unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2017.art57d
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Elternarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe
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Michael Domes
Sandra Schmitz
Die Zusammenarbeit mit Eltern ist ein entscheidender Wirkfaktor für das Gelingen von Jugendhilfemaßnahmen. In der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe ist dieser Konsens jedoch nach wie vor häufig nur ein theoretischer und wartet auf seine konkrete Umsetzung, die nur in Ansätzen vorhanden ist. Ein Reflexionsbogen über die gemeinsame Zeit von Eltern und Kind kann dabei helfen.
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377 unsere jugend, 69. Jg., S. 377 - 385 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art57d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Michael Domes Jg.1977; Diplom-Sozialpädagoge, Dozent an Fach- und Hochschulen, u. a. SRH Fachschule für Sozialwesen Heidelberg, SRH Hochschule Heidelberg Elternarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe Einsatz eines Reflexionsbogens über gemeinsam verbrachte Zeit von Eltern und Kind Die Zusammenarbeit mit Eltern ist ein entscheidender Wirkfaktor für das Gelingen von Jugendhilfemaßnahmen. In der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe ist dieser Konsens jedoch nach wie vor häufig nur ein theoretischer und wartet auf seine konkrete Umsetzung, die nur in Ansätzen vorhanden ist. Ein Reflexionsbogen über die gemeinsame Zeit von Eltern und Kind kann dabei helfen. „Es herrscht Konsens darüber, dass sich Kinder und Jugendliche niemals vollständig von ihrem ursprünglichen Umfeld loslösen, und Jugendhilfe nur erfolgreich sein kann, wenn sie gleichzeitig auch Familienhilfe ist“ (Macsenaere/ Esser 2012, 68). Der folgende Beitrag greift diese Aufforderung gleichsam als Herausforderung auf. Er gibt einen Einblick in die Entwicklung und Implementierung eines Reflexionsbogens über gemeinsam verbrachte Zeit von Eltern und Kind in einer Familienwohngruppe und versucht aufzuzeigen, wie Elternarbeit als Erziehungs- und Bildungspartnerschaft, „auch die Problemzonen, Schwierigkeiten und negativen Seiten der Kommunikation mit Eltern“ (Stange 2013, 27) einbeziehend, zu einem (Qualitäts-)Gewinn für beide Seiten beitragen kann. Zusammenarbeit mit Eltern und anderen Erziehungsberechtigten Zahlreiche Evaluationsstudien betonen und belegen, dass die (frühzeitige) Zusammenarbeit mit Eltern ein entscheidender Wirkfaktor für das Gelingen einer Jugendhilfemaßnahme ist (Schulze-Krüdener/ Homfeldt 2013, 253). Sandra Schmitz Jg. 1972; staatl. anerkannte Jugend- und Heimerzieherin, Fachkraft bei Glückskinder Betreuungsservice GmbH Heidelberg 378 uj 9 | 2017 Elternarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe Gesetzliche Grundlagen Artikel 6 (2) GG betont die hervorgehobene Position und Aufgabe der Eltern im Prozess des Aufwachsens und der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Können Eltern dieser Aufgabe (als Pflicht) nicht angemessen nachkommen, so haben sie in diesem Kontext ein Recht auf Hilfen zur Erziehung nach SGB VIII. Nehmen die Eltern Hilfen zur Erziehung nach §§ 32 bis 34 SGB VIII in Anspruch, so regelt § 37 (1) SGB VII die Zusammenarbeit von Eltern und Einrichtung: „Bei Hilfen nach §§ 32 bis 34 und § 35 a Abs. 2 Nr. 3 und 4 soll darauf hingewirkt werden, dass die […] in der Einrichtung für die Erziehung verantwortlichen Personen und die Eltern zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zusammenarbeiten“. Die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Fachkräften ist somit nicht nur eine nice-tohave-Dienstleistung der jeweiligen Einrichtung, sondern eine Forderung des Gesetzgebers. Für die Einrichtung