unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Delinquente Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe - Herausforderung und Überforderung
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Anja Lange
Norbert Schweers
Sogenannte delinquente Kinder und Jugendliche, die in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe leben, haben oft zahlreiche Hilfeabbrüche hinter sich. Dabei scheint die Delinquenz die geringere Herausforderung zu sein. Eher stellen die Unterbringungspraxis vieler Jugendämter und der Vertrauensverlust der jungen Menschen ein großes Problem dar. Wie gehen wir mit diesen Bedingungen um?
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39 unsere jugend, 70. Jg., S. 39 - 46 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art06d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Anja Lange Jg. 1972; Leiterin Kinderu. Jugendhilfeverbund Bayern und Thüringen beim Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk gemeinnützige AG (EJF) Delinquente Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe - Herausforderung und Überforderung „… und wir halten dich aus! “ Sogenannte delinquente Kinder und Jugendliche, die in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe leben, haben oft zahlreiche Hilfeabbrüche hinter sich. Dabei scheint die Delinquenz die geringere Herausforderung zu sein. Eher stellen die Unterbringungspraxis vieler Jugendämter und der Vertrauensverlust der jungen Menschen ein großes Problem dar. Wie gehen wir mit diesen Bedingungen um? Delinquente Kinder und straffällige Jugendliche in stationärer Jugendhilfe Das Wörterbuch DUDEN leitet die Herkunft des Wortes „delinquent“ vom lateinischen Verb „delinquere = hinter dem erwarteten Verhalten zurückbleiben, mangeln, fehlen“ ab. In unserem Sprachgebrauch hat es die Bedeutung straffällig, verbrecherisch. Als Synonym nennt der DUDEN das Wort kriminell. In unserer Gesellschaft und natürlich auch in der öffentlichen und freien Jugendhilfe fassen wir Delinquenz in der Regel nicht als ein Zurückbleiben eines erwarteten Verhaltens auf, sondern sogenannte delinquente Kinder und Jugendliche werden schnell als kriminell eingestuft, wenn sie Regeln und Gesetze brechen. Oft werden sie dann zum Problemfall für die Elternhäuser, die Schulen, das Jugendamt und das Gemeinwesen. Wir wissen, dass das sogenannte delinquente Verhalten von Kindern und Jugendlichen selten allein als Verhaltensmerkmal dasteht und das abweichende Verhalten seine Ursache, seinen eigenen Sinn und Grund hat. Wir wollen in diesem Artikel darstellen, wie wir im Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk (EJF) mit sogenannten delinquenten Kindern und straffälligen Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe umgehen, und Faktoren des Gelingens unserer Arbeit aufzeigen. Norbert Schweers Jg. 1966; Vorstand beim Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk gemeinnützige AG (EJF) 40 uj 1 | 2018 Delinquente Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe Bedauerlicherweise gibt es in vielen Biografien Hinweise, dass Abbrüche hätten vermieden werden können und in den Jugendhilfekarrieren der jungen Menschen ein positiverer Verlauf möglich gewesen wäre. Eine Lanze für die Jugendämter Als bundesweit tätiger freier Träger mit 1300 Plätzen in der stationären Jugendhilfe erlauben wir uns einige Anmerkungen zur Unterbringungspraxis der Jugendämter, die bei diesem Thema als strukturelles Problem nicht unerwähnt bleiben darf. Insbesondere unsere intensivpädagogischen stationären Einrichtungen nehmen junge Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet auf. Häufig haben diese Kinder und Jugendlichen