eJournals unsere jugend 70/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art69d
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Trennung. Was kommt danach?

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Matthias Weber
Der Verlauf einer Trennung und der Nachtrennungszeit entscheiden darüber, ob eine positive Neugestaltung des Beziehungsdreiecks Kind - Mutter - Vater gelingt oder ob sich auf Dauer eine hoch konflikthafte Dynamik mit extremen Belastungen für die Beteiligten entwickelt. Die Moderation dieses Prozesses durch beteiligte Institutionen kann den Prozess entscheidend beeinflussen.
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450 unsere jugend, 70. Jg., S. 450 - 457 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art69d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Trennung. Was kommt danach? Risiken - Interventionsmöglichkeiten - Probleme Der Verlauf einer Trennung und der Nachtrennungszeit entscheiden darüber, ob eine positive Neugestaltung des Beziehungsdreiecks Kind - Mutter - Vater gelingt oder ob sich auf Dauer eine hoch konflikthafte Dynamik mit extremen Belastungen für die Beteiligten entwickelt. Die Moderation dieses Prozesses durch beteiligte Institutionen kann den Prozess entscheidend beeinflussen. von Matthias Weber Jg. 1942; Dipl.-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, langjährige Leitung einer integrierten Beratungsstelle, Tätigkeit in Weiterbildung, Supervision Trennung Trennung und Scheidung bedeuten in den meisten Fällen für Erwachsene und Kinder ein Scheitern von Lebensperspektiven und seelische Erschütterung. Neue Vorstellungen vom künftigen Leben müssen entworfen und gestaltet werden. Für die Kinder müssen Bedingungen geschaffen werden, die die Entwicklung neuer Sicherheit in den Beziehungen zu den Eltern ermöglichen. Dieser Prozess kann gelingen, kann die Beendigung einer nicht mehr lebenswert erscheinenden familiären Situation sein, und neue, positive Perspektiven eröffnen. Doch ist der Entschluss zur Trennung nicht gleichbedeutend mit dem Ende von Konflikten. Im Zuge der notwendigen Regelungen spitzen sie sich meist zu. Dies in Verbindung mit den angesprochenen Belastungen macht den Trennungsprozess zu einem stressbesetzten Unternehmen, verbunden mit erhöhter Verletzbarkeit und der Gefahr neu entstehender oder sich aufladender Konflikte. Kinder müssen diesen Prozess über sich ergehen lassen, ohne dass sie die Möglichkeit haben, darauf Einfluss zu nehmen. Bei einer Scheidung kommen in jedem Fall juristische Professionen „ins Spiel“, wenn Kinder betroffen sind, auch psychosoziale und/ oder therapeutische. Diese sollten ihr Augenmerk nicht erst dann auf Trennungsfamilien richten, wenn Konflikte entgleist sind. Wenn Trennung und Scheidung durch kompetente Institutionen moderiert werden, kann dies eine Ausuferung und Verhärtung von Konflikten verhindern helfen. Nachtrennungsphase Risiken Der Familienrichter Thalmann (1984) thematisierte, dass die Trennung von einem Ehepartner für die Betroffenen ähnlich existenzbedrohend sein kann wie der Tod eines nahestehenden 451 uj 11+12 | 2018 Risiken, Interventionsmöglichkeiten und Probleme nach Trennung Menschen. Er überträgt die Trauerphasen (Nichtwahrhabenwollen - Zorn, Aufbrechen chaotischer Emotionen - Verhandeln - Depression - Neuer Selbst- und Weltbezug) auf die seelische Verfassung bei Trennung/ Scheidung und fordert eine Beachtung dieses Aspektes bei der Gestaltung des