eJournals unsere jugend 70/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art73d
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ASD - Kommunale Herausforderungen, Lösungsansätze und Verantwortung

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Enrico Birkner
Claus Lippmann
Eine im Mai diesen Jahres veröffentlichte Studie zum ASD hat es in die Abendnachrichten der ARD geschafft! Eine tolle Leistung, wenn ein so wichtiges Thema so gut platziert ist. Allerdings reicht die verfügbare Sendezeit nur zum Transport einer prägenden Überschrift, die der Komplexität des Themas dann nicht gerecht wird. Wir bieten einen etwas differenzierten Einblick an.
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481 unsere jugend, 70. Jg., S. 481 - 490 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art73d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Enrico Birkner Jg. 1976; Abteilungsleiter ASD des Jugendamtes Dresden ASD - Kommunale Herausforderungen, Lösungsansätze und Verantwortung Ein Praxisbeitrag aus dem Jugendamt der Landeshauptstadt Dresden Eine im Mai diesen Jahres veröffentlichte Studie zum ASD hat es in die Abendnachrichten der ARD geschafft! Eine tolle Leistung, wenn ein so wichtiges Thema so gut platziert ist. Allerdings reicht die verfügbare Sendezeit nur zum Transport einer prägenden Überschrift, die der Komplexität des Themas dann nicht gerecht wird. Wir bieten einen etwas differenzierten Einblick an. Die Arbeit der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) des Jugendamtes ist eine der spannendsten und herausforderndsten Tätigkeiten für Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen. Einerseits hat der ASD - von Jugendamt zu Jugendamt verschieden - ein äußerst vielfältiges Aufgabenspektrum, andererseits arbeiten die Fachkräfte des ASD an den höchstprivaten Themen des Familienlebens und der Erziehung und müssen sich ihrer besonderen Verantwortung für die Biografien junger Menschen und deren Eltern bewusst sein. Nicht zuletzt eröffnet der Spagat zwischen Beraten und Unterstützen auf der einen und Wächteramt mit hoheitlichen Aufgaben auf der anderen Seite ein Spannungsfeld für das Rollenverständnis der Fachkräfte. Dies erfordert von den Fachkräften des ASD eine hohe fachliche Qualifikation, eine gefestigte Persönlichkeit und eine klare Arbeitshaltung sowie ein eindeutiges Bekenntnis zu den rechtsstaatlichen Grundlagen ihres Handelns. Die Kommunen sind gefordert, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Familien sich mit ihren Anliegen ernst genommen und in ihren individuellen Rechtsansprüchen gut betreut wissen. Dazu gehören einerseits eine angemessene räumliche und technische Ausstattung der Dienste, andererseits ein besonderes Augenmerk auf die beschäftigten Fachkräfte. Im Folgenden soll insbesondere über Herausforderungen der ASD-Arbeit in einer Großstadt hinsichtlich Struktur, Quantität und Qualität des Personals berichtet werden. Claus Lippmann Jg. 1954; Amtsleiter Jugendamt Dresden 482 uj 11+12 | 2018 ASD: Kommunale Herausforderungen Der ASD in Dresden - Aufgabenspektrum und Organisationsstruktur Die sächsische Landeshauptstadt Dresden zählt mit derzeit gut 557.000 Einwohnern zu den 15 bundesdeutschen Großstädten mit über 500.000 Einwohnern. Gut 152.000 Dresdnerinnen und Dresdner sind zwischen 0 und 27 Jahre alt, knapp 110.000 Menschen in Dresden sind unter 21 Jahre alt. Damit fällt mehr als ein Viertel der Dresdner Bevölkerung