eJournals unsere jugend 70/10

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art62d
101
2018
7010

Berufliche Realität - ASD in Not

101
2018
Thora Ehlting
Sophie Klaes
Kathinka Beckmann
Die bundesweite Bottom-up-Studie zeigt, den Fachkräften in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) fehlen essenzielle Bedingungen: fundierte Einarbeitung, angemessene räumliche und technische Ausstattung, genug Zeit in der konkreten Arbeit mit den AdressatInnen, Beteiligungsstrukturen für die MitarbeiterInnen sowie das Wissen um strukturelle Verflechtungen des Arbeitgebers.
4_070_2018_10_0003
402 unsere jugend, 70. Jg., S. 402 - 409 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art62d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Berufliche Realität - ASD in Not Die Herausforderung sozialpädagogischer Arbeit heute Die bundesweite Bottom-up-Studie zeigt, den Fachkräften in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) fehlen essenzielle Bedingungen: fundierte Einarbeitung, angemessene räumliche und technische Ausstattung, genug Zeit in der konkreten Arbeit mit den AdressatInnen, Beteiligungsstrukturen für die MitarbeiterInnen sowie das Wissen um strukturelle Verflechtungen des Arbeitgebers. von Thora Ehlting Sozialpädagogin/ Sozialarbeiterin M. A., wissenschaftliche Mitarbeiterin und Studiengangskoordinatorin im Studiengang „B. A. Bildung & Erziehung+ (dual)“ an der Hochschule Koblenz Zielsetzung der Studie Bei der Betrachtung von Expertenrunden zum Kinderschutz und/ oder zur Jugendamtsarbeit fällt auf, dass die pädagogischen Fachkräfte als zentrale Akteure entweder in der Unterzahl oder gar nicht vertreten sind, so dass die Diskussionen meist fachfremd von MedizinerInnen, JuristInnen oder politischen Akteuren dominiert werden. Dies führt dazu, dass der ASD selten in seiner Gesamtheit und in seiner speziellen Ausgestaltung in den Blick genommen wird (Merchel 2015, 2). Erschwerend kommt hinzu, dass es zwar Studien zu bestimmten Themen in einzelnen Jugendämtern gibt, es aber an belastbarem Datenmaterial zu den konkreten Arbeitsbedingungen der ASDler mangelt. Vor diesem Hintergrund kam es im Sommer 2016 gemeinsam mit der Amtsleiterin und der Abteilungsleiterin des ASD vom Jugendamt Berlin Mitte zu ersten Überlegungen und schließlich zu dem Entschluss, mittels einer bundesweit angelegten Befragung der pädagogischen Fachkräfte eine Ist-Zustandsbeschreibung der Struktur- und Prozessqualität in der Bezirkssozialarbeit zu liefern. Sophie Klaes Pädagogin M. A., wissenschaftliche Mitarbeiterin und Studiengangskoordinatorin im Studiengang „Pädagogik der Frühen Kindheit“ an der Hochschule Koblenz Prof. Dr. Kathinka Beckmann Professorin für Pädagogik der Frühen Kindheit an der Hochschule Koblenz 403 uj 10 | 2018 Berufliche Realität im ASD Das Jugendamt, somit auch der ASD, ist ein Fachamt der Kommune. Daher bilden sowohl die relevanten Gesetze als auch die kommunalpolitische Wirklichkeit den Rahmen für die sozialpädagogische Tätigkeit der Mitarbeitenden im ASD und beeinflussen damit auch die Ausstattung mit Personal und Finanzen. Aufgrund dieser kommunalen Ausgestaltung gibt es zwischen den 563 Jugendämtern in Deutschland große Unterschiede in der Ausübung des gesetzlichen Auftrags (Wächter-, Beratungs- und Vermittleramt). Vor diesem Hintergrund stand die Untersuchung folgender Thesen im Fokus: These 1: Die aktuellen Rahmenbedingungen im ASD behindern eine professionelle sozialpädagogische Arbeit. These 2: Ein in einer sozialpädagogischen Professionalität eingeschränkter ASD konterkariert den Grundgedanken des KJHG. Getragen wurde der Forschungsprozess von dem Wunsch aller Beteiligten, die Debatte über „die Jugendämter“ theoretisch zu bereichern und empirisch zu fundieren, wobei von Beginn an feststand, „dass ausgehend von den Erfahrungen einer meist fachfremd geführten Debatte, nicht erneut über die Jugendamtsmitarbeiterinnen gesprochen wird, sondern sie selbst zu Wort kommen sollen“ (Beckmann u. a. 2018, 9). Vorgehen Eine „methodisch kontrollierte, nachprüfbare und nachvollziehbare Erzeugung von Wissen über die soziale Wirklichkeit, die für die Profession Soziale Arbeit bedeutsam ist“ (Schefold 2012, 1123), wird als sozialpädagogische Forschung verstanden. Die Studie, bestehend aus einem quantitativen Teil (Fragebogenerhebung) sowie einem qualitativen Teil (Experteninterviews), erstreckte sich über den Zeitraum Oktober 2016 bis März 2018. Nach dem Fragebogen-Pretest wurden die ASDler von April bis August 2017 mit Hilfe des Fragebogens in drei Erhebungswellen befragt. Im Anschluss daran erfolgte von August bis November 2017 die Durchführung der Interviews. Beide Instrumente zielten auf eine möglichst repräsentative Streuung (z. B. geografische Verteilung, Größe der Jugendämter) ab. Bei der Stichprobenauswahl ist „darauf zu achten, dass die Stichprobe ein möglichst getreues Abbild der Gesamtpopulation ist. Dies erreicht man insbesondere durch zufällige Stichproben, wobei zufällig nicht mit willkürlich gleichzusetzen ist, sondern beispielsweise meint, dass jede statistische Einheit dieselbe Chance hat, in die Stichprobe aufgenommen zu werden“ (Fahrmeier u. a. 2016, 13). Zur statistischen Auswertung der Fragebögen wurde die Software SPSS eingesetzt, die 13 Interviews wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse, unterstützt durch das Programm MAXQDA, ausgewertet. Im Erhebungszeitraum wurden 377 der 563 Jugendämter angeschrieben und zusätzlich eine Online-Version u. a. auf Facebook eingestellt. Im Zuge der postalischen Erhebung wurden jeweils fünf Fragebögen mit einem adressierten und frankierten Rückumschlag versendet, um die Schwelle zur Teilnahme an der Befragung möglichst gering zu halten (Beckmann u. a. 2018, 47). Ergebnisse Insgesamt haben sich 652 MitarbeiterInnen aus 175 Jugendämtern (inklusive der neun ASD aus dem Pretest) an der quantitativen Befragung beteiligt, weitere 13 stellten sich für Interviews zur Verfügung. Die Aussagekräftigkeit der Studie in Bezug auf das Bundesgebiet ergibt sich aus der Verteilung der Stichprobe, die dem relativen Anteil an der Grundgesamtheit entspricht (Beckmann u. a. 2018, 51). 404 uj 10 | 2018 Berufliche Realität im ASD Einarbeitung neuer Kolleginnen und Kollegen MitarbeiterInnen aus allen Feldern der Sozialen Arbeit leisten Emotionsarbeit; der Unterschied zu anderen pädagogischen Settings ergibt sich für den ASD jedoch aus der Komplexität des Handlungsauftrags des ASD. Es gilt Zusammenhänge und Wechselwirkungen problematischer Lebensbedingungen von Kindern und ihren Familien bei oft nur begrenzten Einblicken in die Situation zu verstehen, um auf dieser Grundlage Hilfestrategien zu entwickeln. Die Fachkräfte ermöglichen insbesondere Kindern Schutz vor Gefahren und lösen in diesem Zusammenhang unter Umständen massive Eingriffe in die Privatsphäre von Familien aus. Auch eröffnen oder verweigern sie dem Adressatenkreis sozialstaatliche Leistungen. Somit ist die Einschätzung von Situationen das Kerngeschäft des ASD. Um diese hohe Verantwortung professionell ausgestalten zu können, werden im ASD bestmöglich qualifizierte MitarbeiterInnen benötigt. Vor diesem Hintergrund sind die Befunde zur Einarbeitungssituation alarmierend, denn 32 % der ASD haben kein Einarbeitungsmodell und bei 56 % ist die Einarbeitungszeit kürzer als drei Monate. Besonders eindrücklich zeigt