unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2018
7010
Zur Diskussion: Autobiographie als Gesellschaftsanalyse
101
2018
Roland Merten
Kaum ein Buch hat in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften solche Furore gemacht wie Didier Eribons soziologische Analyse seiner eigenen Biographie. 17 Auflagen in eineinhalb Jahren - das ist nicht nur rekordverdächtig, sondern ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Was steckt in diesem Buch, insbesondere in sozialpädagogischer Perspektive?
4_070_2018_010_0441
441 unsere jugend, 70. Jg., S. 441 - 446 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art67d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zur Diskussion: Autobiographie als Gesellschaftsanalyse Zu Didier Eribons autobiographischen Schriften „Rückkehr nach Reims“ und „Gesellschaft als Urteil“ Kaum ein Buch hat in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften solche Furore gemacht wie Didier Eribons soziologische Analyse seiner eigenen Biographie. 17 Auflagen in eineinhalb Jahren - das ist nicht nur rekordverdächtig, sondern ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Was steckt in diesem Buch, insbesondere in sozialpädagogischer Perspektive? von Prof. Dr. Roland Merten Jg. 1960, Lehrstuhl für Sozialpädagogik und außerschulische Bildung an der Universität Jena Grenzen der Autobiographie Autobiographien taugen normalerweise wenig dazu, die sozialen Verhältnisse so auszuleuchten, dass sie über die Besonderheiten der jeweiligen Biographie hinaus eine gesamte Gesellschaftsanalyse tragen. Bei Didier Eribon ist das jedoch der Fall. Er präsentiert eine soziologisch aufgeklärte Beschreibung und Analyse seines Lebens, das ihn durch einen sozialen Aufstieg in eine doppelte Distanz zu seiner Herkunftsfamilie gebracht hat: Einerseits als Kind aus einer Arbeiterfamilie sowie andererseits als schwuler Junge aus der Provinz. Aber die Distanz zur bzw. die Entfremdung von der eigenen Familie durch ein akademisches Studium hat ihm zugleich die theoretischen Mittel in die Hand gegeben, (nach dem Tod seines Vaters) - zumindest intellektuell - den Weg zu den eigenen Ursprüngen zurück zu finden. Eribon lehrt heute Soziologie an der Universität in Amiens. Habitus Biographien sind immer auch das Ergebnis der sozialen Bedingungen, unter denen sie sich herausbilden. Eribon folgt mit dieser Einschätzung den soziologischen Analysen Pierre Bourdieus, der gezeigt hat, dass und wie sich die sozialen Bedingungen (Schicht) in den Biographien von Menschen manifestieren; der Begriff ‚manifestieren‘ ist hier ganz konkret zu verstehen: „Als Arbeiterkind spürt man die Klassenzugehörigkeit am ganzen Leib“ (Eribon 2016, 91). Das ganze weitere Leben ist durch die Art und Weise, wie dieses Leben weiter gestaltet werden kann, an die sozialen Ausgangsbedingungen gebunden. 442 uj 10 | 2018 Autobiographie als Gesellschaftsanalyse Menschen aus höheren sozialen Schichten haben bspw. eine deutlich höhere Lebenserwartung. Soziale Ungleichheiten schlagen sich also unmittelbar personal nieder. „Das Wort ‚Ungleichheit‘ ist eigentlich ein Euphemismus, in Wahrheit haben wir es mit nackter, ausbeuterischer Gewalt zu tun“ (Eribon 2016, 78). Eribon zeichnet dies an den geschundenen und verbrauchten Körpern der Menschen seines Herkunftsmilieus nach. Sie sind in physischer, aber (und besonders) auch in sozialer Hinsicht das Produkt und der Ausdruck ihrer Lebensbedingungen. Dadurch erlangt der Begriff der Sozialisation seinen ursprünglichen Sinngehalt wieder: „Wir sind so sehr Produkte der Ordnung der sozialen Welt, dass wir sie am Ende selbst reproduzieren“ (Eribon 2017, 63). Es ist der (Klassen-)„Habitus“ (Bourdieu), der dazu tendiert, sich in unterschiedlichen Praxen immer wieder Ausdruck zu verschaffen und sich zu reproduzieren, er wiederholt die ursprünglichen Lebensgewohnheiten. Aller Aufklärung zum Trotz wiederholen sich Vorlieben und Verhaltensweisen und