ergibt sich hieraus die Notwendigkeit, adäquate Formen und entsprechende Methoden der Elternarbeit auszuwählen oder zu entwickeln und Eltern dazu einzuladen, zum Wohl des Kindes mit den Fachkräften zusammenzuarbeiten. Ansätze in der Zusammenarbeit Das zur Verfügung stehende Spektrum an Unterstützung unterscheidet sich hinsichtlich der Intensität, Frequenz, Methodik und Dokumentation. Es beinhaltet Ansätze zur Kooperationssicherung, Familienbildung und -förderung, Elternberatung und -training sowie familientherapeutische Interventionen (Adler 2006, 88f ). Grundsätzlich kann Elternarbeit strukturiert, geplant und regelmäßig (z. B. ausführliche Elterngespräche mit Vor- und Nachbereitung einmal pro Monat) oder spontan stattfinden (z. B. Tür-und-Angel-Gespräche). Auch wenn spontane Kurzkontakte nicht geplant sind, kommt gerade ihnen eine wichtige Funktion zu. Eltern fühlen sich gesehen und willkommen. Diese Form der Elternarbeit dient der Kontaktpflege, aber auch der Vertrauensbildung und stellt eine wichtige Grundlage für vertrauensvolle Gespräche in der Zukunft dar. Elternarbeit in der stationären Kinder- und Jugendhilfe Diouani-Streek stellt das primäre Spannungsfeld, in dem sich die Elternarbeit in der Heimerziehung bewegt, prägnant dar. Auf der einen Seite benötigen die Kinder und Jugendlichen einen neuen Lebensraum, der ihnen die notwendige Distanz zum elterlichen Umfeld verschafft, in dem durch Vernachlässigung, Verwahrlosung oder Gewalt ihre Entwicklung nachhaltig beeinträchtigt wurde. Auf der anderen Seite besteht die Forderung, die Beziehung zwischen Eltern und Kindern/ Jugendlichen zu begleiten und eine mögliche Rückführung im Blick zu behalten. Der sich hieraus ergebende doppelte Auftrag „Schutz und Begleitung“ markiert eine zentrale Herausforderung (in) der pädagogischen Arbeit (Diouani-Streek 2007, 44f ). Eine nicht ausreichende Qualifizierung der Fachkräfte in Bezug auf Elternarbeit, fehlende personelle Ausstattung im vollstationären Bereich sowie mangelnde konstruktive Bewältigungsstrategien im Umgang mit Rückschlägen erschweren häufig zusätzlich eine aktive und ressourcenorientierte Zusammenarbeit mit Eltern (Homfeldt 2004, 22). Deshalb fordert u. a. Brenner ein Konzept, das die Eltern als Ressource und SpezialistInnen für ihre Kinder anerkennt und so einem möglichen und auch realiter vorhandenen Machtgefälle entgegenwirkt. Versucht eine Einrichtung die Eltern der ihnen anvertrauten Kinder zu aktivieren und in das Leben der Einrichtung zu integrieren (Teilhabe - Mitverantwortung - Integration), so entsteht die Chance auf eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Fachkräften, Eltern und Kindern - mit der grundsätzlichen Option einer Rückführung in die Herkunftsfamilie (Brenner 2015, 7f ). „Um allerdings Familienaktivierung als Zielrichtung 379 uj 9 | 2017 Elternarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe jeder Heimerziehung anvisieren bzw. prüfen zu können, bedarf es einer entsprechenden Grundhaltung der Fachkräfte, die sich durch Wertschätzung der Eltern und Achtung für ihre Lebensverhältnisse und ihre Erziehungsbemühungen auszeichnet“ (Moos/ Schmutz 2005, 80). Elternarbeit - eine Frage der Haltung Der Begriff der Haltung wird im pädagogischen Handeln zwar oft bemüht, jedoch selten inhaltlich konkretisiert. Tschöpe-Scheffler betont in Anlehnung an Korczak die Bedeutung einer Grundhaltung, „die sich durch eine achtsame Art der Begegnung, durch die Anerkennung der gleichen Würde aller Menschen, durch demokratische Orientierung […] auszeichnet“ (Tschöpe-Scheffler 2014, 30). Zur professionellen, achtsamen und reflektierten Haltung der Fachkräfte gehört die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschenbild, den Werten und Vorurteilen, die die Sicht auf das