sich die vielerorts offensichtlich unzureichende Einarbeitungsphase anhand folgender Aussage einer Fachkraft „[…] man das Gefühl hat, man wird ins kalte Wasser jedes Mal geschmissen“ (Beckmann u. a. 2018, 53). Räumliche und technische Ausstattung Kernaufgabe im ASD ist nicht nur das Wächteramt im Kinderschutz, sondern die Beratung in familiären Konfliktsituationen und die Vermittlung von Hilfesuchenden in spezifische Unterstützungsangebote. Bei genauerer Betrachtung wird offensichtlich, dass es in der Arbeit im ASD meist um sensible Themen und damit verbunden um sensibel zu führende Gespräche zwischen den Fachkräften und AdressatInnen geht. Die beteiligten GesprächspartnerInnen brauchen einen geschützten Rahmen, um eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre schaffen zu können. Aus diesem Grund hat das Forscherteam die räumlich-technische Ausstattung der ASD in den Blick genommen und ist vielfach auf eine unzureichende Ausstattung gestoßen: Gut ein Drittel der ASDler sehen sich mit dem Problem konfrontiert, dass sie diesen geschützten Rahmen nicht bieten können, da sie kein Einzelbüro haben und viele auch nicht in einen Besprechungsraum ausweichen können. Die vielfach beklagte schlechte Erreichbarkeit des ASD für die AdressatInnen resultiert u. a. aus der unzureichenden Ausstattung der pädagogischen Fachkräfte mit Diensthandys, da nur ein Viertel der Befragten über ein solches verfügt. Manche wünschen sich auch einfach „einen Drucker, der funktioniert“ (Beckmann u. a. 2018, 58). Zu wenig Zeit Gemäß Kinder- und Jugendhilfestatistik verantworten aktuell insgesamt 13.996 ASD-Fachkräfte bundesweit rund 1,08 Millionen Hilfen zur Erziehung (HzE), also ambulante und stationäre Maßnahmen (Statistisches Bundesamt 2018). In Abhängigkeit von der kommunal bedingten Organisation des jeweiligen Jugendamtes kommen für die SozialarbeiterInnen vor Ort u. a. die Durchführung von Inobhutnahmen, die Fallfederführung in allen Kinderschutzfällen sowie die Trennungs- und Scheidungsberatung hinzu. In vielen Jugendämtern sind in den letzten Jahren zusätzliche Stellen geschaffen worden, dennoch gehen die Fallzahlsteigerung und die damit verbundene Arbeitsverdichtung in den meisten Fällen über diese Zuwächse hinaus. Eine Fallzahl von 35 laufenden Fällen ab Einsatz einer HzE hält die Bundesarbeitsgemeinschaft der ASD/ KSD (Kommunaler Sozialer Dienst) für eine Vollzeitstelle für professionell angemessen - das Forscherteam hat jedoch in vielen ASD eine sehr viel höhere Fallzahlquote (meist zwischen 50 und 100 Fällen, in Ausnahmen auch weit über 100) angetroffen. Dies geht mit weniger Zeit vor Ort und für wichtige Gespräche mit den Kindern und Familien zwecks Fallverstehen im Kontext sozialpädagogischer Diagnostik einher. 405 uj 10 | 2018 Berufliche Realität im ASD Die Fallverteilung findet zu 70 % nach Meldebezirken und nur zu 18 % entlang von Kapazitäten statt, sodass die Fallzahlbelastung auch innerhalb eines ASD von MitarbeiterIn zu MitarbeiterIn stark variieren kann. Häufig wird der Zuständigkeitswechsel in der Fallbearbeitung kritisiert, dieser liegt bei einmaligem Zuständigkeitswechsel bei 25 %. Bei weiteren 17 % wechselt die Zuständigkeit mehr als dreimal pro Fall. Die am häufigsten genannten Gründe dafür sind die MitarbeiterInnenfluktuation und der Umzug von Klienten (Beckmann u. a. 2018, 56). Neben der Fallzahlbelastung und der hohen MitarbeiterInnenfluktuation benennen die Befragten fast ausnahmslos den gestiegenen Dokumentationsumfang als problematisch. Die Studie veranschaulicht, dass die Fachkräfte knapp zwei Drittel ihrer Zeit mit Dokumentation am Schreibtisch verbringen statt in Gesprächen mit ihren Adressatinnen und