beeinflussen unser Handeln bis in kleinste Alltagspraxen. Aufklärung Es sind Erkenntnisse der Soziologie, die es den Handlungssubjekten eröffnen, die Befangenheiten des Habitus‘ zu erkennen und zu durchbrechen; wenngleich dies kein einfacher, sondern ein höchst ambivalenter Prozess ist. „Der Zweck gesellschaftlicher Theorien besteht doch gerade darin, von den Handlungs- und Selbsteinschätzungslogiken der Akteure zu abstrahieren, um ihnen kollektive und individuelle Alternativen des Handelns und Wahrnehmens aufzuzeigen, damit sie ihre Rolle in der Welt nicht nur überdenken, sondern vielleicht sogar aktiv umgestalten“ (Eribon 2016, 45f ). Das ist Aufklärung im besten Sinne. Allerdings folgt aus der theoretischen Einsicht nicht unmittelbar eine veränderte (politische) Praxis. War bspw. die 68er-Bewegung - sowohl in Frankreich als auch in Deutschland - noch von der naiven Vorstellung getragen, dass das Proletariat gleichsam der Motor der gesellschaftlichen Veränderung sei, ist Eribon, der selbst der Arbeiterklasse entstammt, im Laufe seiner individuellen Erfahrung sowie seiner intellektuellen Entwicklung heute viel nüchterner bzw. ernüchtert worden. „Ich musste es einsehen: Sie arbeiteten nicht, um ‚Revolution‘ zu machen, sondern um ‚ihr Häuschen‘ bauen zu lassen“ (Eribon 2017, 200). Proletariat, das war für ihn nicht die empirische Wirklichkeit seines Herkunftsmilieus, sondern die theoretische Projektion auf eine gesellschaftliche Revolution, die ausgeblieben ist. „Das ‚Proletariat‘ war für mich eine Idee aus Büchern, eine abstrakte Vorstellung. Meine Eltern gehörten nicht in diese Kategorie. (…) Mein jugendlicher Marxismus war also ein Instrument meiner eigenen sozialen Desidentifikation. Ich glorifizierte die Arbeiterklasse, um mich leichter von den realen Arbeitern abgrenzen zu können“ (Eribon 2016, 81). Der Preis der Aufklärung ist die Entfremdung von den wirklichen Lebensbedingungen der eigenen Familie. Diese Aufklärung fordert(e) letztlich die emotionale, intellektuelle und materielle Entfremdung von der eigenen Herkunft. Und doch, diese Entfremdung ist keine vollständige, dennwenndas BildvomFundament in einer psychologischen oder soziologischen Analyse einen Sinn hat, dann in diesem Zusammenhang. „Das, wovon man losgerissen wurde oder sich losreißen wollte, bleibt Bauteil dessen, was man ist“ (Eribon 2016, 11). Die Spuren des (ursprünglichen) Habitus‘ lassen sich im weiteren Leben immer wieder identifizieren. Oder anders formuliert: „Unsere Vergangenheit ist noch immer unsere Gegenwart“ (Eribon 2016, 218). Aber es ist insbesondere in Familien aus den unteren sozialen Schichten eine verkürzte bzw. abgeschnittene Vergangenheit, die nicht weit zurückweist; in Arbeiterfamilien fehlt ein „Familiengedächtnis“. „Im Grund weiß ein Kind von seinen Eltern und seiner Familie nur sehr wenig. 443 uj 10 | 2018 Autobiographie als Gesellschaftsanalyse Nur durch geduldige und ausdauernde Recherche fördert man Dinge zutage, die nicht schon aus dem direkten, familieninternen Kontakt bekannt sind. Solche Recherchen stoßen schnell auf die große Abwesenheit von Dokumenten und Spuren. Es gibt keine Häuser oder Besitztümer, in die sie sich hätten einschreiben können …“ (Eribon 2017, 155). Soziale Ungleichheiten schlagen sich also nicht nur materiell nieder, sondern auch in der eigenen Lebensgeschichte; sie wirken umfassend. Schule Obgleich die Mechanismen schulischer Bildung zum Erhalt sozialer Ungleichheiten bekannt sind, werden sie bei Eribon wie im Brennglas gebündelt. „Die Funktion des Schulsystems scheint darin zu liegen, die Klassen so zu erhalten, wie sie sind, oder genauer: Den Abstand zwischen den Klassen über alle Veränderungen hinweg konstant zu halten“ (Eribon 2017, 183). Ulrich Beck (1986, 122) hat dieses Phänomen als „Fahrstuhleffekt“ bezeichnet: Steigende Bildung für alle bei gleichzeitiger (nahezu unveränderlicher) Konstanz der Ungleichheitsrelationen. Wie genau dieser