Gegenüber beeinflussen. Wichtig hierbei ist im Sinne einer authentischen Haltung, dass diese Aspekte auch in das Selbst der jeweiligen Fachkraft integriert werden, denn „Werte, Einstellungen und Überzeugungen sind die äußeren Zeichen für das, was eine kohärente Haltung ermöglicht: Sie zeugen nur dann von einer professionellen Haltung, wenn sie echte Selbstkompetenz widerspiegeln“ (Kuhl u. a. 2014, 107). Dies entscheidet zusammen mit der Methodenwahl, den Inhalten und Zielen darüber, ob die Arbeit mit (oder der Kontakt zu) den Eltern konfliktbehaftet oder lösungsorientiert abläuft. Erst wenn es Fachkräften möglich ist, offen und wahrhaftig interessiert den Blick auf das Gegenüber zu richten, kann ein Raum für gemeinsame Lösungen und Wege eröffnet werden. Diese Haltung kann dazu führen, in Eltern und deren bisherigen Lebenserfahrungen Wissen und Ressourcen zu finden, die in der aktuellen Situation die Entwicklung und Erziehung ihrer Kinder positiv beeinflussen. Tschöpe-Scheffler spricht sich deutlich für eine dialogische, achtsame und das Gegenüber achtende Begegnung aus - eine Begegnung, in der die Fachkraft sich tatsächlich für die Eltern interessiert und mit zurückhaltenden, vorsichtigen Fragen deren Standpunkt erkundet, sich ihrer eigenen Vorurteile und Konzepte über andere jederzeit bewusst (Tschöpe-Scheffler 2014, 29f ). Ross zeigt auf, welche Aspekte hilfreich zusammenwirken sollten, um eine entwicklungsfördernde professionelle Haltung zu fördern: ➤ Respektvoller und wertschätzender Umgang ➤ Vorurteilsbewusstes Denken und Handeln ➤ Ressourcenorientiertes Denken und Handeln ➤ Forschendes und erkundendes Handeln ➤ Bereitschaft zur Selbstreflexion Sind Fachkräfte in der Lage, diese Punkte handlungsleitend zu berücksichtigen, kann eine Haltung entstehen, die es Eltern ermöglicht, sich als selbstwirksam und lebenskompetent zu fühlen und zu erleben (Ross 2014, 42f ). Werden Misserfolge oder Fehler „milde“ betrachtet, so eröffnet sich für Eltern ein Feld, in dem sie wieder eigene Antworten finden können. Grundlegend für das Gelingen oder Nicht-Gelingen der Arbeit mit Eltern ist die Haltung der Fachkräfte zu den Eltern der Kinder und zur Notwendigkeit der Arbeit/ Kooperation mit ihnen, was in der folgenden Projektdarstellung konkretisiert werden soll. Das Praxisprojekt - Die Entwicklung und Implementierung eines Reflexionsbogens über gemeinsam verbrachte Zeit von Eltern und Kind Das dargestellte Projekt ist ursprünglich die Abschlussarbeit einer Absolventin der Ausbildung zur ErzieherIn mit dem Schwerpunkt Jugend- und Heimerziehung in Baden-Württemberg. Es wurde nach Abschluss erweitert/ fortgesetzt und fand Eingang in die Konzeption des Trägers. 380 uj 9 | 2017 Elternarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe Projektidee und -entwicklung Das Projekt wurde im Setting eines Familiengruppenhauses eines privaten Trägers durchgeführt. Innerhalb der kleinen Wohngruppe werden vier Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten, die langfristig oder auf Dauer außerhalb ihrer Herkunftsfamilie leben müssen, „familienähnlich“ betreut. Das pädagogische Personal besteht aus einer Heilpädagogin, die mit den Kindern im Familienhaus lebt, und einer weiteren pädagogischen Ergänzungskraft. Die meisten Kinder verbringen alle 14 Tage ein Wochenende bei den Eltern (ggf. auch Teile der Ferien). Die Elternarbeit ist konzeptionell festgelegt, verläuft in der Praxis der Wohngruppe aber eher unstrukturiert und ad hoc. Zudem hat sie besonders bei Eltern, die den Weg in die Wohngruppe ungern oder selten aus eigener Kraft finden, einen geringen Stellenwert oder stößt auf Vorbehalte. Übergeordnetes Ziel des Praxisprojekts sollte deshalb sein, den Übergang Wohngruppe - Elternbesuch - Wohngruppe (als einen spürbaren