direkt in den Wirkungskreis des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII), was vergleichbar mit den meisten anderen deutschen Großstädten ist. Die insgesamt knapp 500 Beschäftigten des Jugendamtes der Landeshauptstadt Dresden sind in vier Fachabteilungen und einer Querschnittsabteilung organisiert. Hier ist die Abteilung ASD mit derzeit 141 Planstellen (einschließlich Leitung und Verwaltung) die größte Abteilung des Amtes und für sechs Aufgabenkomplexe zuständig: ➤ Abprüfung von Kindeswohlgefährdungsmeldungen (§ 8 a SGB VIII) ➤ allgemeine Beratung in allen Erziehungsfragen nach §16 Abs. 1 u. 2 SGB VIII sowie im Kontext Trennung/ Scheidung (§§ 17 u. 18, Abs. 1 u. 3 SGB VIII) ➤ Förderung der Erziehung in der Familie nach §§ 19 u. 20 SGB VIII und Hilfen zur Erziehung (§§ 27ff SGB VIII) ➤ Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach § 35 a SGB VIII ➤ Inobhutnahmen bei akuten Kindeswohlgefährdungen (§ 42 SGB VIII) sowie ➤ Mitwirkung in familiengerichtlichen Verfahren nach § 50 SGB VIII Zur Aufgabenerfüllung stehen dem ASD laut Stellenplan 103 Vollzeitäquivalente (VZÄ) sozialpädagogische Fachkräfte zur Verfügung, von denen aktuell 92 VZÄ besetzt sind (Stand 30. 6. 2018). Für Aufgaben des Pflegekinderwesens oder der Jugendgerichtshilfe, wie sie durchaus in anderen Jugendämtern ebenfalls dem ASD zugeordnet werden, gibt es im Dresdner Jugendamt eigene Sachgebiete außerhalb der Abteilung ASD. Damit ist für eine gewisse Stringenz und Klarheit der Zuständigkeiten zur Erfüllung der im SGB VIII beschriebenen Leistungen und anderen Aufgaben gesorgt. Die Aufgaben, Methoden und Steuerungsansätze des ASD sind in einer eigenen Leistungsbeschreibung zusammengefasst, die als verbindliche Arbeitsgrundlage für alle Beschäftigten des ASD gilt. Gelebte Grundprinzipien in der ASD-Arbeit in Dresden sind eine starke Orientierung am Subjekt verbunden mit einer tiefgreifenden Adressatenbeteiligung, Wirkungs- und Sozialraumorientierung bei der Entwicklung von Hilfesettings, Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und freien Trägern der Jugendhilfe auf Augenhöhe, Effektivität und Effizienz von Hilfen sowie der Grundsatz „Prävention und Integration vor Intervention“. Die Abteilung ASD umfasst neun dezentrale Sachgebiete an sechs Standorten in den Ortsämtern der Stadt mit zehn bis sechzehn Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, jeweils einer Sachgebietsleitung sowie eineinhalb bis drei Verwaltungsstellen. Größere Sachgebiete sind in Gruppen geteilt und haben als zusätzliche Ebene eine Gruppenleiterstruktur. Mit der dezentralen Aufstellung zeigt sich das Jugendamt bürgernah, sorgt für kurze Wege und bietet die Grundlage für sozialräumlich orientiertes Arbeiten und eine Vernetzung von Angeboten und Fachkräften in der Lebenswelt der Klientinnen und Klienten. Ebenso spielt der Faktor aktive Präsenz der Jugendbehörde in Stadtteilen mit höherer sozialer Belastung eine wichtige Rolle für den Zugang von Familien zur Jugendhilfe und für den Zugang der Jugendhilfe zu den Familien. Leider ist es der Stadtverwaltung Dresden noch nicht gelungen, in jedem stärker belasteten Stadtraum einen eigenen ASD-Standort 483 uj 11+12 | 2018 ASD: Kommunale Herausforderungen zu installieren. In diesen Stadträumen wird zunehmend eine Zuspitzung der Situation aus jugendhilflicher Sicht beobachtet, sich äußernd durch eine deutlich höhere Anzahl von Kindeswohlgefährdungsmeldungen, Inobhutnahmen und Hilfen