familienrechtlichen Verfahrens. Auch wenn solche Phasen nicht bei jeder Trennung auftreten: Trennung ist ein Ereignis, das nicht nur rechtlichen Verfahrensvorgaben folgt, sondern stark geprägt ist von der Eigendynamik psychischer Prozesse. Auch Ent-Bindung braucht Zeit (Weber/ Grabow 2018). Die angesprochenen psychischen Gestimmtheiten können heftig sein und andauern. Dann dürfen eine depressive und lethargische Verfassung nicht als Desinteresse am Kind oder Wutanfälle nicht als Merkmal einer hochstrittigen Persönlichkeit missverstanden werden. Andererseits können Frauen und Männer in der Nachtrennungsphase in eine Situation anhaltender Verzweiflung und Perspektivlosigkeit geraten, die zu Drogenkarrieren, Arbeitslosigkeit, Suizidgefährdung führt. Derjenige, der eine Trennung gegen den Willen des anderen durchsetzt, fordert den anderen häufig auf, sachlich und konstruktiv mit der Situation umzugehen. Die fehlende Sensibilität für Trauerreaktionen vertieft dessen Kränkung, oft auch seine Wut. Eine anhaltend anklagende Haltung des Verlassenen führt wiederum dazu, dass der Partner Kontakten und klärenden Gesprächen ausweicht - oder den Versuch macht, seine Verliebtheit in einen anderen Menschen zu erklären. Beides führt zwangsläufig zu neuen Kränkungen. Risiken für Kinder Die Nachtrennungsphase ist für Eltern und Kinder eine anspruchsvolle Herausforderung. Ob sie für die Kinder zu einer großen Belastung wird, hängt wesentlich von den Eltern ab. Diese sollten ihren Kindern den Weg zum Verstehen ebnen, ohne dass ein Elternteil als der Schuldige dargestellt wird. Das Versprechen, dass Papa und Mama auch künftig für das Kind da sind, ist wichtig, hilft aber nicht und verstärkt eher Verunsicherungen, wenn es im Alltag nicht eingelöst wird. Es bestehen weitere Risiken: ➤ Die Eltern sind so sehr mit der eigenen Situation beschäftigt, dass sie das Kind aus den Augen verlieren. Die auch für das Kind bestehende Belastung wird übersehen oder verleugnet. ➤ Die mit einer Trennung verbundenen Änderungen führen zum Verlust von wichtigen Beziehungen und anderen Ressourcen. ➤ Das Kind nimmt wahr, dass es Mama oder Papa schlecht geht, will trösten und stützen. Diese Rollenumkehrung (Parentifizierung) führt zu einer (Selbst-)Überforderung. ➤ Ein in einer neuen Beziehung lebender Elternteil macht den Versuch, das Kind rasch zur Aufnahme einer nahen Beziehung zu neuem Partner und Stiefgeschwistern zu bewegen. Für das Kind entsteht ein Dilemma, weil ein solcher Schritt den Charakter eines Treueverlustes zu Mama oder Papa haben kann. Interventionen Wird beim Familiengericht ein Antrag auf Regelung von Kindschaftssachen gestellt, so weist dies auf bestehende Konflikte, auf die Gefahr einer Konflikteskalation und damit verbundener Risiken für Kinder hin. Gerichte selbst wie andere beteiligte Professionen haben dann die Möglichkeit, ihr Augenmerk nicht nur auf das Verfahren zu richten, sondern den Betroffenen einen Weg zu konfliktregulierenden und unterstützenden Einrichtungen (wie Beratungsstellen, Mediatoren, Psychotherapeuten) zu ebnen. 