mehr als zehn stationäre Unterbringungsformen hinter sich und abweichendes, fast immer als delinquent beschriebenes Verhalten, führt dazu, dass die Jugendämter unsere personal- und kostenintensiven Angebote anfragen. Die Kolleginnen und Kollegen der Jugendämter erleben wir in der Anfragephase oft als ängstlich und drängend, weil sie nachvollziehbarerweise Kindeswohl und Gemeinwohl in Gefahr sehen. Wir arbeiten in der Regel vertrauensvoll und sehr kooperativ mit den Mitarbeitenden der Jugendämter zusammen. Wir freuen uns auch, dass unserer Fachlichkeit Vertrauen geschenkt wird. Allerdings stellen wir enorme Qualitätsunterschiede in der Arbeitsweise der Jugendämter fest. Die Rahmenbedingungen für die wichtige Arbeit der Allgemeinen Sozialen Dienste und Vormünder, die die Städte und Landkreise sicherzustellen haben, sind oftmals so mangelhaft, dass die Mitarbeitenden keine Zeit für Elternarbeit, Partizipation der Kinder und Jugendlichen und sozialpädagogische Diagnostik haben. Der Aus- und Weiterbildungsstatus ist oft unzureichend. Dies liegt in keiner Weise an den Kolleginnen und Kollegen der Jugendämter, die in der Regel im Sinne der uns gemeinsam Anvertrauten gute Arbeit leisten, aber oft völlig überlastet sind oder unter anderen Zwängen wie Kostendruck etc. arbeiten müssen. Sie werden oft schlecht vertreten, haben wenig fachliche Unterstützung, die Fluktuation ist groß und die Personalausstattung der Jugendämter, für die es bedauerlicherweise noch immer keine verpflichtende Personalbemessung gibt, hängt von der Haushaltslage und/ oder dem guten Willen des Kämmerers oder der Durchsetzungsfähigkeit der Amtsleitung ab. Stationäre Unterbringungen werden oft noch vom Jugendamtsleiter selbst oder Bewilligungsgremien genehmigt. Fort- und Weiterbildung ist häufig immer noch unerwünscht. Dabei liegt seit Jahren Literatur vor, die die Bedeutung der Fachlichkeit und gründlichen Vorbereitung von Jugendhilfeleistungen unterstreicht. Wir werden im Artikel auf einige Autoren zurückkommen. Wir „wissen, was wirkt“, so der Titel einer Tagung der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe (AGFJ) im Deutschen Institut für Urbanistik (DIFU) im Jahre 2015. Auch existieren viele Erkenntnisse über die Entstehung, Verhinderung und Betreuung sogenannter Systemsprenger, die Schwerpunkt einiger Tagungen der AGFJ in den vergangenen Jahren waren (siehe AGFJ Fachtagungen der Jugendhilfe im DIFU). Fachliche und personelle Ausstattung, genügend Zeit für Partizipation und sozialpädagogische Diagnostik/ Clearing sind für gelingende Hilfeverläufe Grundvoraussetzung, bleiben aber leider oft Wunschvorstellungen der Mitarbeitenden der Jugendämter. Darunter leiden Kinder und Jugendliche und deren Familien. Hingegen beeinflussen motivierte und kompetente Kolleginnen und Kollegen der Jugendämter, die den Rückhalt ihrer Behörde und genügend Zeit für die Hilfeplanprozesse haben, die Hilfeverläufe positiv. 41 uj 1 | 2018 Delinquente Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe Zehn und mehr Fremdunterbringungen sind eher die Regel als die Ausnahme Leider sind wir hier direkt im Thema. Delinquente Kinder und straffällige Jugendliche, die zu uns ins EJF kommen, haben oft eine beeindruckende Heimkarriere von zehn und mehr stationären Aufenthalten vorzuweisen. Alle haben Abbrüche, Neuanfänge und Beziehungsverluste erlebt. Meistens wurde mit der nächsten Einrichtung der Betreuungsrahmen personalintensiver. Schulabbrüche und Schulverweigerung sind die Regel. Gründe für frühere Unterbringungen und Abbrüche sind häufig nicht mehr ermittelbar. Eltern haben sich leider oft bereits aus dem Setting verabschiedet. Zeigen Kinder und