Adressaten. Den Ergebnissen der Fragebogenerhebung zufolge schätzen 40 % der Befragten mindestens die Hälfte der Dokumentation als überflüssig ein. Nicht allein der Umfang ist als problematisch einzustufen, viel alarmierender ist, dass drei Viertel der Befragten der Auffassung sind, dass die Dokumentation vor allem der eigenen rechtlichen Absicherung diene und weniger der professionellen Falleinschätzung. Diese Feststellung wird besonders deutlich anhand folgender Aussage: „Die Anforderungen des Arbeitgebers sind ganz klar ,Dokumentation und Absicherung‘ und meine eigenen sind aber eher mit den Klienten in Kontakt zu sein, ein Gespräch lieber noch einmal mehr zu führen oder einen Hausbesuch mehr machen, als mich hier mit Ankreuzbögen hinzusetzen“ (Beckmann u. a. 2018, 127). Beteiligung der KlientInnen und der MitarbeiterInnen Das KJHG spricht jedem jungen Menschen das Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu (§ 1 SGB VIII). Mit Ratifizierung der Kinderrechtskonvention im Jahr 1992 wurde ihnen darüber hinaus das Recht zugesprochen, dass sie ihre Meinung in allen sie betreffenden Angelegenheiten frei äußern können und dass diese angemessene Berücksichtigung findet. Das KJHG unterstreicht diese Ansprüche in den §§ 8 und 36 SGB VIII. Mit dem Bundeskinderschutzgesetz kam im Jahr 2012 das Recht auf Beschwerde hinzu (§§ 8 b und 45 Abs. 2 SGB VIII). Das Forscherteam definierte für die Studie „Beteiligung als kontinuierliche Mitbestimmung am Hilfeprozess“ und fragte im quantitativen Teil die Zustimmung dafür ab. Mit Blick auf die Kinder stimmten 32 % der befragten Personen voll und 60 % eher zu; für die Kinder mit Beeinträchtigung lag der volle Zustimmungswert bei 25 % und der der eingeschränkten Zustimmung bei 61 %. Insgesamt ist es also eine satte Mehrheit der Fachkräfte, die der Beteiligung einen großen Stellenwert einräumt. Allerdings reicht es nicht aus, Beteiligung nur zu wollen, vielmehr müssen die MitarbeiterInnen auch in der Lage sein, diese für die Kinder und Jugendlichen auszugestalten. Der qualitative Teil illustriert deutlich, dass die Interviewten die Mitbestimmung durchaus unterschiedlich auslegen: „Also ich finde, es gibt Altersstufen, […] da ist es einfach wichtig, auch Entscheidungen für die Kinder zu treffen.“; „Also dass es schon darum geht, Eltern und Kindern, die Bedürfnisse äußern, das eben auch wahrzunehmen, ernst zu nehmen und dann mit einzubinden in die Hilfekonstrukte“; „Ich finde es auch manchmal eine Zumutung für die Kinder, wenn die dann noch mit mir sprechen müssen, […]“ (Beckmann u. a. 2018, 103 und 111). Die Frage nach Beschwerdemöglichkeiten zeigt auf, dass diese in vielen Jugendämtern vorhanden sind. Allerdings ist bei 104 der 652 Befragten für die Kinder keine Beschwerdemöglichkeit installiert und 88-mal fehlt diese auch für die Sorgeberechtigten. Die häufigsten Möglichkeiten zur Beschwerde haben Sorgeberechtigte und Kinder in Form einer persönlichen Ansprechperson oder einer Telefonoption. Weniger häufig stehen AnsprechpartnerInnen online zur Verfügung, ebenso wie Formulare, anonyme 406 uj 10 | 2018 Berufliche Realität im ASD Boxen oder Ombudstellen. Die Studie fragte ebenfalls die Beschwerdemöglichkeiten für die Fachkräfte ab: 14 % der Befragten geben an, dass sie vor Ort keine Möglichkeiten zur Beschwerde haben, und weitere 24 % wissen nicht, ob sie selbst über solche verfügen. Dieses Ergebnis ist beunruhigend, da es für die Arbeitszufriedenheit ein wichtiges Kriterium sein kann, auf wahrgenommene Missstände und Fehlentwicklungen aufmerksam machen zu können, und eben das steht einem Drittel der Fachkräfte vor Ort nicht zur Verfügung. Der Blick auf die Ergebnisse zeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Angebot zur Beschwerde für Kinder/ Sorgeberechtigte und eigenen Beschwerdemöglichkeiten gibt, da Fachkräfte ohne eigene Beschwerdemöglichkeiten auch dreimal so häufig keine Beschwerdemöglichkeiten für die Klienten anbieten (s. Abb. 1). Im Zusammenhang mit der Beteiligungs- und Beschwerdethematik ist die Fokussierung der fehlenden Fachaufsicht über die Jugendämter von Interesse, wobei in der Untersuchung zunächst wenig überraschend festgestellt werden konnte, dass viele MitarbeiterInnen mit dem Terminus „Fachaufsicht“ eine Kontrolle ihrer selbst assoziieren und eine solche von daher ablehnen. Fachaufsicht benennt jedoch eine unabhängige, externe fachliche Instanz (ähnlich der Bundesärztekammer), die dazu im Stande ist, die Qualität der sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Arbeit einzuschätzen. De facto gibt es außer in Hamburg keine Fachaufsicht über die deutschen Jugendämter. Hier wurde die Jugendhilfeinspektion als Instrument der Fachaufsicht im Januar 2013, angesiedelt beim Amt für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, eingeführt. Vielen Fachkräften ist jedoch gar nicht bewusst, dass die Jugendämter keinerlei Fachaufsicht unterliegen. Die meisten gehen davon aus, dass sie von dem jeweils zuständigen Landesjugendamt beaufsichtigt werden, da dieses für die Vergabe der Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII verantwortlich ist. Wissen um strukturelle Verflechtungen Das Recht und die Pflicht zur Selbstverwaltung der Kommunen sind im Grundgesetz geregelt. Für diese Aufgabe steht ein enger finanzieller Rahmen mit beschränkten Einnahmemöglichkeiten zur Verfügung. Neben dem Selbstverwaltungsprinzip sind die Gemeindeparlamente auch dem Sozialstaatlichkeitsprinzip verpflichtet und müssen dementsprechend eine gerechte Ausgestaltung des Sozialen vor Ort gewährleisten. Diesem Auftrag folgt ein Ausloten von finanziell Machbarem und ehrenamtlichem bzw. privatem Engagement unter Einbezug der lokalen Gegebenheiten. Die befragten Fachkräfte geben an, dass 54 % in ihrer Arbeit eine Abhängigkeit von der kommunalen Kassenlage spüren. In den Interviews kristallisierte sich heeigene Beschwerdemöglichkeit vorhanden keine eigene Beschwerdemöglichkeit vorhanden 0 10 20 30 40 9,9 8,5 35,6 29,9 keine Beschwerdemöglichkeit für Sorgeberechtigte keine Beschwerdemöglichkeit für Kinder Abb. 1: Darstellung des Zusammenhangs zwischen dem Vorhandensein eigener Beschwerdemöglichkeiten und den fehlenden Angeboten für Beschwerdemöglichkeiten für Sorgeberechtigte und Kinder (Angaben in %; bezogen auf jeweils 100 % der Antworten der jeweiligen Kategorie zu den eigenen Beschwerdemöglichkeiten). 407 uj 10 | 2018 Berufliche Realität im ASD raus, dass die Fachkräfte diesem Druck nicht zwangsläufig nachgeben. Es zeigt aber auch, wie notwendig das Wissen um diese strukturellen Gegebenheiten ist, damit sie ihre fachlich basierte Entscheidung für eine bestimmte (kostenintensive) Hilfeleistung auch gegenüber fiskalischen Zwängen durchsetzen können. Faktoren, die sich zusätzlich auf die Entscheidung der Hilfegewährung hinderlich auswirken können, sind z. B., dass bei 25 % der Befragten geeignete Kinder- und Jugendhilfeträger vor Ort fehlen oder dass die wirtschaftliche Jugendhilfe bei 138 Befragten an der Entscheidung für die Hilfemaßnahmen beteiligt ist. Bei 38 % sind sowohl der individuelle Bedarf als auch das finanzielle Budget Grundlage für die Entscheidung und nicht, wie im SGB VIII vorgegeben, ausschließlich der individuelle Bedarf. Dazu schreiben Wiesner und Schmid-Obkirchner: „Praktiken, nach denen sich Vorgesetzte (Abteilungsleiter, Jugendamtsleiter, Dezernenten