unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
697+8
Rezension: Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne
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2017
Martin Stahlmann
Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne 264 Seiten, Edition Suhrkamp, Berlin 2016, € 18,–
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348 uj 7+8 | 2017 Rezension Ulrich Beck suchte mit seiner „Risikogesellschaft“ (1986) nach der anderen Moderne und entdeckte die „reflexive Modernisierung“, Gerhard Schulze („Erlebnisgesellschaft“ 1992) erschien fast schon etwas euphemistisch, dem Hedonistischen nachspürend, Nachtwey nun dagegen schonungslos: „Abstiegsgesellschaft! - keine Hintertür, kein Ausweg, keine Chance, es sich schön zu reden - „Aus der Traum“ (so Markus Decker in einem passenden Essay in der FR vom 20. 1. 2017). Seine These ist hart und es braucht ein wenig, um sich klar zu machen, welch Sprengstoff darin enthalten ist: „Aus der Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration ist, so die Hauptthese, eine Gesellschaft des sozialen Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung geworden“ (S. 8). Wenngleich der gebildete Laie bereits seit Monaten aufgrund aktueller täglicher Hiobsbotschaften und kritischer Warnungen in den Feuilletons (z. B. Heinz Bude in der FAZ 2016) ernüchtert sein dürfte, kommt nun die zu erwartende Gesamtabrechnung. Von dem Beckschen Fahrstuhleffekt zur Rolltreppe abwärts - egal wo man steht, ob oben oder (schon) unten, es geht nach unten. „Abstiegsgesellschaft“ ist zwar eine gut zu lesende, gleichwohl aber schwere Kost, die uns Nachtwey, Fellow am Frankfurter Institut für Sozialforschung, serviert. Zwar sind einige Thesen nicht ganz neu (z. B. was die diskontinuierlichen Berufsbiografien angeht oder die Sorge der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg), was aber den Charme des Buches ausmacht, ist, dass der Autor die verschiedenen Teilchen mosaikartig zusammenträgt, sodass sich ein umfassendes kritisches Bild der heutigen Gesellschaft abzeichnet. Hierzu scheint es aus seiner Sicht erforderlich, einen Blick zurück zu werfen, um zu entwickeln wie sich die aktuelle besorgniserregende Lage hat entwickeln können. In den 5 Kapiteln (1. Soziale Moderne, 2. Kapitalismus (fast) ohne Wachstum, 3. Regressive Modernisierung, 4. Sozialer Abstieg und 5. Das Aufbegehren) entfaltet Nachtwey schrittweise seine Argumentation. Nach der sozialen und reflexiven folgt nun die regressive Moderne, in der sich die vielen „Nebennebenfolgen“ der reflexiven Moderne offenbaren. Liberalisierung, Privatisierung, ökonomische Deregulierung etc. führen mitnichten - wie seinerzeit erhofft - zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse, sondern ganz im Gegenteil zu Entdemokratisierung, einer Verschärfung sozialer Ungleichheit und neuen prekären Lebenslagen. Kurz, die Parameter und Fundamente der Gesellschaft scheinen zusammenzubrechen, eine Art Postdemokratie sich zu entwickeln: „Unter der Oberfläche einer scheinbar stabilen Gesellschaft erodieren seit Langem die Pfeiler der sozialen Integration, mehren sich Abstürze und Abstiege“ (S. 8). Die Gesellschaft hat sich blenden lassen von den vermeintlichen Fortschritten der sozialen Moderne, die sich letzten Endes jedoch nur als Teilerrungenschaften erweisen. Gleichberechtigung - ja, aber Frauen verdienen immer noch deutlich weniger für den gleichen Job; Integration/ Inklusion - ja, aber Ausgrenzung ist alltäglich; Beschäftigungszuwachs - ja, aber um welchen Preis? Nachtwey warnt vor einer Gesellschaft, die sich mit immer plakativeren „Plastikwörtern“ (Pörksen) selbst in die Tasche lügt und vor einem „neuen Zyklus sozialer Auseinandersetzungen“ (S. 15). Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne 264 Seiten, Edition Suhrkamp, Berlin 2016, € 18,- uj 7+8 | 2017 349 Rezension Was hier nur angedeutet werden kann, entfaltet Nachtwey unter Rückgriff auf vorhandene Studien sehr anschaulich und Schritt für Schritt. Zwar räumt der Autor ein, dass nicht jede seiner Thesen aktuell empirisch belegt sind, plausibel - gerade angesichts aktueller politischer Ereignisse im In- und Ausland - ist die Argumentation allemal, was den Leser allerdings nicht von einer kritischen Haltung ablenken darf, allzu holzschnittartig kommen manche Formulierungen daher. Dennoch: Ihm geht es um nicht weniger, als um die „Erhellung der aktuellen Situation“ und um den Anstoß zu „Überlegungen (…) wie auf den Prozess der regressiven Modernisierung eine solidarische Moderne folgen könnte“ (S. 233). Nicht nur Nachtwey weist dieser Tage darauf hin, dass die Bewährungsstunde der demokratischen Sicherungsinstrumente gekommen ist: Verfassung, Gewaltenteilung, eine unabhängige Justiz, eine freie Presse, Rechtsstaatlichkeit und - den citizen, den citoyen, den aufgeklärt mündigen Bürger, der sich nicht ein X für ein U vormachen lässt, und nicht auf Parolen, fake news und alternative Fakten reinfällt. Es gilt die widersprüchlichen und paradoxen Entwicklungen wahr und ernst zu nehmen, um noch eine Chance des Gegensteuerns zu wahren. Die Soziale Arbeit tut gut daran, sich mit den hier vorgelegten Thesen auseinanderzusetzen, sie wird in Zukunft noch mehr gefragt sein. Dr. Martin Stahlmann Beirat „Unsere Jugend“ Westerrönfeld martin.stahlmann@web.de DOI 10.2378/ uj2017.art52d