Jugendliche ein hohes Maß an abweichendem Verhalten und Delinquenz auf, werden auch hohe Unterbringungskosten von fast 400 Euro pro Tag nicht mehr infrage gestellt. Erschreckend ist, dass auch hoch auffällige Kinder mit psychischen Störungen oft Pflegefamilien und Regelgruppen durchlaufen mussten. Scheitern vorprogrammiert. Fehlunterbringungen sind teuer In den Jahren 2000 bis 2015 sind die Kosten für ambulante und stationäre Hilfen zur Erziehung enorm gestiegen. Während die öffentliche Hand im Jahr 2000 noch ca. 3,5 Mrd. Euro für Fremdunterbringungen ausgab, waren es im Jahr 2015 bereits mehr als 6 Mrd. Euro. Die Ausgaben für ambulante Hilfen zur Erziehung verdreifachten sich fast im selben Zeitraum auf mehr als 2 Mrd. Euro (AKJStat 2017). Natürlich hat der Kostenanstieg viele Ursachen. Wenn wir also wissen, was wirkt, und uns seit Jahren Forschungsergebnisse vorliegen, wie Heimkarrieren und unangemessene Fremdunterbringungen zu vermeiden sind, ist es erschreckend, dass zwar die Kosten steigen, aber oft an der falschen Stelle gespart wird. Bei allen stationären Unterbringungen und Abbrüchen gibt es einen festen Partner im Hilfesystem - das Jugendamt. Ihm obliegt eine Schlüsselfunktion, denn stehen genügend Ressourcen, Fachlichkeit und Zeit zur Verfügung, sind negative Hilfeverläufe aufzuhalten und umzukehren. Die fachliche und personelle Ausstattung der Jugendämter in vielen Kommunen ist dringend zu verbessern. Wenn es zur Fremdunterbringung kommt, müssen die Mitarbeitenden der Allgemeinen Sozialen Dienste sowohl über die Zeit als auch das Know-how verfügen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Jeder Abbruch befördert die Abwärtsspirale, den Vertrauensverlust der Betreuten. Die Umkehr dieser Entwicklung oder gar die Rückkehr des Kindes in seine Familie wird mit jeder Station unwahrscheinlicher. Die anstehende Reform des SGB VIII sieht die stärkere Kontrolle der freien Träger vor. Die Frage, ob und wie Jugendämter in ihrer fachlichen Arbeit unterstützt und kontrolliert werden, bleibt offen. Mit Delinquenz als Symptom kann die Jugendhilfe umgehen Delinquenz als Symptom allein stellt für die Jugendhilfe selten ein Problem im Betreuungsalltag dar, sondern rückt eher aufgrund des öffentlichen Interesses immer wieder in den Fokus. Im Bereich der Diagnostik fällt Delinquenz unter die Kategorie „Störung des Sozialverhaltens“ (Codierung gemäß ICD-10) und fällt nach Brünger und Weissbeck (2015, 67) unter die am häufigsten gestellten Diagnosen. Geht man bei Delinquenz zunächst von einem jugendtypischen Verhalten aus, welches sich oft mit 42 uj 1 | 2018 Delinquente Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe der Reifung des jungen Menschen verwächst, zeigen Untersuchungsergebnisse nach Remschmidt auf, „dass Zusammenhänge von delinquentem Verhalten gerade bei Kindern zwischen Lernschwierigkeiten in der Schule und der Summe der sozialen und familiären Risikofaktoren bestehen“ (ebd., 68). Ergänzt sich dies noch durch ADHS oder einer Störung der Impulskontrolle, wird es für die Jugendhilfe problematisch, das Kind oder der Jugendliche ist nicht mehr aushaltbar und die Kinder- und Jugendpsychiatrie kommt ins Spiel. Intensivpädagogische stationäre Jugendhilfe im EJF Das EJF hat es sich seit vielen Jahren zur Aufgabe gemacht, gerade für diese Kinder und Jugendlichen stationäre Angebote zu entwickeln und vorzuhalten. Hohe Betreuungsintensität und fachliche Standards für Betreute und Betreuende sollten Abbrüche nur im Ausnahmefall zulassen, um damit eine weitere negative Entwicklung zu vermeiden. Denn eines haben alle Kinder und Jugendlichen, die als sogenannte Problemfälle in der Kinder- und