung und „Macht“ selbstverletzenden Verhaltens und selbstzerstörerischer Tendenzen im Hilfesystem an einem Einzelfall veranschaulicht werden. Diese Reflektion konnte in großen Teilen auch im Rahmen des Clearingprozesses im Grenzgängerprojekt erarbeitet werden. Im Hinblick auf die destruktiven Verhaltensmuster der Patientin wird deutlich, wie subjektiv sinnhaft und nachvollziehbar diese als Versuch zur Anpassung und Bewältigung widrigster Lebensumstände interpretiert werden können: Der Patientin „gelingt“ es, die Delegation bzw. generationsübergreifende Weitergabe von Selbstdestruktion durch die Mutter, als letzte verbliebene familiäre Bezugsperson, zu erfüllen und sich ihre Zuwendung zu sichern. Gleichzeitig schützt sie sich aber auch vor der pathologischen mütterlichen Vereinnahmung und versucht sich von ihr zu distanzieren. Die Patientin verschafft sich Unterstützung, Kontakt und Zuwendung anderer Bezugspersonen aus dem Helfersystem und alternative Obhut. Gleichzeitig sorgt sie aber auch hier durch hochproblematisches Verhalten eigeninitiativ für Brüche und Zerrüttung, um Ablehnung und Abweisung der anderen zuvorzukommen und Kontrolle zu erlangen. Sie findet ebenso in ihrem „Anderssein“ eine vermeintliche Identität, reguliert ihre starke traumabedingte emotionale Anspannung und verarbeitet wahrgenommene Schuld. Insbesondere die transgenerationale Weitergabe der Suizidalität durch die Mutter spielt in diesem Fall eine zentrale Rolle. Durch die späte Öffnung der Mutter wurde deutlich, welch zentrale Heilsfigur Yasmin für ihre Mutter und deren psychische Stabilisierung darstellte. Es war ein starker symbiotischer Sog, der von der Mutter ausging und immer wieder die Suizidalität der Tochter mit bedingte. Als den beteiligten Fachkräften klarer wurde, welche Rolle die Mutter spielte, wurde die Loslösung von der Mutter der wesentliche Prozess, der durch die KJP und die Jugendhilfe begleitet werden musste. Die destruktive Symbiose zwischen Mutter und Tochter konnte durch den Auslandsaufenthalt neben dem inneren Lösungsprozess auch in der äußeren Rahmung eine wesentliche Trennung erfahren. Auch wenn Auslandsaufenthalte sicher keine prinzipielle Lösung bei Suizidalität und symbiotischen Eltern-Kind-Beziehungen sein sollten, war die Maßnahme in diesem Fall aus Sicht der Fachkräfte als Ultima Ratio notwendig und zweckmäßig. Gerade PatientenInnen, die so strukturschwach sind bzw. so wenig angemessene Bewältigungsressourcen haben, dass sie ständig mit Suizida- 323 uj 7+8 | 2017 Selbstverletzendes Verhalten an der Schwelle von Jugendhilfe und -psychiatrie lität agieren müssen, gelingt eine Entwicklung in der Regel nur über konkrete und greifbare Perspektivangebote, die erfahrbar gemacht werden müssen. Die Übernahme von Eigenverantwortung ist Teil des Prozesses, der sowohl therapeutisch als auch von der Jugendhilfe durch Beziehungs- und Alltagsgestaltung geleistet werden muss. Bietet sich hier kein Entwicklungsraum, kann die Symptomatik nicht aufgegeben werden, sondern bleibt als destruktiver Bewältigungsversuch bestehen. Es ist verständlich und nachvollziehbar, dass Fallverläufe wie dieser die beteiligten Fachkräfte und die unterschiedlichen Hilfesysteme an ihre Grenzen bringen. Jugendliche, die sich selbst verletzen bzw. suizidale Krisen erleben, stellen eine besondere Herausforderung für Jugendhilfeeinrichtungen dar. Sie können sowohl bei MitarbeiterInnen als auch BewohnerInnen Überforderung und Abwehr hervorrufen und im Alltag als extrem belastend empfunden werden. Häufig besteht die Sorge bei den Fachkräften einer Einrichtung, durch die Anwesenheit eines sich selbst verletzenden Kindes oder Jugendlichen die gesamte Wohngruppe potenziell traumatischen Situationen auszusetzen. Insbesondere latente Suizidalität stellt ein Risiko dar, das nur wenig Jugendhilfeträger eingehen möchten, die Vermittlung in eine geeignete Jugendhilfemaßnahme kann sich für das zuständige Jugendamt daher als äußerst schwierig