Wechsel hinsichtlich Regeln, Freiheit, Stimmung und Struktur) strukturiert begleiten und gestalten zu können. Hierzu galt es folgende Fragen zu beantworten: ➤ Wie können die Eltern erreicht werden, trotz Zeitbzw. Kontaktmangel? ➤ Was kann für einen Besuchskontakt vor- und nachbereitet werden? ➤ Was darf von den Eltern eingefordert werden? ➤ Wie können die Eltern in der Reflexion entlastet werden? Für die Nachbereitung (und damit auch Vorbereitung der folgenden Besuche) spielt die Frage nach der Befindlichkeit und auch nach (Veränderungs-)Wünschen eine zentrale Rolle. Was von Eltern eingefordert werden darf - und auch muss - ist, den Blick auf das Kind zu richten, es zu beobachten, innezuhalten, statt atemlos zu (re-)agieren. Dies ist die Grundlage für die „Vision“, Eltern-Reflexion zu ermöglichen und flexiblere Handlungsmöglichkeiten zu bieten. Zur methodischen Umsetzung kam ein einseitiger Fragebogen mit Multiple-Choice-Antworten und sehr kurz gehaltenen offenen Antwortmöglichkeiten zum Einsatz. Dies ermöglicht eine schnelle Kontaktaufnahme sowie einfache Handhabung, da einige Eltern wenig wort- und sprachaffin sind bzw. Schrift als Barriere empfinden, an der sie scheitern oder sich blamieren könnten. In den Fragebogen sollten insbesondere Aspekte und Angebote für Regeln, Wünsche und Struktur(en) einfließen, da hierbei der größte Unterschied zwischen Wohngruppe und Elternhaus zu erwarten ist und auch erlebt wird. Folgende strategische Fragen zur Implementierung des Bogens galt es zu berücksichtigen: ➤ Wie muss der Bogen entwickelt werden (Inhalte)? ➤ Wie werden Eltern an den Bogen herangeführt? ➤ Ist das Ausfüllen des Bogens eine verpflichtende oder eine freiwillige Aufgabe? ➤ Wie könnte eine Auswertung stattfinden? Die Inhalte des Bogens wurden an Fragen ausgerichtet, die den Kindern aus der täglichen pädagogischen Arbeit bekannt und vertraut sind - Fragen nach Befindlichkeit, Erfolgen, Wünschen oder erlebten Enttäuschungen. Mit dem Wissen um eine offene und wertschätzende Haltung gegenüber den Eltern als Erfolgsfaktor ist es wünschenswert, wenn dem Fragebogen mindestens ein ausführliches Gespräch über Sinn und Zweck des Bogens vorausgeht. In diesem sollte es zentral darum gehen zu vermitteln, dass es sich um kein Kontrollinstrument handelt. 381 uj 9 | 2017 Elternarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe Ausgehend von der entwicklungsfördernden professionellen Haltung nach Ross (2014), sollte es bei dem Reflexionsbogen ausschließlich um Freiwilligkeit gehen. Eltern müssen entscheiden dürfen, ob und wie viel sie von dem Kontakt mit ihren Kindern preisgeben möchten. Der Fragebogen Der finale, ressourcen- und lösungsorientierte Fragebogen beinhaltete, neben formalen Daten, Fragen zu folgenden Aspekten: ➤ Regeln/ Vereinbarungen: Um nicht kontrollierend einzuwirken, geht es darum, Wünsche zu formulieren, zwei Regeln (Wunsch gemeinsam mit den Fachkräften) festzulegen und nach Möglichkeiten der Einhaltung zu fragen. ➤ Wie waren die gemeinsamen Mahlzeiten? (siehe Abb. 1) ➤ Was ist besonders gut gelungen/ erfreulich? ➤ Was hat geärgert/ gestört? ➤ Was war die schwierigste Situation? ➤ Frage nach Gefühlen mit Mehrfachnennung (siehe Abb. 2) ➤ Gesamteinschätzung der gemeinsamen Zeit (gemeinsam mit dem Kind) nach Farben (Ampelsystem) ➤ Wunsch für den nächsten Kontakt Die Implementierung Die Reflexionsbögen wurden unterschiedlich eingeführt, teilweise mit und ohne ein erklärendes Gespräch (aufgrund des Zeitmangels und der mitunter schweren Erreichbarkeit der Eltern). Die erklärenden Gespräche wurden jedoch angekündigt und zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt. Hier war es interessant zu beobachten, welche Eltern sich an den Fragebö- Wie waren die gemeinsamen Mahlzeiten? n