Jugendhilfe gelten, gemeinsam - häufige Beziehungsabbrüche durch wechselnde Maßnahmen und Zuständigkeiten sowie den Verlust der Fähigkeit zu vertrauen. Die ABIE-Studie 2010 - 2014 (Tornow u. a. 2012) zeigt Gelingensfaktoren auf, die Abbrüche vermeiden bzw. verringern lassen. Die Ergebnisse dieser Studie haben wir mit unserem Wirkungsmessungssystem „wimes“ und einem Praxisforschungsprojekt in unseren stationären Einrichtungen (beide durchgeführt von e/ l/ s-Institut) ergänzt. Während beispielsweise im Land Berlin durchschnittlich 43 % aller stationären Hilfen, die am System der Wirkungsmessung „wimes“ von 2008 bis 2013 teilgenommen haben, abgebrochen wurden, waren es beim EJF in den Berliner Einrichtungen nur 26 % (Möller 2015, 39). Dies ist noch immer zu viel. Neun Gelingensfaktoren in der intensivpädagogischen stationären Jugendhilfe In unserer täglichen Arbeit in den stationären Einrichtungen des EJF haben wir diese Erkenntnisse konzeptionell einfließen lassen und mit den Praxiserfahrungen unserer Kolleginnen und Kollegen zusammengeführt. Haltung und Wissen „Wir halten dich aus“ - eine Erfahrung, die unsere sehr herausfordernden jungen Menschen bislang kaum erlebten und in der Regel auch alles daran setzen, nicht „aushaltbar“ für die Jugendhilfemaßnahme zu sein. Doch was bedeutet dies konkret? Es bedeutet: „Wir halten dich aus - egal was du tust“, „Wir halten dich fest - wenn du dich oder andere verletzt“, „Wir halten dich - wenn du davonläufst und nehmen dich wieder auf“. Uns ist nachvollziehbar, dass der junge Mensch sehr einfallsreich sein kann, um die Bestätigung zu erhalten, dass auch wir ihn nicht aushalten. Denn das waren für ihn bisher oft die einzigen zuverlässigen Reaktionen seines sozialen Umfeldes und auch die der Jugendhilfe. Dieses Muster ist vorhersehbar und bedeutet daher auch Sicherheit. „Sicherheit, dass ich nicht sicher bin und ich mich besser gar nicht erst einlasse, dann werde ich auch nicht enttäuscht.“ Das klingt paradox und doch ist es die Realität vieler unserer Jugendlichen. Wer mit 15 Jahren zehn und mehr Betreuungswechsel hinter sich hat, für den gibt es nur diese Sicherheit und den Glaubenssatz, der sein Verhalten bestimmt „mich hält keiner aus! “. Erst wenn wir in der Lage sind, ihn vom Gegenteil zu überzeugen und unser Versprechen erfüllen, können wir mit dem jungen Menschen arbeiten. Besser noch: Dann kann er mit uns arbeiten. 43 uj 1 | 2018 Delinquente Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe Wir benötigen Wissen darüber, in welchem System der junge Mensch aufgewachsen ist und welche Strategien er anwenden musste, um zu überleben und Anerkennung oder Aufmerksamkeit zu erhalten. Baumann spricht in diesem Kontext auch von „verstehender subjektlogischer Diagnostik“ (Baumann 2016, 182). Das Betreuungsteam muss nachvollziehen, dass ein bestimmtes Verhalten des jungen Menschen im Rahmen seiner bisherigen Erfahrungen und seiner Lebensgeschichte sinnvoll war und sich nicht als persönlichen Angriff gegen die PädagogInnen richtet. So kann die notwendige professionelle Distanz gewahrt werden und Machtkämpfe lassen sich eher vermeiden. Der Zweiklang aus Wissen und Haltung eröffnet dem Team und den einzelnen PädagogInnen Perspektiven und Handlungsschritte im Umgang mit herausforderndem Verhalten. Phasen der Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit minimieren sich dadurch im Gruppenalltag beträchtlich. Partizipation Baumann betrachtet es als das wichtigste Ziel, mit diesen Kindern und Jugendlichen eine Basis zu schaffen, die „Mitarbeit und Partizipation der jungen Menschen am Erziehungsprozess wiederherstellt und Strukturen sichert“ (Baumann 2016, 178), damit