zur Erziehung als in anderen Gebieten. Das Ziel, die Präsenz des ASD in den Stadträumen auszuweiten, muss auch weiterhin mit Nachdruck verfolgt werden. Über die mit der direkten Fallarbeit befassten Sachgebiete hinaus gibt es seit 2015 ein Sachgebiet Zentrale Steuerung ASD, welches derzeit mit 4,5 VZÄ verteilt auf fünf Stellen arbeitet. Bei neun dezentralen Sachgebieten ASD war eine systematische und andauernde Koordinierung der Steuerungsanstrengungen der Abteilung ohne eine engagierte Organisationsentwicklung nicht mehr leistbar. Zunächst wurde dazu ein Kompetenzteam direkt der Fach- und Dienstaufsicht der Abteilungsleitung zugeordnet, aus welchem heraus dann ein zentrales Sachgebiet weiterentwickelt werden konnte. Auftrag dieses Sachgebietes ist es, die nachhaltige Wirkung der in Anspruch genommenen Hilfen und angrenzenden Leistungen (Effektivitätssteigerung) in Verbindung mit ressourcenbezogenen Überlegungen (Effizienzsteigerung) zu erhöhen und zu steuern. Es arbeitet dafür in den drei Schwerpunktbereichen: ➤ Leistung und Qualität ➤ Kinderschutz und Kooperationen sowie ➤ Statistik und Information Ausgehend von der Annahme, dass etwa 70 % aller Steuerungserfolge an den fallführenden Fachkräften ansetzen, werden insbesondere die von den Fachkräften angewendeten Steuerungsinstrumente regelmäßig in die zentrale Aufmerksamkeit der Abteilung gerückt. Neben einer fachlich fundierten Methodik zur sozialpädagogischen Diagnostik kommen hier die fachlichen Standards bei Entscheidungsprozessen sowie ein Bewusstsein für den eigenen Gestaltungsspielraum und der damit verbundenen Verantwortung zum Tragen. Das Schließen identifizierter Steuerungslücken gehört daher ebenso zu den Aufgaben des Sachgebietes Zentrale Steuerung wie die konsequente Überprüfung der einheitlichen und qualifizierten Anwendung von entwickelten Steuerungsinstrumenten und Standards. Die Jahre 2011 bis 2016 waren im gesamten Dresdner Jugendamt eine Phase des Umbruchs und der Neuorientierung. Eine Organisationsbetrachtung der Abteilung ASD ergab einen deutlichen Personalmehrbedarf und infolgedessen Bedarf an strukturellen Veränderungen. In Verbindung mit altersbedingten Abgängen und sonstiger Personalfluktuation mussten gleichzeitig vier von fünf Abteilungsleitungen sowie mehrere Sachgebietsleitungen neu besetzt werden. Als Ausgliederung aus der Abteilung ASD gibt es nun seit Ende 2012 im Dresdner Jugendamt eine Abteilung Besondere Soziale Dienste (BSD), in der der Pflegekinderdienst, zwei kommunale Inobhutnahmeeinrichtungen sowie fünf kommunale Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Familien angesiedelt sind. Die beiden Fachabteilungen arbeiten strategisch und fallbezogen eng und konsensorientiert zusammen. Die Fallführung liegt - derzeit mit Ausnahme von Dauerpflegen nach § 33 SGB VIII - im ASD. In Folge der Neuorganisation der Abteilungen des Jugendamtes wurde auch das Sachgebiet Wirtschaftliche Hilfe aus der Abteilung ASD ausgegliedert und der Abteilung Grundsatz, Planung und Verwaltung zugeordnet. Hier nimmt es gemeinsam mit den mittlerweile personell aufgestockten Sachgebieten Jugendhilfeplanung und Geschäftsstelle für Verhandlungen sowie dem Bereich Controlling eine wichtige Rolle in der strukturellen Steuerung der Hilfen zur Erziehung ein. 484 uj 11+12 | 2018 ASD: Kommunale Herausforderungen Aktuelle Herausforderungen Wie die meisten deutschen Jugendämter unterliegt auch das Jugendamt der Landeshauptstadt