452 uj 11+12 | 2018 Risiken, Interventionsmöglichkeiten und Probleme nach Trennung Das Phänomen Hochstrittigkeit hat in den vergangenen Jahren bei psychosozialen und juristischen Professionen wie in der Forschung viel Aufmerksamkeit und viele Ressourcen gebunden. Es wurde vernachlässigt, der Phase im Trennungsgeschehen die Aufmerksamkeit zu widmen, in der entscheidende Weichen für die weitere Entwicklung gestellt werden. Denkbare und wirksame Hilfen können sein: ➤ Psychoedukative Angebote und Maßnahmen, wie Informationen über rechtliche Zusammenhänge und typische psychische Reaktionen im Trennungsverlauf ➤ Hinweise auf (oben angesprochene) Risiken und „Fallen“ wie auf generell kritische Situationen (z. B. neue Partnerschaften, Einflussnahme des/ der „Neuen“) ➤ Hinweise auf die Eigendynamik psychischer Prozesse (Trauerphasen) ➤ Erarbeitung von Möglichkeiten einer Neuverteilung von Emotionen, Zeit, finanziellen Ressourcen Eine Begleitung von Erwachsenen und Kindern durch Beratungseinrichtungen, die Teilnahme von Eltern an Seminaren und Elternkursen wie „Kinder im Blick“ oder die von Kindern an Gruppeninterventionsprogrammen (z. B. Fthenakis 1995) können wirksame Hilfen sein. Eskalierte Elternkonflikte Das Kindschaftsrechtsreformgesetz (KindRG) von 1998 stärkte die Position des Kindes, sprach ihm das Recht auf Umgang mit beiden Eltern zu und formulierte für diese „das Recht und die Pflicht“ zum Umgang mit dem Kind. In vielen Fällen, in denen zuvor nach der Trennung ein Abbruch der Beziehung zwischen Kind und weggeschiedenem Elternteil gedroht hätte, entwickelten sich nun hochkonflikthafte Auseinandersetzungen um elterliche Sorge und Umgangsregelungen. Merkmale von Hochkonflikthaftigkeit und damit verbundene Risiken für die Kinder Das dreistufige Modell der Konflikteskalation von Alberstötter (2006) bietet eine Orientierung in der „Landschaft Hochkonflikthaftigkeit“: ➤ Stufe 1: Zeitweilig gegeneinander gerichtetes Reden und Tun ➤ Stufe 2: Verletzendes Agieren und Ausweitung des Konfliktfeldes ➤ Stufe 3: Beziehungskrieg - Kampf um jeden Preis Für die erste Stufe gilt, dass bezüglich der Haltung von Vater und Mutter noch deutliche Ressourcen im Sinne von konfliktreduzierenden Einsichten gegeben sind und die Neutralität von Dritten - z. B. professionellen Helfern - akzeptiert wird. Dies gilt für Stufe 2 in reduziertem Maß und für Stufe 3 nicht mehr. Hier geht es um „Recht haben und bekommen”, um Kampf mit allen Mitteln. Eskalierte Elternkonflikte: ➤ sind emotional hoch besetzt, ➤ dauern über längere Zeit an, u. U. 5 - 6 Jahre und mehr, ➤ rufen eine Vielzahl von professionellen Helfern auf den Plan, ➤ reduzieren die Erziehungsfähigkeit der Eltern und ➤ führen dazu, dass Kinder in die elterlichen Konflikte einbezogen werden. Hochkonflikthaftigkeit betrifft 5 - 8 % der Trennungs- und Scheidungsfälle. Die oben angeführten Risiken für Kinder in der Nachtrennungsphase sind bei eingetretener Hochkonflikthaftigkeit als andauernde Belastungen wirksam. Weitere Risiken kommen hinzu: 453 uj 11+12 | 2018 Risiken, Interventionsmöglichkeiten und Probleme nach Trennung ➤ Die Eltern sind in ihre Konflikte verstrickt, ihre Aufmerksamkeit ist auf das Handeln des bzw. der anderen fokussiert. Sie sehen und verstehen das Verhalten des Kindes im Lichte ihres Negativbildes vom anderen Elternteil. ➤ Hoch konflikthafte Elternschaft schafft unausweichlich Loyalitätsdruck, und es kommt zu Instrumentalisierungen (siehe dazu spätere Ausführungen). ➤ Es steigt die Gefahr, dass Kinder Zeugen häuslicher Gewalt werden. ➤ Die Unvereinbarkeit der Wirklichkeitskonstruktionen und Positionen von Vater und Mutter schaffen Irritationen und Konfusionen (z. B. in verzweifelten Äußerungen eines Kindes wie „Ich weiß selber nicht mehr, was wahr ist“). ➤ Hoch konflikthafte Elternschaft gefährdet das Fortbestehen wichtiger Beziehungen. Es droht auf Dauer