Mechanismus funktioniert, darauf legt Eribon sein Hauptaugenmerk. Er macht deutlich, dass sich sozialer Aufstieg noch immer im Wesentlichen über Bildung bzw. Bildungszertifikate vollzieht. „Wenn es eine Institution gibt, welche die Existenz der sozialen Klassen anerkennt, registriert, absegnet und verstetigt, dann ist es das Schulsystem“ (Eribon 2017, 182). Allerdings sind diejenigen, die in dieser Hinsicht auf die Schule angewiesen sind, nämlich die Kinder unterer sozialer Schichten, am schlechtesten auf die Schule und ihre Anforderungen vorbereitet. „Ich musste kämpfen, und zwar zu allererst gegen mich selbst, um mir Fähigkeiten zuzusprechen und Rechte zu erschließen, die anderen von vornherein mitgegeben waren“ (Eribon 2016, 229). Das bedeutet zunächst, sich auf die Anforderungen der Schule - und zwar inhaltlich und normativ - einzulassen. Es geht nicht nur um kognitive Wissensbestände, die Schule vermittelt und abfordert, sondern auch darum, sich den sozialen Erwartungen anzupassen und die hier herrschenden Regeln letztlich bedingungslos zu akzeptieren.„Widerstand hätte meine Niederlage bedeutet, Unterwerfung war meine Rettung“ (Eribon 2016, 161; Eribon 2017, 235). Rebellion führt zum Ausschluss, Anpassung zum Erfolg! Das ist jedoch allein die Systemlogik, die auf diese Weise in den Blick gerät. Die erwähnte doppelte Anpassung an die Schule, die für Kinder der unteren sozialen Schichten den ‚Weg nach oben‘ öffnet, ist gleichzeitig mit sozialen Kosten verbunden, die üblicherweise nicht thematisiert werden, aber zu entrichten sind. „Wenn ich mich nicht selbst vom Schulsystem ausgrenzen wollte - beziehungsweise wenn ich nicht ausgegrenzt werden wollte -, musste ich mich aus meiner eigenen Familie, aus meinem eigenen Universum ausgrenzen. Die beiden Sphären zusammenzuhalten, zu beiden Welten gleichzeitig zu gehören, war praktisch unmöglich“ (Eribon 2016, 159). Hier werden die emotionalen, kognitiven und sozialen Barrieren für Kinder aus unteren sozialen Schichten hellsichtig analysiert, und die mit ihnen verbundenen Entfremdungsprozesse präzise herausgearbeitet. Sozialer Aufstieg ist nicht ‚kostenlos‘ zu haben. „Ich erlebte das Glück einer ‚Distinktion‘, die mich natürlich nicht nur von meinen Klassenkameraden abhob …, sondern auch von meinem Herkunftsmilieu und meiner Familie. Es war das Glück einer Unterscheidung und Abspaltung, in dem die Voraussetzungen und Versprechungen des sozialen Aufstiegs schon sichtbar wurden. All das ist nicht besonders ruhmreich, das gebe ich gerne zu. Aber vielleicht war es notwendig. Und es ist die Wahrheit. Ich muss sie aussprechen“ (Eribon 2017, 117). Bis in diese Formulierung schlägt sich die soziale Scham nieder, die der Aufsteiger gegenüber der eigenen Herkunft empfindet, wenn er die Systemzwänge der Abgrenzung von seiner Herkunft beschreibt. 444 uj 10 | 2018 Autobiographie als Gesellschaftsanalyse Nicht jeder erbringt die geforderten Leistungen, die kognitiven und die sozialen. Nicht jeder ist bereit, den geforderten Preis der Entfremdung zu zahlen. Auch wenn diese Anforderungen nicht offen ausgesprochen werden, so sind sie in ihrer Wirkung jedoch gnadenlos. „Die schulische Selektion mag sich heute zeitlich verschoben haben, in ihrer sozialen Struktur ist sie konstant“ (Eribon 2016, 45, 172f ). Ja mehr noch: Selbst dann, wenn soziale Aufsteiger sich vollständig auf die Systemlogik der Schule einlassen, heißt das nicht, dass sie bei gleichen Leistungen und gleichen Ergebnissen gleiche Erfolge erzielen. Gleiches ist hier eben nicht gleich! „Auch die scheinbar vollständige Gleichheit wird von einer Ungleichheit der Herkunft durchzogen“ (Eribon 2017, 189). Der vermeintlich gleiche Wert von Leistungen, ausgedrückt in gleichen Noten, schafft keine Gleichheit der (Lebens-)Chancen; diese wurden und werden (mehrheitlich) auf anderen Feldern und mit anderen Mitteln reguliert. Pierre Bourdieu hat deutlich gemacht, dass es auf die Mischung