gemütlich (ruhig, gedeckter Tisch, gemeinsame Unterhaltung, alle zusammen am Tisch) n lebendig (laut, immer wieder mal aufstehen, ermahnen) n verinselt (nicht gemeinsam, wenig Gespräch, Erschöpfung, gedrückte Stimmung, Ärger) Welche Regeln konnte(n) eingehalten werden? _________________________________________________ Wie oft musste an die Regel(n) erinnert werden? n nie n gelegentlich n oft Das war anders als bisher: ____________________________________________________________________ Abb. 1: Auszug aus dem Fragebogen (1) n leicht n angestrengt n erschöpft n glücklich n ärgerlich n bemüht n traurig n enttäuscht n allein n unterstützt n heiter n kontrolliert n gestresst n überflüssig n fröhlich n überfordert n verbunden n nachdenklich Wie habe ich mich insgesamt gefühlt? (Mehrfachnennung möglich) Abb. 2: Auszug aus dem Fragebogen (2) 382 uj 9 | 2017 Elternarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe gen beteiligten und in welcher Intensität. Je selbstbewusster die Eltern, desto weniger wurde der Bogen ausgefüllt, unsicherere Eltern waren bemüht, den Bogen „gut“ auszufüllen, d. h. es gab keine Komplikationen, der Besuchskontakt war „ganz prima“. Hier war es notwendig, im persönlichen Gespräch die Angst vor Kontrolle zu nehmen. Konnten die Eltern überzeugt werden, dass in dem Bogen Stress, Scheitern, Überforderung ausdrücklich stehen dürfen, ohne dass daraus negative Konsequenzen erfolgen, war viel erreicht. Es wurde demnach wichtig, den Eltern zu verdeutlichen, dass auch Fachkräfte scheitern, gestresst und hin und wieder überfordert sind. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass Fachkräften Methoden und Ideen zur Verfügung stehen, mit denen sie bei einer vergleichbaren Situation anders agieren können. Zentral ist deshalb der gemeinsame Austausch über Situationen, Verhaltensweisen und die Erprobung adäquater Alternativen. Viele Situationen erleben Eltern und Fachkräfte, manche Situationen erleben nur die Eltern oder nur die Fachkräfte. Ein Erfahrungsaustausch kann diese Lücke schließen - zum Wohl des Kindes. Das Kind darf erleben, dass Eltern und Fachkräfte Ähnliches erleben und manches ähnlich handhaben. Gelingt es, „eine möglichst überparteiliche Vermittlerrolle ein(zu)nehmen, die dem jungen Menschen nicht den Eindruck einer ,Koalition der Mächtigen‘ suggeriert“ (Arnold/ Macsenaere 2015, 373), dann können Eltern handlungssicher(er) werden und gestaltend an der Erziehung ihrer Kinder mitwirken. Der Reflexionsbogen wurde in zwei Wohngruppen getestet. Die Ergebnisse waren so individuell wie die Kinder bzw. die Eltern. Das Spektrum reichte von keiner Rückmeldung, über eine zunehmend selbstbewusste Gestaltung der Besuchskontakte bis hin zu Erziehungsaufträgen an die Fachkräfte. Es zeigte sich, dass gerade unsichere Eltern, die sich ihre Schwierigkeiten eingestehen können, von dem Bogen profitieren konnten. Auch die Kinder füllten hin und wieder einen eigenen Fragebogen aus. Hier ist zu beobachten, dass sie über den Bogen die Gelegenheit wahrnehmen, Wünsche an die Eltern zu formulieren, die im direkten Kontakt so nicht formuliert worden wären. Auswertung In einem Zeitraum von sechs Monaten wurden 54 Reflexionsbögen in zwei Wohngruppen ausgeteilt. Die Bögen, die auch interessierten Kindern mitgegeben wurden, sind hierbei nicht mitgezählt. Es handelte sich um Besuchskontakte von acht verschiedenen Kindern. Der Rücklauf bestand aus 45 ausgefüllten Bögen. Exemplarisch folgt die Darstellung zweier Fallskizzen, die einen Einblick in die individuellen Verläufe ermöglichen. Fallskizze 1 Die Einführung des Reflexionsbogens mit Frau A erfolgte (ungeplant) über verschiedene Ebenen. Zuerst hat ihr Sohn X von dem Bogen erfahren. Er erlebte die pädagogische Fachkraft bei der Arbeit daran und zeigte Interesse. Am Tag des Besuchskontaktes wurde der Bogen Frau A von einer Kollegin übergeben. Als Frau A sonntags ihren Sohn zurückbrachte, gab X den Bogen ab. Er wurde anscheinend von X selbst ausgefüllt. Dies wurde zum Anlass genommen, mit X über das Wochenende zu sprechen. Er wurde gefragt, was die Mama zum Reflexionsbogen gesagt hat. „Den hat sie vergessen, da hab ich ihn ausgefüllt.