der Verlust eines Elternteils und anderer wichtiger Beziehungen. ➤ Umgangskontakte sind für Kinder bei Fortbestehen von Elternkonflikten nahezu regelmäßig mit dem Erleben von Feindseligkeit zwischen Vater und Mutter verbunden. ➤ Kinder hoch konflikthafter Eltern wachsen in einer Atmosphäre der Kriegslogik auf, die erwartungs- und handlungsleitend für das eigene Leben wird. ➤ Hoch konflikthafte Elternschaft verschärft die Risiken für eine Verschlechterung der sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen. Die so bestehenden Belastungen werden individuell unterschiedlich verarbeitet. Alter, Geschlecht, Vorerfahrungen und Merkmale wie psychische Vulnerabilität moderieren die Wirkung der erlebten Belastungen ebenso wie Merkmale des sozialen Umfeldes. Große Bedeutungen haben z. B. die Familienform, in der das Kind nach Scheidung der Eltern lebt, Ressourcen in Form von verlässlichen Freunden und befriedigende Freizeitbeschäftigungen. Aktuell oder überdauernd auftretende Beeinträchtigungen und Fehlanpassungen können externalisierenden wie internalisierenden Charakter haben. Es kann andererseits sein, dass ein Kind seine Belastungen konstruktiv bewältigt und somit positive Lernerfahrungen macht. Hochstrittigkeit der Eltern ist also für das betroffene Kind eine große Belastung, führt aber nicht zwangsläufig zu einer Beeinträchtigung der weiteren Entwicklung. Beteiligte Fachkräfte haben deshalb die Aufgabe, eine Bewertung der Situation des Kindes vorzunehmen. Dabei kann die Unterscheidung folgender Konstellationen eine Orientierung sein: ➤ Trotz Hochkonflikt der Eltern keine Gefährdung der weiteren Entwicklung ➤ Auffälligkeiten: Weitere Beobachtung und Klärung sind angemessen ➤ deutliche Auffälligkeiten und Gefährdungen; erhöhter Diagnostik-/ Beratungs-/ Therapiebedarf Interventionen Bei Hochstrittigkeit besteht die wirksamste Form der Hilfe in der Befriedung oder einer Reduzierung der elterlichen Konflikte. Sie entlastet alle Beteiligten und eröffnet dem Kind die Möglichkeit, weiter in Beziehung mit beiden Elternteilen zu bleiben. Weil jedoch eine Reduktion der Konfliktdynamik in einer überschaubaren Zeit in vielen Fällen schwierig ist, bestehen Belastung der Kinder und die angesprochenen Entwicklungsrisiken oft über lange Zeit. Deshalb sind Maßnahmen notwendig, die auf das Elternsystem zielen, wie auch solche, die Beteiligung und Unterstützung der Kinder bedeuten. Auf das Elternsystem bezogene Interventionen können die Beendigung der Konflikte und eine kooperative Elternschaft zum Ziel haben. In vielen Fällen ist jedoch eine weniger anspruchs- 454 uj 11+12 | 2018 Risiken, Interventionsmöglichkeiten und Probleme nach Trennung volle Form der Konfliktregulierung realistisch, eine „geordnete Abgrenzung“. Die Erarbeitung einer parallelen Elternschaft kann zunächst die einzig mögliche Form der Konfliktregulierung und Entlastung für die Kinder sein. Von Anfang an weitergehende Ziele anzustreben, kann kontraproduktiv sein und die Streitenden nach der Kompetenz des Helfers fragen lassen. Für die Beratung hochstrittiger Eltern haben sich folgende Aspekte als wichtig erwiesen (siehe auch BKE 2013): ➤ Sie folgt nicht den Interessen der Eltern und deren „Beratungsauftrag“, sondern ist am Kindeswohl orientiert und verlangt eine eindeutige Positionierung. ➤ Sie verlangt ein hohes Maß an Strukturierung und Regelsetzung - je höher das Konfliktlevel, umso mehr Direktivität ist notwendig. ➤ Eine solche Form der