sie mit ihren individuellen Problemlagen und bisher gelebten Lösungswegen anknüpfen können. Rätz spricht in diesem Zusammenhang vom „dialogischen Passungsverhältnis“, indem „die beiden Pole, Handeln des jungen Menschen und Handeln des Hilfesystems“ (Rätz 2015, 44) aneinander andocken und somit die Hilfe erfolgreich ist. Unsere pädagogische Arbeit muss geprägt sein von Kontinuität, verlässlichen Strukturen und Bezugspersonen sowie größtmöglicher Partizipation von Eltern und Betreuten im Betreuungssetting. Im Vorfeld der Unterbringung sollte das Jugendamt die möglichst umfassende Beteiligung der Eltern und Kinder suchen. Dafür muss es die Rahmenbedingungen haben. Offene und wertschätzende Kommunikationsstrukturen In der Arbeit mit einer Klientel, welche Mitarbeitende an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit bringen kann, muss der Träger offene und wertschätzende Kommunikation ermöglichen und Rahmenbedingungen schaffen, damit sich jeder Mitarbeitende als Partner innerhalb des Prozesses empfindet und alle Lösungsvorschläge ernst genommen werden und in die Entscheidungsprozesse des Teams einfließen. Wenn Mitarbeitende den Eindruck haben, dass Vorschläge und Ideen, die vielleicht erst einmal nicht dem bestehenden Konzept entsprechen, unerwünscht sind, kann dies zu Frustration und „Dienst nach Vorschrift“ führen. Besprechungsformen, Analyse und Fehlerfreundlichkeit Für ressourcenorientiertes und verstehendes Arbeiten sind wöchentliche Teamsitzungen und Fallsupervision unerlässlich. Hier ist der Raum eines offenen, kollegialen Austausches, im dem jeder seine Anliegen vortragen kann. Bei Krisen ist eine genaue Analyse der Geschehnisse eine wesentliche Voraussetzung, um aus den Erfahrungen zu lernen und Lösungen gemeinsam zu erarbeiten. Jeder Konflikt wird betrachtet, auf beiden Seiten, im Hilfesystem und Verhalten des Jugendlichen. Dabei ist die Sichtweise des jungen Menschen ein wesentlicher Bestandteil der Aufarbeitung. Die Konsequenzen, die sich aus der Aufarbeitung ergeben, werden innerhalb des Teams und der Leitung erarbeitet. Wenn möglich, immer mit Beteiligung des jungen Menschen. Wir suchen nach (träger)internen Lösungen, die keinen erneu- 44 uj 1 | 2018 Delinquente Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe ten Beziehungsabbruch für den Betroffenen bedeuten. Ein Vorteil des großen Trägers EJF ist, dass er über ein breiteres, vielseitiges Angebot von Möglichkeiten im Umgang mit Krisen verfügt. Entscheidend an dieser Stelle ist jedoch die genaue Analyse aller Bestandteile einer Krise, sowohl innerhalb des Hilfesystems als auch aufseiten des jungen Menschen inkl. des aktuell vorhandenen sozialen Umfeldes. Das multiprofessionelle Team Positiv für die Arbeit mit herausfordernden Jugendlichen ist ein multiprofessionelles Team, bestehend aus pädagogischen, psychologischen und auch handwerklichen MitarbeiterInnen. Oft sind es die Handwerksmeister, die über die praktischen Tätigkeiten einen ersten Zugang zu diesen Jugendlichen erhalten. Unsere Jugendlichen weisen in der Regel „Pädagogenerfahrung“ auf und sind mit deren Verhaltensmustern und Artikulation bestens vertraut. Da überrascht der Handwerksmeister häufig durch neue, ihnen weniger bekannte Reaktionen oder klares Handeln. Beide Berufsgruppen lernen voneinander und ergänzen sich. Handlungssicherheit für Mitarbeitende durch Leitung Neben einer guten kontinuierlichen personellen Besetzung innerhalb des Gruppendienstes müssen Leitungskräfte den fachlichen Austausch gewährleisten und in Krisensituationen zur Seite stehen. Eine ständige Rufbereitschaft der Leitung muss vorhanden sein. Kurzfristig abrufbares Personal muss in