“ Die Fachkraft bedankte sich bei X, dass er die Sache so gewissenhaft angeht. Zugleich wurde ihm erklärt, dass es nicht schlimm sei, wenn seine Mutter keine Lust oder Zeit hat, den Bogen auszufüllen. Hierzu sei angemerkt, dass X jederzeit bemüht ist, die Versäumnisse oder „Fehler“‘ seiner Mutter auszugleichen. Deshalb war es wichtig, ihn von dieser Aufgabe zu befreien. Gleichzeitig wurde ihm jedoch angeboten, falls er selber Freude an einem solchen Bogen habe, könne er einen eigenen Bogen bekommen. 383 uj 9 | 2017 Elternarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe Es folgten zwei weitere Besuchskontakte, in denen X seinen eigenen Bogen ausfüllte und seine Mutter den Teil des Ankreuzens auf ihrem Bogen erledigte. Es wurde geplant, die nächste Möglichkeit zum Gespräch mit Frau A zu nutzen. Diese Möglichkeit ergab sich, als Frau A eine Stunde zu früh in die Einrichtung kam, um X abzuholen. Frau A wurde nach ihrem Befinden gefragt und ob sie sich nicht schon gewundert habe, warum sie nun so einen Fragebogen mitbekäme. Da habe sie sich gleich gefragt, „was das nun schon wieder soll“, aber X habe ihr gesagt, das sei wichtig. Sie wisse jedoch gar nicht genau, was sie „da reinschreiben“ solle. Das Angebot, den Bogen gemeinsam durchzugehen, nahm sie bereitwillig an. Hinsichtlich der Regeln wurde ihr erklärt, dass es in der Einrichtung klare Regeln gäbe, an die sich die Kinder halten müssten, und dies wiederum helfe, sich nicht wiederholt in Diskussionen mit den Kindern zu verstricken. Bei X sei z. B. eine verbindliche Schlafenszeit hilfreich. Da stimmte sie zu und sagte, das sei ein nicht enden wollendes Thema am Wochenende. Ob wir da so etwas mit reinnehmen könnten? Fachkraft: „Natürlich! Wann möchten Sie denn, dass er ins Bett geht? “ Frau A: „Wann geht er denn hier? Ich weiß gar nicht, was da richtig ist.“ Fachkraft: „Am Wochenende, wenn wir noch gemeinsam einen Film schauen, geht er zwischen 22 und 22: 30 Uhr ins Bett.“ Frau A: „Das wär‘ bei mir auch schön. Geht auch 23 Uhr? “ Frau A wurde darin bestärkt, dass sie am Wochenende die Entscheiderin sei und wenn sie erlaube, dass ihr Sohn bis 23 Uhr aufbleiben darf, dann sei das so in Ordnung. Als Konsequenz bei Nichteinhalten der Regel wollte sie, dass er dann am folgenden Tag früher ins Bett müsse. Als das Gespräch zu den Fragen nach den Gefühlen kam, lachte sie und sagte: „Na, ich werde ja wohl ganz sicher nicht ,überfordert‘ ankreuzen, dann darf ich mein Kind nicht mehr sehen! “ Diese Angst konnte ihr im Gespräch genommen werden. Vielmehr wäre es hilfreich, gemeinsam herauszufinden, was so überfordernd war und ob gemeinsam eine Idee gefunden werden könnte, wie es leichter würde. Frau A wurde versichert, dass - was auch immer sie in diesem Fragebogen schreibt - die Besuchskontakte weiterhin stattfänden. Das Anliegen sei lediglich, die Kontakte so gut wie möglich für sie und ihren Sohn zu begleiten. Damit war sie einverstanden und es folgten Besuchskontakte, an denen sie vollständig ausgefüllte Bögen mitbrachte. Fallskizze 2 Der Kontakt zu Herrn B findet vornehmlich per E-Mail statt, da dieser im Schichtdienst arbeitet. Diese Form des Kontaktes ist für beide Seiten praktikabel und gewünscht. Herr B scheint sehr darauf bedacht zu sein, einen intelligenten und weltmännischen Eindruck zu hinterlassen. Die sachliche Ebene ist ihm vertraut und dort ist ein Gespräch möglich. Deshalb wurde Sohn Y der Fragebogen mitgegeben mit den Worten: „Frag bitte deinen Papa, ob er damit etwas anfangen kann. Ich freue mich, wenn er ihn ausfüllt, falls er dazu keine Lust hat, ist das auch in Ordnung. Ich schreibe ihm nächste Woche dazu mehr.