von „ökonomischem“, „kulturellem“ und „sozialem Kapital“ (Bourdieu 1982) ankommt; deren Kombination insgesamt entscheidet über Möglichkeit und Ausmaß des Erfolgs und damit des sozialen Aufstiegs. Während die Entfremdung von der eigenen Herkunftsfamilie für den potenziellen Aufsteiger (denn der Aufstieg ist lediglich ein Versprechen und keine Garantie) mit den Freuden des Kennenlernens neuer kultureller Welten sowie den Vorzügen späterer materieller und sozialer Anerkennung versüßt werden mag, so beinhaltet diese Entfremdung für die ‚Zurückbleibenden‘ keinerlei Gratifikationen, das macht Eribon noch einmal deutlich: „Wie unglücklich die Eltern sind, wenn ihre Kinder weggehen, ohne sich um die Trauer zu scheren, die dieser Weggang bei den Zurückbleibenden auslöst! “ (Eribon 2017, 261). Sie mögen sich über die Erfolge ihrer Kinder freuen, aber sind es dann noch ihre Kinder? (Eribon 2017, 123). Soziale Klassen Eribon zieht aus den eben dargestellten Desillusionierungen, die mit den vielfach zerplatzten Träumen des sozialen Aufstiegs verbunden waren und sind, politische Erklärungskraft für neue Phänomene. „Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die verlorene[n] Illusionen eines sozialen Aufstiegs, der sich als Stagnation entpuppte …, ganz wesentlich zu den Ressentiments beitrug, die weite Teile der damals noch linken Wählerschaft irgendwann in die Arme der Rechtsradikalen trieb oder für die Diskurse der traditionellen Rechte empfänglich machte …“ (Eribon 2017, 199, 232). Dass aus dieser Desillusionierung nun keineswegs automatisch oder gar zwangsläufig eine Offenheit für rechtsradikales Gedankengut resultiert, daran lässt auch Eribon keinen Zweifel. Es bedarf wohl noch weiterer Übersetzungsschritte, damit daraus ein erklärungskräftiger Zusammenhang wird. Er zeigt dies exemplarisch an der ‚aufgestiegenen Arbeiterschaft‘, die es vermeintlich geschafft hat, sich sozial zu verbessern. Ein kleines Eigenheim, eine eigene Wohnung: Der mit diesem aus eigener Kraft und mit eigener Arbeit erwirtschaftete Aufstieg sowie der damit verbundene Stolz ist in den zurückliegenden Jahrzehnten angegriffen worden. Eribon zeichnet diesen Prozess nach, indem er die Veränderung der ehemaligen Arbeitersiedlungen in ihrer Sozialstruktur rekonstruiert. Vormals attraktive Wohnblöcke und Arbeitersiedlungen haben sich im Laufe der Jahre in ihrer sozialen Zusammensetzung verändert. Insbesondere in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität sind finanzstärkere Bevölkerungsschichten weggezogen und finanzschwächere, namentlich ausländische Familien mit anderen kulturellen Traditionen nachgezogen. Das hat die Wahrnehmung der ‚Zurückbleibenden‘ - sowohl von sich selbst als auch von den Neuankömmlingen - nachhaltig verändert. „Jede Selbstwahrnehmung ist relational, man kann diese ‚Relationalität‘ aber in verschiede- 445 uj 10 | 2018 Autobiographie als Gesellschaftsanalyse nen Registern und auf verschiedenen Ebenen erleben. Meine Eltern waren an dem Punkt angekommen, wo sie ihre Position in der sozialen Welt fast nur noch eindimensional, durch den Bezug zu ihren Nachbarn erfassten. Wenn sie ‚die da‘ sagten oder von ‚denen‘ sprachen, dann meinten sie damit keine Bürgerlichen oder Reiche, keine Bosse oder Politiker, von denen sie verdrängt, ignoriert, verachtet worden waren, und gegen die sie sich hätten auflehnen wollen, sondern sie meinten die Maghrebiner und Afrikaner, die ‚ihren‘ Raum überfallen hatten. Wenn sie ‚wir‘ sagten, dann meinten sie damit nicht mehr die ‚Arbeiter‘ oder die einfachen Leute, sondern die ‚Franzosen‘, die sich gegen diese ‚Invasion‘, gegen die ‚umgekehrte Kolonisation‘ zur Wehr setzen sollten“ (Eribon 2017, 55, 133ff ). Es fällt nicht schwer, hier Parallelen zu Deutschland zu ziehen. Auch wenn es sachlich nicht nur falsch ist, sondern letztlich gegen die eigenen Interessen läuft, die eigenen Benachteiligungen entlang ethnischer Grenzenziehungen zu bestimmen, so