oder Landräte) ggf. sogar aus fachfremden Erwägungen ein generelles Letztentscheidungsrecht vorbehalten, sind mit den Grundsätzen der Hilfeplanung nicht vereinbar und insofern gesetzeswidrig“ (Wiesner/ Schmid-Obkirchner 2011, zit. in Nonninger/ Meysen 2015, 92). Lösungsvorschläge Die Bottom-Up-Studie spiegelt deutlich die zugenommene Arbeitsverdichtung der letzten Jahre im ASD wider. Allein der Blick auf die Fallzahlen zeigt, dass die meisten Fachkräfte trotz erfolgter Personalaufstockungen in den Jugendämtern jenseits der von der BAG ASD/ KSD als fachlich tragbar erachteten Fallzahlgrenze von 35 laufenden HzE-Fällen pro Vollzeitstelle arbeiten. Hinzu kommt, dass häufig Stellen im ASD unbesetzt bleiben, da es an (geeigneten) Bewerberinnen und Bewerbern fehlt. So ist in Berlin beispielsweise jede siebte Stelle unbesetzt, in Hamburg sind 20 % der Stellen frei (Vieth-Entus 2017; Kutter 2017); in anderen Bundesländern ist die Situation ähnlich. Der Deutsche Beamtenbund forderte in diesem Zusammenhang die Schaffung von 3.000 zusätzlichen Stellen in den Jugendämtern (Spiegel Online 2018). Die Fallzahlbelastung wurde in den Interviews häufig im Zusammenhang mit erlebter Fluktuation oder hohem Krankenstand thematisiert. In der Analyse der Ergebnisse zur Fallzahlbelastung war die Art der Fallverteilung auffällig, da nur 18 % der ASD nach Kapazität verteilen. Eine mögliche Entlastung bzw. gleichmäßigere Arbeitsbelastung könnte in diesem Bereich schnell durch die ASD-Teams selbst erreicht werden, indem sie die Fallverteilung künftig anhand von Kapazitätsgrenzen oder -ressourcen vornehmen. Diese Umstrukturierung entlässt die Politik jedoch nicht aus ihrer Verantwortung, die Qualitätssicherung in der Fachkräfteausstattung anzugehen, indem eine gesetzliche Fallzahlobergrenze für den ASD analog der Forderung der BAG ASD/ KSG erfolgt. Um diesem Anliegen mehr Nachdruck zu verleihen, könnten z. B. die 563 Amtsleitungen der Jugendämter die Forderung nach einer Fallzahlgrenze unterstützen. Kerngeschäft des ASD ist die Einschätzung von Situationen. Einfluss darauf hat die Erfahrung der Fachkraft. Entscheidungen müssen auf einer oft unbefriedigenden Grundlage von begrenzten Einblicken in die Situation und diffuser Eindrücke getroffen werden, die aber gravierende Auswirkungen auf Familien nach sich ziehen können. Eine qualitativ hochwertige Ausübung der Tätigkeit basiert auf der Fachkompetenz der ASD-MitarbeiterInnen. Es liegt also auf der Hand, dass BerufseinsteigerInnen kompetent und geduldig eingearbeitet und in der Entwicklung ihres beruflichen Selbstverständnisses durch im besten Sinne routinierte Kolleginnen und Kollegen unterstützt werden müssen (Beckmann u. a. 2018, 126). Eine fundierte Einarbeitung braucht schlichtweg ausreichend Zeit. Auf dem Kongress „ASD in Not“ forderten die aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten Fachkräfte eine Einarbeitungsdauer von mindestens sechs Monaten für BerufseinsteigerInnen. An dieser Stelle kann ein Zusammenhang zur Fallzahlbelastung der Mitarbeitenden ausgemacht werden: Durch die 408 uj 10 | 2018 Berufliche Realität im ASD hohen Fallzahlen, z. T. auch bedingt durch einen hohen Krankenstand und/ oder unbesetzte Stellen, sind viele bereits überlastet. Ihnen fehlen folglich die Ressourcen für eine Einarbeitung neuer KollegInnen, so dass die Einarbeitungssituation ebenfalls eine Belastung darstellt. Eine Möglichkeit der Entlastung von MitarbeiterInnen, welche die verantwortungsvolle Aufgabe der Einarbeitung neuer KollegInnen übernehmen, wäre eine Fallzahlreduzierung für den Zeitraum der Einarbeitung. Eine weitere Belastung ist der Dokumentationsaufwand im ASD, der mit der Aufgabenerweiterung