“ Y brachte einen kurz und knapp ausgefüllten Bogen mit. Die Überlegung zu den Regeln fiel Herrn B leicht. Er legte fest: „wenig brüllen“ und als dazugehörige Konsequenz: „Hinweise“. Unter dem Punkt „Was war die komplizierteste/ schwierigste Situation? “ notierte Herr B „Umsteigen an Bahnhöfen! “ Hierauf wurde Sohn Y angesprochen. Dieser berichtete, dass sie auf dem Weg in die Ferien tatsächlich sehr viel Stress mit den Zugverbindungen hatten und alle erleichtert waren, als sie am Urlaubsort ankamen. So konnte festgestellt werden, dass es gar keine humorvolle Anekdote, sondern eine ehrliche Mitteilung war. 384 uj 9 | 2017 Elternarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe Per E-Mail wurde sich bei Herrn B für die Mitarbeit am Reflexionsbogen bedankt. Ihm wurde mitgeteilt, wie erfreulich es war festzustellen, dass der Fragebogen in vielen Bereichen selbsterklärend sei, sofern er auf einen engagiert mitarbeitenden Elternteil trifft. Seine Regeln und Konsequenzen wurden nochmals aufgeführt und ihm zurückgemeldet, dass dies in der Gruppe ähnlich sei. Daraufhin wurde noch eine Essenssituation, die im Bogen Erwähnung fand, besprochen und ihm erklärt, dass es bekannt sei, wie sehr er auf eine gesunde Ernährung und das dazugehörige Ambiente achte. Dies sei nicht immer und bei allen Eltern so. Auch wurde er gebeten, Anmerkungen und Kritik freimütig zu äußern. Er antwortete freundlich und sicherte zu, die Bögen weiterhin auszufüllen. Ergebnisse Trotz dieser sehr individuellen Entwicklungen und Verläufe konnten aber durchaus auch übergeordnete Auswirkungen nach der Implementierung des Reflexionsbogens festgestellt werden: Elternbezogen: ➤ Zunehmende Differenzierung der Antworten (Gefühle, Beobachtungen) ➤ Selbstständiges Fragen nach Ursachen und Lösung auftretender familiärer Probleme/ Konflikte ➤ Wachsendes Vertrauen in die Fachkräfte ➤ Steigende Motivation und das Gefühl, in die Hilfedurchführung eingebunden zu sein ➤ Konkreter werdende Forderungen/ Wünsche an die eigenen Kinder Kindbezogen: ➤ Entspannung im Hinblick auf die Zusammenarbeit Eltern - Fachkräfte ➤ Offeneres Berichten von den Ereignissen am Wochenende Mitarbeiterbezogen: ➤ Mehr Anlass zu Gesprächen ➤ Strukturierterer Kontakt zu den Eltern ➤ Hinterfragen eigener Vorbehalte und Vorurteile ➤ Intensiver Austausch über Regeln und deren Überschreitung ➤ Wertschätzender Kontakt zu den Eltern Weiteres Vorgehen Aufbauend auf diesen positiven Ergebnissen sollte nach Planung des Trägers der Reflexionsbogen nach einer weiteren Testphase ebenfalls in den Erziehungsstellen eingesetzt werden. Hierzu gab es einen Einführungsabend mit intensivem, persönlichem und kritischem Diskurs, an dessen Ende sich einige Fachkräfte bereit erklärten, den Bogen zu testen. Die Rückmeldungen der beteiligten Fachkräfte fielen sehr positiv aus. Gelang es ihnen, den Kontrollwunsch gegen die Haltung des offenen Interesses einzutauschen, so erhielten sie Informationen, die ihnen im Alltag weiterhelfen. Der Bogen ist mittlerweile in den Erziehungsstellen ein festes Instrument geworden. Eine modifizierte und gekürzte Ausgabe dient auch der Reflexion der Besuchskontakte von Pflegekindern mit ihren leiblichen Eltern. Kinder- und Jugendhilfe verstanden als Familienhilfe, die auch systematisch-konzeptionell verankert ist, trägt somit wesentlich zur positiven (Weiter-)Entwicklung aller Beteiligten und Verbesserung der Qualität der professionellen Arbeit bei. „Aufgrund ihrer hohen Wirkungsrelevanz kann, letztendlich zum