der Krise unterstützend eingreifen können. Das externe Sicherheitsnetz Es braucht auch ein zuverlässiges externes Sicherheitsnetz. Unsere Kooperationsverträge mit der Polizei, den Gerichten und der Kinder- und Jugendpsychiatrie gehören zu den Rahmenbedingungen gelingender Arbeit. Gemeinsame Treffen auf Leitungs- und Mitarbeiterebene lässt diese Partnerschaften leben und sich weiterentwickeln. Zudem ist ein Verständnis für die Möglichkeiten und Grenzen der jeweils anderen Profession erforderlich. Der persönliche regelmäßige Austausch der Akteure lässt in Krisensituationen gemeinsam angemessen reagieren und Lösungen finden. Eine hohe Transparenz, Verlässlichkeit des Vereinbarten und eine offene Kommunikation bilden die Grundlage einer gelebten und funktionierenden Kooperation. Dabei muss auch für den zu betreuenden jungen Menschen deutlich sein, dass es einen Austausch der beteiligten Institutionen gibt und dass beispielsweise Straftaten angezeigt und strafrechtlich verfolgt werden. Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Clearing und Diagnostik Der Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie kommt eine hohe Bedeutung zu, da unsere Jugendlichen häufig psychiatrischen Behandlungsbedarf aufweisen. Es darf jedoch nicht zum Drehtüreffekt bei Jugendlichen führen. Vielmehr bedarf es einer klaren Aufgabenverteilung und jeder Bereich muss seinen Teil der Verantwortung übernehmen. Es kann nicht der Sinn einer Kooperation darin bestehen, den schwarzen Peter hin- und herzuschieben (Brünger/ Weissbeck 2015, 77f ). Eine Möglichkeit, die bereits in vielen intensivtherapeutischen Einrichtungen erfolgreich praktiziert wird, ist die aufsuchende Tätigkeit eines Kinder- und Jugendpsychiaters. Ein Schritt nach vorne wäre ein Setting, indem Clearing durch Jugendhilfe und Diagnostik durch Kinder- und Jugendpsychiatrie an einem Ort stattfinden würde, für den beide Professionen zuständig und verantwortlich sind. Je früher die Jugendhilfe ein klares Bild über 45 uj 1 | 2018 Delinquente Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe mögliche psychische Auffälligkeiten und den tatsächlichen Hilfebedarf des Einzelnen hat, desto geringer ist die Zahl von Abbrüchen und somit die weitere negative Entwicklung des jungen Menschen. Übergänge für und mit Jugendlichen gestalten Wenn deutlich wird, dass auch wir an unsere Grenzen stoßen oder innerhalb unseres Trägers keine geeignete weitere Jugendhilfemaßnahme greifen kann, wird in seltenen Fällen auch die Entscheidung einer Entlassung getroffen. Aber auch diese muss begleitet sein und mit dem Jugendlichen vorbereitet werden. Baumann spricht hier von der „Verpflichtung zur Mitarbeit an einer neuen Perspektive auch bei krisenhafter Beendigung“ (Baumann 2016, 184). Für uns ist es selbstverständlich, dass eine Entlassung gemeinsam mit dem Jugendlichen, dem Jugendamt, der Personensorgeberechtigten und der nachfolgenden Maßnahme geplant wird. Vorhandene Erkenntnisse, Muster und Problemlagen, die uns bei dem einzelnen jungen Menschen zu dieser Entscheidung geführt haben, werden transparent gemacht. Eine Entlassung sollte erst in Betracht kommen, wenn alle Versuche, auch in enger Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie, keine Veränderungen nach sich ziehen und es innerhalb des Verbundes kein alternatives Angebot gibt. Ausblick Bei all den Herausforderungen und Überforderungen mit sogenannten delinquenten jungen Menschen muss klar sein, dass dieser junge Mensch nicht gegen das System der Jugendhilfe und seine Mitarbeitenden an sich rebelliert, sondern jeder Einzelne um seine Zukunft kämpft. Dabei überschreitet er Grenzen, bricht Regeln und setzt sich