Beratungsarbeit ist oft nur nach einer richterlichen Anordnung oder einer verbindlichen Vereinbarung bei Gericht möglich. ➤ Gleichwohl brauchen auch hoch strittige Eltern das Gefühl, verstanden zu werden. ➤ Ein empathisches Eingehen auf Mutter oder Vater ist in der Regel nur in Einzelsitzungen möglich. Das hat Konsequenzen für das Setting. ➤ In den meisten Fällen ist es sinnvoll, erst einmal in Einzelsitzungen eine Beziehungsaufnahme zu Vater und Mutter anzustreben und sie für eine gemeinsame Arbeit zur Regulierung ihrer Konflikte zu motivieren. Für eine Einbeziehung und Unterstützung der Kinder gibt es viele methodische Möglichkeiten (siehe u. a. Weber u. a. 2013). Wenn diese durch Beratungsstellen oder andere Jugendhilfeeinrichtungen nicht genutzt werden, so wird dies meist mit Kapazitätsengpässen begründet. Die seit langer Zeit erprobten Gruppeninterventionsprogramme sind auch hier eine ökonomische und wirksame Maßnahme. Aus der Praxis: Kritische Aspekte Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS) untersuchte an einer repräsentativen Stichprobe von 17.641 Kindern und Jugendlichen deren körperliche und psychische Gesundheit. Die Daten geben Hinweise auf vielfältige gesundheitliche Belastungen von Kindern und Jugendlichen in Trennungsfamilien (Schlack 2013) sowie darauf, dass sie häufiger zu gesundheitlichem Risikoverhalten (Alkohol, Drogen, Rauchen) neigen. Es gibt also viele gute Gründe, einen kritischen Blick auf die Tätigkeit der Institutionen zu werfen, die moderierend am Verlauf der Trennung und der Zeit danach beteiligt sind. Regionale und personenabhängige Disparitäten In wissenschaftlichen Untersuchungen, im Rahmen von Tagungen und Seminaren wie auch in der konkreten Fallarbeit wird immer wieder deutlich, wie unterschiedlich zentrale Fragen betreffend das Wohl des Kindes im Kontext von Trennung und Scheidung gesehen und gehandhabt werden. Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, gravierende Unterschiedein Selbstverständnis und Arbeitsweise aller am gerichtlichen Verfahren beteiligten Professionen darzustellen und diese im Einzelnen zu belegen. Exemplarisch sollen dennoch einige aus den Bereichen Familiengericht und Jugendamt aufgezeigt werden: ➤ Die gesetzliche Normierung, dass zum Wohl des Kindes in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen gehört, wird von manchen Gerichten als unumstößliches Kindeswohl-Kriterium gesehen: Nur wenn das Kind in Verbindung zu beiden Eltern bleibt, kann es sich gesund entwickeln. Diese Maxime bestimmt die Gestaltung des Verfahrens, bestimmt Anordnungen 455 uj 11+12 | 2018 Risiken, Interventionsmöglichkeiten und Probleme nach Trennung und Entscheidungen. Demgegenüber stehen gerichtliche Vorgehensweisen und Entscheidungen, deren Grundlage einzig der geäußerte Kindeswille ist. ➤ RichterInnen vertreten die Auffassung, dass schnelle und klare gerichtliche Interventionen notwendig sind, um eine Eskalation von Konflikten um das Kind zu verhindern. Andere sind der Überzeugung, dass in einem schwierigen Fall erst einmal Beruhigung und Ruhe geboten sind. Dementsprechend ordnet ein Familiengericht, zusätzlich zur Tätigkeit des Jugendamtes, sechs unterschiedliche Maßnahmen für Kind und Eltern bei jeweils unterschiedlichen Institutionen an. In einem in räumlicher Nähe verhandelten vergleichbaren Fall bleiben, nach der Stellungnahme eines Verfahrenspflegers, nur Gericht und Jugendamt tätig und agieren äußerst abwartend. ➤ Manche Jugendämter