sind sie für staatliches Handeln gleichwohl bedeutsam, denn sie sind politisch wirkmächtig. Die politischen Entwicklungen in Europa und insbesondere im Jahr 2008 in Deutschland geben hier in besorgniserregendem Maße Auskunft. Mit Blick auf seine Eltern ist für Eribon klar: „Sie konnten es nicht ertragen, in eine Welt zurückgestuft zu werden, die sie ihr ganzes Leben lang durch harte Arbeit hatten verlassen wollen: in die Welt der Armen“ (Eribon 2017, 54f ). Hier zeichnen sich gerade keine Solidaritäten ab, sondern lediglich Abgrenzungen - und Ausgrenzungen. Von einem „Klassennarzissmus des Proletariats“ (Sloterdijk 1983, 153) kann hier keine Rede mehr sein. Die Grenzlinie verläuft längst nicht mehr entlang der Grenze ‚Privilegierte vs. Benachteiligte‘ (oder ‚Bourgeoisie vs. Proletariat‘), sondern entlang der Grenze ‚Autochthone Bevölkerung vs. Zuwanderer‘. Das ist ein schwieriges politisches Gemisch, das sich wohl nur durch eine überzeugende sozialpolitische Antwort einigermaßen entschärfen lässt. Sicher ist dieses „Heilmittel“ allerdings nicht. Sozioanalyse Eribons Bücher sind keine Psychoanalyse des Sozialen, sie sind eine Sozioanalyse der Psyche. Er bricht mit der personalisierenden und individualisierenden Vorstellung von Subjektivität und arbeitet stattdessen (materialistisch) die sozialen Bedingungen der Möglichkeit von Subjektivität heraus. „Denn im Reich von Ödipus wird die Analyse des Subjektivierungsprozesses desozialisiert und depolitisiert. Die Familienszenerie verdeckt dort all jene Elemente, die auf den historischen und geografischen (oder urbanistischen) Gegebenheiten und damit auf dem Leben in sozialen Klassen beruhen“ (Eribon 2016, 88). Dadurch gewinnen Verhaltensweisen möglicherweise einen anderen Sinngehalt, weil sie als Ausdruck von bzw. als Reaktion auf die objektiven (materiellen) Bedingungen verstanden werden können. Denn diese äußeren Bedingungen wirken sozialisatorisch, sie formen den Habitus. Oder in der sozialpädagogischen Diktion Paul Natorps formuliert: „Die Sozialpädagogik hat als Theorie die sozialen Bedingungen der Bildung und die Bildungsbedingungen des sozialen Lebens zu erforschen“ (Natorp 1894, 62f ). Und diese Aufgabe ist keineswegs erledigt, sondern unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder neu zu leisten. Fazit Die Beherrschung des theoretischen Instrumentariums, die eigene Biographie im Lichte soziologischer Aufklärung selbstkritisch zu analysieren, bedeutet nicht zugleich, die eigenen emotionalen Befangenheiten abzulegen. Didier Eribon überwindet die emotionale Distanz zur und die Entfremdung von der eigenen Herkunft letztlich nicht - trotz seiner klugen soziologischen Analyse. Immer bleibt beim Leser ein Unbehagen über (latente) Abgrenzungen von der eigenen Herkunft. Das schmälert den Ertrag dieser beiden Bücher nicht, vielmehr signalisiert diese Befangenheit auch das Recht einer Psychoanalyse angesichts der überzeugend vorgetragenen Sozioanalyse. Die Texte 446 uj 10 | 2018 Autobiographie als Gesellschaftsanalyse Eribons sind in höchstem Maße instruktiv - besonders für sozialpädagogische Fallarbeit und Fallanalysen. Sie öffnen den Blick für die Notwendigkeit und die Möglichkeit sozialpädagogischer Analysen und Interventionen, die sich nicht allein auf individuelle Abweichungen oder personale Hilfebedarfe festlegen lässt. Prof. Dr. Roland Merten Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Erziehungswissenschaft Am Planetarium 4 07737 Jena E-Mail: roland.merten@uni-jena.de Literatur Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt am Main Eribon, D. (2017): Gesellschaft als Urteil. Suhrkamp, Berlin Eribon, D. (2016): Rückkehr nach Reims. Suhrkamp, Berlin Natorp, P. (1894): Religion innerhalb der Grenzen der Humanität. Ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogik. Freiburg/ Leipzig Sloterdijk, P. (1983): Kritik der zynischen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main