über gesellschaftliche Werte und Normen hinweg und muss das bestehende Hilfesystem infrage stellen. Eine einseitige Betrachtung des problematischen Jugendlichen mit seinen negativen Verhaltensweisen und seinen Defiziten bringt uns nicht weiter (Burde 2015, 93f ). Es gibt nicht DAS Angebot für die Schwierigsten. Auch wir können nicht für jeden das passende Konzept vorhalten oder erarbeiten. Es ist jedoch wichtig, auch die auffälligsten Jugendlichen in bestehende Jugendhilfeangebote zu integrieren, ihre Äußerungsformen zu verstehen und ihnen die Zeit zu geben, die sie brauchen, sich zu entwickeln. Diese Kinder und Jugendlichen, egal ob delinquent oder gesellschaftskonform, brauchen einen verlässlichen Partner, dem sie vertrauen können und der ihre Geschichte kennt, ihre Stärken und Schwächen. Die Resilienzforschung sieht dies als einen der wichtigsten Faktoren für die menschliche Entwicklung. Baumann spricht in diesem Zusammenhang von einem Fallbetreuer, der einrichtungs- und jugendamtsunabhängig für den jungen Menschen verantwortlich ist (Baumann 2016, 188f ). Für uns würde der Begriff „Pate oder Patin“ die Aufgabe noch verständlicher machen. Einen Menschen, der ihnen möglichst während aller Maßnahmen zur Seite steht, unabhängig in welcher Lebens- und Wohnsituation sie sich gerade befinden. Es sollte uns gelingen, dass wir diese Kinder und Jugendlichen mit Haltung und Wissen „aushalten“. Uns sollte dabei klar sein, dass sie selbst die Erwachsenen oft nicht mehr aushalten. Warum auch? ! Anja Lange und Norbert Schweers Evangelisches Jugend- und Fürsorgewerk gemeinnützige AG Königsberger Str. 28 12207 Berlin Tel. (0 30) 76 88 42 05 E-Mail: info@ejf.de 46 uj 1 | 2018 Delinquente Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe Literatur AKJStat (2017): „Eckdaten zu aktuellen Entwicklungen in den Hilfen zur Erziehung“ (Präsentation). Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) im Forschungsverbund DJI/ TU Dortmund an der technischen Universität Dortmund, Folie Nr. 14. In: www.hzemonitor.akjstat.tu-dortmund.de/ fileadmin/ user_upload/ documents/ Praesentation_Eckdaten_ zu_den_Hilfen_zur_Erziehung_AKJStat__2017-03- 06_.pdf, 2. 10. 2017 Baumann, M. (2016): Kinder, die Systeme sprengen. Band 1: Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern, Schneider, Baltmannsweiler, Brünger, M., Weissbeck, W. (2015): Perspektiven der Delinquenzprävention im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: Deutsches Jugendinstitut e.V. (Hrsg.): Kriminalitätsprävention im Kindes- und Jugendalter, Band 13, München 67 - 86 Burde, B. (2015): Forschungsbericht. In dem Fall war der Systemsprenger, der Supersystemsprenger, eva, Stuttgart. In: www.eva-stuttgart.de/ fileadmin/ Re daktion/ 2_unsere_angebote/ kind_jugend_familie/ HzE_fuer_Systemsprenger_Forschungsbericht_20 15.pdf, 13. 9. 2017 Tornow, H., Ziegler, H., Sewing, J. (2012): Abbrüche in stationären Erziehungshilfen (ABIE). Praxisforschungs- und Praxisentwicklungsprojekt. Analysen und Empfehlungen (= EREV-Schriftenreihe 03/ 2012) Möller, H. (2015): Ergebnisse aus dem Projekt „Abbrüche in stationären Hilfen zur Erziehung“ (ABIE) - Positive und negative Wirkfaktoren. In: AGFJ Deutsches Institut für Urbanistik gGmbH (Hrsg.): Wissen was wirkt! Aktuelle Beiträge Zur Kinder- und Jugendhilfe 100, Berlin, 39 - 64 Rätz, R. (2015): Was tun, wenn Kinder und Jugendliche und Erziehungshilfen aneinander scheitern? Aktuelle Studienergebnisse. In: AGFJ Deutsches Institut für Urbanistik gGmbH (Hrsg.): Systemsprenger verhindern. Wie werden die Schwierigen zu den Schwierigsten? Aktuelle Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe 103, Berlin, 41 - 60