beschränken ihre Tätigkeit auf die für ihre Stellungnahme notwendige Datensammlung, initiieren keinerlei konfliktreduzierende Arbeit mit den Eltern und agieren ausschließlich reaktiv. Andere betreiben ein aktives Konfliktmanagement, führen selbst entsprechende Gespräche oder vermitteln solche und leiten Maßnahmen für Kinder ein. Es gibt Kommunen und Regionen, in denen die bei Trennung und Scheidung beteiligten Institutionen und Professionen eine beachtliche Kultur im Umgang mit kindschaftsrechtlichen Fragen entwickelt haben. Es wurde ein gemeinsames Verständnis dafür erarbeitet, wie „Kindeswohl“ verstanden wird, welche diagnostischen Schritte und Interventionen in schwierigen Fällen angemessen und hilfreich sind, welche Institution welche Aufgaben übernehmen und wie die Kooperation dieser Institutionen konstruktiv gestaltet werden kann. Eine solch positive Situation ist in aller Regel im Rahmen von interdisziplinären Arbeitskreisen gewachsen. Grundlage solcher Arbeitskreise ist die Überzeugung, dass das familiengerichtliche Verfahren wie keine andere gerichtliche Auseinandersetzung von emotionalen Konflikten geprägt ist, die letztlich nicht justiziabel sind (Deutscher Bundestag 2007), und dass es deswegen einer geordneten Zusammenarbeit von Fachkräften aus dem Bereich der Justiz und der psychosozialen Berufe bedarf. Im Zuge der Debatte um eine Verbesserung des Kinderschutzes wurde der Begriff der Verantwortungsgemeinschaft geprägt. Er gilt in allen Fällen, in denen Kinder betroffen sind, und ist als Maßstab an das Handeln anzulegen (Deutscher Verein 2010). Eine solche Abstimmung der Arbeit der Professionen im Interesse des Kindes ➤ mobilisiert die jeweils angemessenen Interventionen und Hilfen, ➤ klärt, wann und wie welche Verantwortung kontrolliert übergeben wird, ➤ schärft den Blick für die eigenen Möglichkeiten und Grenzen und vermittelt dadurch auch den anderen Beteiligten ein transparentes Bild von der eigenen Arbeit, ➤ schafft eine auch für Eltern transparente Situation und wirkt so gegen deren mit einer Hochkonflikthaftigkeit verbundenen Entgleisungen, ➤ wehrt der Gefahr, dass im Falle hoch strittiger Eltern die einzelnen Professionen instrumentalisiert werden mit der Folge, dass der Elternkonflikt sich auch im Helfersystem abbildet. Eine durchgängige Linie kann nicht in allen kindschaftsrechtlich bedeutsamen Fragen erwartet werden. Viele Konzepte werden diskutiert und befinden sich gewissermaßen in einer Erprobungsphase. So hat aktuell das Doppelresidenzmodell glühende Verfechter wie leidenschaftliche Kritiker. Es wäre wünschenswert, dass eine solche Diskussion nicht in einer Praxis endet, die für Eltern und in der Gesellschaft den Charakter von Beliebigkeit hat. 456 uj 11+12 | 2018 Risiken, Interventionsmöglichkeiten und Probleme nach Trennung Bindungstoleranz in der Praxis Weil der Erhalt wichtiger emotionaler Beziehungen für die Entwicklung des Kindes bedeutsam ist, hat der Gesetzgeber die sog. Wohlverhaltensklausel formuliert: Beide Eltern haben alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert (§1684 Abs. 2 BGB). Der in diesem Zusammenhang gebräuchliche Begriff „Bindungstoleranz“ bedeutet, die Beziehung zum anderen Elternteil müsse nicht nur toleriert, sondern aktiv gefördert und unterstützt werden. Eine die Praxis normierende Wirkung des Wohlverhaltensgebotes bei Vätern und Müttern scheitert jedoch daran, dass es weitestgehend unbekannt ist. Nicht wenige MitarbeiterInnen von