gestalten. Fazit Sicher gibt es keine verallgemeinerbaren Patentlösungen für entsprechend schwer belastete und hoch auffällige Jugendliche im Hilfesystem. Im Einzelfall müssen spezifische Strategien und Ansätze gefunden und entwickelt und oft erst auf ihre „Tauglichkeit“ erprobt werden. Dennoch gibt es sicher bestimmte Prinzipien, die im Sinne einer tragfähigeren Unterstützung „schwieriger“ Jugendlicher in krisenhaften Verläufen beachtenswert sind und die sich auch in unserer Erfahrung im Projekt Grenzgänger bestätigt haben (vgl. auch Gahleitner/ Homfeldt/ Fegert 2012; Groen/ Jörns-Presentati 2014). Die angemessene Begleitung psychisch hoch belasteter Jugendlicher erfordert eine enge und verlässliche Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese Kooperation sollte auch eine gegenseitige Akzeptanz der jeweiligen Grenzen im Hilfesystem umfassen, aber auch im Einzelfall den Mut und die Bereitschaft, Grenzen zu dehnen und zu belasten. Jugendhilfeeinrichtungen, die bereit sind, mit stärker belasteten Jugendlichen zu arbeiten, profitieren von Handlungskonzepten, die auch krisenhafte Zuspitzungen und Strategien für selbstgefährdende Verhaltensweisen selbstverständlich und fest mit einplanen und, bestenfalls in Abstimmung mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie, auf Krisen vorbereitet sind. Es sollte dabei für die Aufnahme in einer Jugendhilfeeinrichtung keine Grundvoraussetzung sein, dass Jugendliche völlig frei von Suizidalität oder selbstverletzendem Verhalten sind, da sie ansonsten ein zu großes Risiko darstellen. Nur wenn die Jugendlichen angemessene Perspektiven haben, können sie oft erst den Schritt aus der Suizidalität wagen. Ebenso kann das Potenzial spezifischer intensivpädagogischer oder therapeutischer Ansätze, wie etwa DBT (Dialektisch-Behaviorale Therapie nach M. Linehan), in der alltäglichen Arbeit der Jugendhilfe weiter entwickelt werden (vgl. z. B. James/ Alemi/ Zepeda 2013; Ritschel et al. 2013; Whittaker et al. 2014). Dies macht allerdings entsprechende Ressourcen erforderlich. Hoch belastete, traumatisierte und trennungserfahrene Jugendliche profitieren von einer maximal haltgebenden Struktur, die eine grundsätzliche Akzeptanz der eigenen Person umfasst. Es erhöht das Verständnis der jungen Menschen, selbst schwierigste Verhaltensweisen 324 uj 7+8 | 2017 Selbstverletzendes Verhalten an der Schwelle von Jugendhilfe und -psychiatrie auch als biografisch erforderlich gewordene Anpassungs- und teils Überlebensversuche zu würdigen. Wenig hilfreich ist es für die jungen KlientenInnen einen möglichen Abbruch von Hilfen als sich häufig wiederholende Drohung und selbst erfüllende Prophezeiung zu erleben. Prof. Dr. Gunter Groen Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg Alexanderstr. 1 20099 Hamburg E-Mail: gunter.groen@haw-hamburg.de Literatur Ader, S., Klein, M. 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Beispiele und Lösungswege für Kooperation der sozialen Dienste. Beltz Juventa, Weinheim, 247 - 272 Groen, G., Jörns-Presentati, A. (2014): An der Schnittstelle von stationärer Kinder- und Jugendhilfe und psychiatrisch-psychotherapeutischer Gesundheitsversorgung: Ergebnisse einer Interviewstudie. Kindheit und Entwicklung, 23, 151 - 160, https: / / doi.org/ 10.1026/ 0942-5403/ a000141 James, S., Alemi, Q., Zepeda, V. (2013): Effectiveness and implementation of evidence-based practices in residential care. Children and Youth Services Review, 35, 642 - 656, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.childyouth. 2013.01.007 Plener, P. (2014): Suizidales Verhalten und nichtsuizidale Selbstverletzungen (Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen). Springer, Berlin Ritschel, L. A., Miller, A. L., Taylor, V. (2013): Dialectical behavior therapy for multi-problem adolescents. In J. Ehrenreich-May & B. Chu (Eds.), Transdiagnostic mechanisms and treatment for youth psychopathology. 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