gestiegen ist. Dies zeigt sich insbesondere im Kinderschutz im Bereich der Gefährdungseinschätzung. Dokumentation war immer für die sozialpädagogische Diagnostik und die Legitimation von Entscheidungen notwendiger Teil der Arbeit im ASD - neu ist jedoch der Umfang. Um zu einer Dokumentation mit dem Ziel des sozialpädagogischen Fallverstehens zurückzukehren, ist es an den Landesjugendämtern und Jugendamtsleitungen, die Einschätzungsbögen und den Dokumentationsaufwand insgesamt kritisch zu prüfen und zu modifizieren. Neben den bisher aufgeführten Faktoren ist auch die räumlich-technische Ausstattung bedenklich. Eine gelingende Arbeit im ASD setzt, wie bereits ausgeführt, ein geschütztes Setting voraus. Durch eine unzureichende Bürosituation bzw. die zu geringe Zahl an Besprechungsräumen sind die Fachkräfte in ihrer wichtigen Funktion als Beratungsinstanz allein dadurch eingeschränkt, dass sie keinen vertraulichen, geschützten Gesprächsrahmen schaffen können. Gemäß § 79 SGB VIII müssen die jeweiligen Jugendämter von den Kommunen mit Ressourcen ausgestattet werden. Allein die baulich-technische Ausstattung vieler Jugendämter illustriert die Schattenseite der kommunalen Selbstverwaltung. Die Beteiligung der Adressaten ist seit dem 8. Jugendbericht eine pädagogische Strukturmaxime lebensweltorientierter Sozialer Arbeit und seit Einführung des KJHG rechtlich vorgeschrieben. Doch wie sieht es mit der Beteiligung der MitarbeiterInnen selbst aus? Der Blick auf die vielerorts intensiv geführte Partizipationsdebatte offenbart eine Dissonanz, da die eigene Beteiligung von MitarbeiterInnen im Handlungsfeld, in der Verwaltung und bei entscheidungsrelevanten Debatten kaum Beachtung findet. Die Ergebnisse des quantitativen und qualitativen Teils zeigen, dass für die große Mehrheit der ASDler die Umsetzung des Beteiligungs- und Beschwerderechts für die Kinder und die Sorgeberechtigten zu einer professionellen sozialpädagogischen Arbeit dazugehört. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern selbst fehlt jedoch oft ein zufriedenstellendes Angebot von Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten und zusätzlich ein qualitätsstiftendes Angebot einer als Ombudstelle fungierenden externen Fachaufsicht. Um hier eine Veränderung herbeizuführen, ist es notwendig, dass die Fachkräfte sich mit ihrem professionellen Selbstverständnis auseinandersetzen. Mit einer klaren, einheitlichen Haltung sollte es möglich sein, Missstände anzuprangern, Veränderungen einzufordern und sich in sozialpolitische Entscheidungsprozesse einzumischen. Die in der Studie festgestellte Lücke in der institutionellen Beteiligung der ASDler selbst könnte durch eine als externe Beschwerdestelle agierende Fachaufsicht gefüllt werden. Diese sollte nicht der befürchteten Kontrolle der Fachkräfte, sondern als Kontrolle der zur Verfügung gestellten finanziellen, personellen und baulichtechnischen Ressourcen dienen. Aufgrund der eingeschränkten Einnahmemöglichkeiten von Kommunen haben diese nur einen begrenzten finanziellen Spielraum für die Selbstverwaltung zur Verfügung. Demzufolge haben KommunalpolitikerInnen auf der einen Seite viel Gestaltungskraft vor Ort, auf der anderen Seite eine hohe Verantwortung, die ihnen übertragenen sozialstaatlichen Aufgaben auszuführen - sie stehen also in einem Spannungsfeld. Vor diesem Hintergrund wird vielerorts das Hilfeplanverfahren (§ 36 SGB VIII) als ein kooperatives Verfahren zwischen dem ASD und der 409 uj 10 | 2018 Berufliche Realität im ASD Abteilung wirtschaftliche Hilfe interpretiert, was der Blick auf die Ergebnisse der vorliegenden Studie bestätigt. Dieses Vorgehen konterkariert jedoch den Grundgedanken