Jugendämtern offenbaren Ratlosigkeit, wenn sie z. B. im Rahmen von Weiterbildungsseminaren nach seiner Relevanz für die konkrete Fallarbeit gefragt werden. Gerichte sehen sich in einem Dilemma: Ein einschneidendes Eingreifen, etwa ein Sorgerechtsentzug und/ oder eine Fremdunterbringung, schafft in vielen Fällen keine Verbesserung der Situation des Kindes. So wird in letzter Konsequenz akzeptiert, dass der hauptsächlich betreuende Elternteil, der einen Kontakt des Kindes zum anderen vehement zu verhindern sucht, damit Erfolg hat. Im benachbarten Ausland wird in diesem Zusammenhang anders verfahren. In Frankreich z. B. ist die Verhinderung eines gerichtlich bestimmten Umganges durch den verantwortlichen Elternteil ein Straftatbestand. Eine derartige Regelung vermittelt, dass das Verbot einer Beeinträchtigung der kindlichen Beziehung zum anderen Elternteil ernst gemeint ist, lässt ausgeschlossene Elternteile wie MitarbeiterInnen zuständiger Institutionen nicht in Resignation verfallen und an der Bedeutung gesetzlicher Regelungen zweifeln. Kompetenzen für den Umgang mit Entfremdungsmechanismen? Die Thematik Bindungstoleranz ist eng verknüpft mit der Frage der Einschätzung und des Umgangs mit Entfremdungsmechanismen. Der Begriff „Parental Alienation Syndrom (PAS)“ war der Versuch, negative Einflussnahmen auf die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil in einem Konzept zu fassen. Die Diskussion von PAS hat dazu geführt, dass in weiten Kreisen von dem ursprünglichen, als Syndrom mit Krankheitswert gefassten Verständnis Abstand genommen wurde. Doch bleibt es wichtig, sich mit den Mechanismen und Zusammenhängen zu befassen, die bei einer Entfremdung wirksam sind. U. a. bietet die von Behrend (2013; 2009) entwickelte Typologie dafür eine gute Grundlage. Behrend beschreibt drei Typen kindlicher Kontaktverweigerung, die für eine Unterscheidung einer von einem Elternteil induzierten Entfremdung und anderen Formen hilfreich sind: ➤ Streitmeidung ➤ Instrumentalisierte Loyalität ➤ Kontaktverweigerung als direkte Reaktion auf Kränkung und seelische Verletzung Beim Typus der instrumentalisierten Loyalität geht es um eine Einflussnahme meist des hauptsächlich betreuenden Elternteiles auf das Kind. Behrend unterscheidet hier wiederum drei Formen. Bei einer kontextuellen sowie einer passiven Instrumentalisierung geschieht die Einflussnahme nicht absichtlich, bei einer aktiven jedoch absichtlich und zielgerichtet. Die Autorin beschreibt, in welcher Situation sich Kinder bei einer Instrumentalisierung befinden. Sie sind auf die Zuwendung der Hauptbezugsperson angewiesen und können es nicht riskieren, diese zu enttäuschen und zu verärgern. Halten sie zugleich ein positives Bild vom anderen Elternteil aufrecht, so entsteht eine un- 457 uj 11+12 | 2018 Risiken, Interventionsmöglichkeiten und Probleme nach Trennung erträgliche Dissonanz. Die damit verbundene innerpsychische Spannung lösen sie, indem sie - unter „Anleitung“ des instrumentalisierenden Elternteiles - ihre bisherige positive Einstellung zum anderen Elternteil aufgeben und ein negatives und mitunter monströs verzerrtes Bild von ihm annehmen. Das hat zur Folge, dass das Kind selbst mit diesem Elternteil nichts mehr zu tun haben will. Den geäußerten Willen des Kindes festzustellen bedeutet dann, das Instrumentalisierungsergebnis eines Elternteiles und die Anpassungsleistung des Kindes wahrzunehmen, nicht aber tiefer liegende psychische Konflikte und