Wohle der jungen Menschen und ihrer Familien, nur empfohlen werden, die Sicherung und den Ausbau einer qualitativ hochwertigen Elternarbeit weiterhin in angemessener Weise voranzutreiben“ (Arnold/ Macsenaere 2015, 373). Michael Domes www.michaeldomes.de info@michaeldomes.de Sandra Schmitz sandra_schmitz@gmx.org 385 uj 9 | 2017 Elternarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe Literatur Adler, H. (2006): Förderung der Erziehungskompetenz. Methoden und Interventionen zur Stärkung elterlicher Kompetenzen und Fähigkeiten für die Erziehung. In: Psychotherapie11 (1), 88 - 95 Arnold, J., Macsenaere, M. (2015): Auswirkungen von Elternarbeit in (teil-)stationären Hilfen zur Erziehung auf Hilfeverläufe der Kinder und Jugendlichen. In: Unsere Jugend 67, 364 - 374 Brenner, P. (2015): Eltern- und Familienarbeit bedeutet Integration. In: Mundinger, B., Brenner P. (Hrsg.): Kooperation mit Eltern in der Kinder- und Jugendhilfe. Gelingende Zusammenarbeit mit Eltern als Erfolgsfaktor. Diplomica Verlag, Hamburg, 7 - 17 Diouani-Streek, M. (2007): Kindeswohl und Elternrecht: Zur Umgangsproblematik von Minderjährigen in Heimerziehung und Eltern. In: Homfeldt, H. G., Schulze-Krüdener, J. (Hrsg.): Elternarbeit in der Heimerziehung. Ernst Reinhardt Verlag, München, 44 - 60 Homfeldt, H. G. (2004): In-House-Fortbildung - Erstgespräch - Kooperation öffentlicher und freier Jugendhilfe - ausgewählte Problemzonen der Elternarbeit. In: Brandhorts, K., Homfeldt, H. G., Schulze-Krüdener, J. (Hrsg.): Elternarbeit im/ durch das Heim. Regionalkonferenz von VertreterInnen von öffentlichen Trägern der Jugendhilfe sowie Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe aus dem Saarland und Rheinland-Pfalz. Arbeitspapier I-06 des Zentrums für sozialpädagogische Forschung der Universität Trier, Trier, 22 - 25. In: https: / / www.uni-trier.de/ fileadmin/ fb1/ prof/ PAD/ SP1/ Arbeitspapiere/ Arbeitspapier_I- 06.pdf, 26. 6. 2017 Kuhl, J., Schwer, C., Solzbacher, C. (2014): Professionelle pädagogische Haltung: Versuch einer Definition des Begriffes und ausgewählte Konsequenzen für Haltung. In: Schwer, C., Solzbacher, C. (Hrsg.): Professionelle pädagogische Haltung. Historische, theoretische und empirische Zugänge zu einem viel strapazierten Begriff, Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 107 - 120 Macsenaere, M., Esser, K. (2012): Was wirkt in der Jugendhilfe? Wirkfaktoren in Heimerziehung und anderen Hilfearten. Ernst Reinhardt Verlag, München Moos, M., Schmutz, E. (2005): Familienaktivierende Heimerziehung. Werkstattbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Projekt „Neue Formen Familienaktivierender Heimerziehung in Rheinland-Pfalz“. Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V., Mainz Ross, L. (2014): Verschiedene Aspekte einer entwicklungsfördernden professionellen Haltung. In: Tschöpe-Scheffler, S. (Hrsg.): Gute Zusammenarbeit mit Eltern in Kitas, Familienzentren und Jugendhilfe. Qualitätsfragen, pädagogische Haltung und Umsetzung. Barbara Budrich, Opladen, 42 - 50 Schulze-Krüdener, J., Holmfeldt, H. G. (2013): Elternarbeit in der Heimerziehung. In: Stange, W., Krüger, R., Henschel, A., Schmitt, C. (Hrsg.): Erziehungs- und Bildungspartnerschaften. Praxisbuch zur Elternarbeit. VS, Wiesbaden, 250 - 257 Stange, W. (2013): Präventions- und Bildungsketten - Elternarbeit als Netzwerkaufgabe. In: Stange, W., Krüger, R., Henschel, A., Schmitt, C. (Hrsg.): Erziehungs- und Bildungspartnerschaften. Praxisbuch zur Elternarbeit. VS, Wiesbaden, 17 - 69 Tschöpe-Scheffler, S. (2014): Haltung im Zeichen der Achtung. In: Tschöpe-Scheffler, S. (Hrsg.): Gute Zusammenarbeit mit Eltern in Kitas, Familienzentren und Jugendhilfe. Qualitätsfragen, pädagogische Haltung und Umsetzung. Barbara Budrich, Opladen, 29 - 41