des KJHG, was eigentlich den Jugendhilfeausschuss als lokale Interessenvertretung der Kinder und ihrer Familien auf den Plan rufen müsste. Dieser unterschätzt jedoch seine Rolle als politischer Akteur bzw. lebt sie zu bescheiden aus (Beckmann 2014, 69f ). Der Jugendhilfeausschuss hätte u. a. die Möglichkeit, die finanzielle Ausstattung des Jugendamtes zu beeinflussen und damit das Budget für den ASD. Eine Ausübung dieser Macht zu Gunsten der AdressatInnen und der MitarbeiterInnen des ASD wäre zu wünschen. Die Fachkräfte haben keinen Einfluss auf konjunkturelle Schwankungen, die Sozialstruktur und die demografischen Entwicklungen vor Ort. Jedoch können sie gemeinsam über den Jugendhilfeausschuss die lokale Politik an den Auftrag des KJHG (Bedarfsgerechtigkeit) in Verbindung mit dem staatlichen Wächteramt erinnern. Die Vertretungen der Kommunen könnten ihrerseits von der Bundesebene fordern, sie endlich aus der finanziellen Hauptverantwortung für die Jugendhilfe zu entlassen und z. B. einen „Kinder- und Jugendhilfesoli“ einzuführen, auf den die Kommunen je nach Bedarfslage des Jugendhilfeklientels zugreifen könnten. Um auf Bundesebene endlich eine Lobby für Kinder zu schaffen, erscheint es auch im Kontext der UN-Kinderrechtskonvention längst überfällig, einen „Unabhängigen Beauftragten für alle Belange der Kinder“ einzuführen. „Wir alle könnten auf einen Paradigmenwechsel in der gesellschaftlich-politischen Wahrnehmung hinwirken, wenn wir ab sofort im Zusammenhang mit der Kinder- und Jugendhilfe nicht länger über Ausgaben und Kosten sprechen, sondern über sinnvolle und notwendige Investitionen“ (Beckmann u. a. 2018, 143). Thora Ehlting M. A. E-Mail: ehlting@hs-koblenz.de Sophie Klaes M. A. E-Mail: klaes@hs-koblenz.de Prof. Dr. Kathinka Beckmann E-Mail: beckmann@hs-koblenz.de Literatur Beckmann, K., Ehlting, T., Klaes, S. (2018): Berufliche Realität im Jugendamt: der ASD in strukturellen Zwängen. Verlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V., Berlin Beckmann, K. (2014): Zwischen Macht und Versäumnis: Der Jugendhilfeausschuss. In: Benz, B., Rieger, G., Schönig, W., Többe-Schukalla, M. (Hrsg.): Politik Sozialer Arbeit. Bd.: Akteure, Handlungsfelder, Methoden. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 62 - 72 Fahrmeier, L., Heumann, C., Künstler, P., Pigeot, I., Tutz, G. (2016): Statistik. Der Weg zur Datenanalyse. 8. Aufl. Springer-Verlag, Berlin/ Heidelberg Kutter, K. (2017): Soziale Dienste gegen Jugendamts- TÜV. Ein Siegel und alles wird gut? In: die tageszeitung vom 27. 8. 2017, http: / / www.taz.de/ ! 5436790/ , 18. 7. 2018 Merchel, J. (Hrsg.) (2015): Handbuch Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). 2. Aufl. Ernst Reinhardt Verlag, München/ Basel Nonninger, S., Meysen, T. (2015): Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII). In: Merchel, J. (Hrsg.): Handbuch Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). 2. Aufl. Ernst Reinhardt Verlag, München/ Basel, 88 - 138 Schefold, W. (2012): Sozialpädagogische Forschung. Stand und Perspektiven. In: Thole, W. (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 4. Aufl. VS-Verlag, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978- 3-531-94311-4_69 Spiegel Online (2018): Beamtenbund: Dem Staat fehlen 185.000 Mitarbeiter. In: http: / / www.spiegel.de/ wirtschaft/ soziales/ beamtenbund-dem-staat-feh len-mehr-als-185-000-mitarbeiter-a-1185958.html, 18. 7. 2018 Statistisches Bundesamt (2018): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. In: http: / / www.destatis.de, 14. 6. 2018 Vieth-Entus, S. (2017): Behörden in Berlin. In: Der Tagesspiegel vom 24. 7. 2017, http: / / www.tagesspiegel.de, 18. 7. 2018