Neigungen. Behrend gibt auch differenzierte Hinweise, welche Interventionen bei welchem Typus angemessen sind, um eine einmal entstandene Entfremdung aufzulösen. Es ist kaum vorstellbar, dass FamilienrichterInnen, Verfahrensbeistände und andere Professionen, die die Aufgabe haben, den Willen und die Interessen eines Kindes zu ermitteln, ohne Kenntnis solcher Zusammenhänge angemessene Folgerungen ziehen und geeignete Interventionen einleiten können. Wenn jedoch derlei Prozessen nicht gegengesteuert wird, ist die Folge, dass Kinder mit einem „zerstörten“ Bild von Vater oder Mutter in ihr weiteres Leben gehen. Das wäre eine denkbar ungute Grundlage für die Entwicklung einer gesunden Identität. Matthias Weber Kantweg 4 56581 Melsbach E-Mail: weber-melsbach@live.de Literatur Alberstötter, U. (2006): Wenn Eltern Krieg gegeneinander führen. Zu einer neuen Praxis der Beratungsarbeit mit hoch strittigen Eltern. In: Weber, M., Schilling, H. (Hrsg.): Eskalierte Elternkonflikte. Beratungsarbeit im Interesse des Kindes bei hoch strittigen Trennungen. 2. Aufl. Beltz, Weinheim/ Basel, 29 - 51 Behrend, K. (2013): Umgangsstörungen und Umgangsverweigerung. Zur Positionierung des Trennungskindes im Elternkonflikt. In: Weber, M., Alberstötter, U., Schilling, H. (Hrsg.): Beratung von Hochkonflikt-Familien. Im Kontext des FamFG. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 232 - 255 Behrend, K. (2009): Kindliche Kontaktverweigerung nach Trennung der Eltern aus psychologischer Sicht: Entwurf einer Typologie. Universität Bielefeld Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (BKE) (2013): Beratung von Hochkonflikt-Familien im Kontext des FamFG. Fachliche Standards. In: Weber, M., Alberstötter, U., Schilling, H. (Hrsg.): Beratung von Hochkonflikt-Familien im Kontext des FamFG. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 432 - 450 Deutscher Bundestag (2007): Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Drucksache 16/ 6308, Berlin Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (DV) (2010): Empfehlungen zur Umsetzung gesetzlicher Änderungen im familiengerichtlichen Verfahren. In: Nachrichtendienst des DV - NDV 5, 206 - 214 Fthenakis,W. E.(1995): Gruppeninterventionsprogramm für Kinder mit getrennt lebenden oder geschiedenen Eltern. TSK. Trennungs- und Scheidungskinder. Hrsg. v. LBS-Initiative Junge Familie. Beltz, Weinheim Schlack, R. (2013): Die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Eineltern- und Stieffamilien unter besonderer Berücksichtigung von Jungen. Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). In: Franz, M., Karger, A. (Hrsg): Scheiden tut weh. Elterliche Trennung aus Sicht der Väter und Jungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 122 - 144 Thalmann, W. (1984): Die Verhandlungsführung des Familienrichters bei „existenzgefährdenden“ Familiensachen unter Berücksichtigung des Kübler-Ross- Phänomens. FamRZ 7, 634 - 639 Weber, M., Grabow, M. (2018): Auch Ent-Bindung braucht Zeit. Zur Gestaltung des familiengerichtlichen Verfahrens und der Kooperation Familiengericht - Beratung. In: Götting, G., Bromann, C., Möller, M., Piorunek, M., Schattanik, M., Werner, A.: (Hrsg.): Zeit geben Bindung stärken. Konzepte der Beratung. 2. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 2014 - 2016 Weber, M., Alberstötter, U., Schilling, H. (Hrsg.) (2013): Beratung von Hochkonflikt-Familien im Kontext des FamFG. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 146 - 290