Dresden, und insbesondere der ASD, einem permanenten Anpassungsdruck durch sich verändernde gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen, Gesetzeslagen oder politische und soziodemografische Entwicklungen. So wirken sich Änderungen im Familien- und Kindschaftsrecht ebenso auf Fallaufkommen und Fallqualitäten aus, wie internationale Migrationsbewegungen oder die Inklusion von Menschen ohne und mit Behinderungen. Dazu kommen regionalspezifische Phänomene, wie der verstärkte Konsum von Crystal Meth im grenznahen Bereich und dessen Auswirkungen auf Eltern und deren Kinder. Fallqualitäten Fragt man langjährige Fachkräfte im ASD Dresden, so berichten sie übereinstimmend, dass sich ihre Aufgaben in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren deutlich verändert haben. Neben einem spürbaren Anstieg der Fallzahlen, gestiegenen Anforderungen an die Dokumentation der Fallarbeit und einem Zuwachs an zu beachtenden Rechtsgrundlagen werden vor allem eine veränderte Qualität der Fälle und eine Verschiebung der Fallinhalte angeführt. Während „früher“ überwiegend Familien mit aus heutiger Sicht einfachen Erziehungsproblemen betreut wurden, die die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter des ASD - oft auch ohne formale Hilfe zur Erziehung - für einen überschaubaren Zeitraum begleiteten, werden die aktuellen Fälle als deutlich komplexer und in ihren Thematiken differenzierter beschrieben. Mittlerweile geht es in mehr als 35 % aller Beratungsanliegen um Trennung bzw. Scheidung, Umgangs- oder Sorgerechtsfragen, wobei aktuell rund 30 % aller im ASD bearbeiteten Fälle Beratungsprozesse sind. 49 % aller familiengerichtlichen Verfahren, in denen der ASD mitwirkt, befassen sich mit diesen Themen, wobei knapp 19 % aller Fälle die Mitwirkung im familiengerichtlichen Verfahren beinhalten. Somit sind aktuell fast 20 % aller Dresdner ASD-Fälle, und damit jeder fünfte Fall, im Kontext getrennter Eltern verortet. Infolge der Stärkung von Väterrechten, insbesondere über die Regelungen zur gemeinsamen elterlichen Sorge unverheirateter Eltern, sowie höherer Hürden für Umgangsausschlüsse ist die Zahl von strittigen und hochstrittigen Beratungsverläufen und Gerichtsverfahren spürbar angestiegen. Es entsteht der Eindruck, dass die Fähigkeit, elterliche Konflikte sachlich und im Interesse der Kinder zu klären, abnimmt bzw. dass Eskalationen von den beteiligten Eltern teilweise bewusst herbeigeführt werden, um den jeweils anderen Elternteil in ein schlechtes Licht zu stellen. Diese Fälle binden mittlerweile einen erheblichen Teil der Fachkraftkapazitäten - einerseits durch längere und intensivere Fallverläufe an sich, andererseits durch die Einbindung mehrerer Fach- und Leitungskräfte in einer zunehmenden Zahl von Fällen. Im ASD Dresden wurde aufgrund dieser Entwicklung ein Qualitätszirkel zur Verbesserung der Beratung nach §§ 17 und 18 SGB VIII und der Mitwirkung im familiengerichtlichen Verfahren installiert, der die diesbezüglichen Fachstandards weiterentwickelt und Fortbildungsbedarfe identifiziert. Darüber hinaus ist eine enge Kooperation des ASD mit dem Familiengericht, aber auch mit den Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Familien in kommunaler und in freier Trägerschaft unabdingbar und wird in Dresden seit Jahren entsprechend gelebt. So gibt es neben einem regelmäßigen Fachaustausch des ASD mit dem Familiengericht die Dresdner Initiative Trennungskinder (DIT ), in der Familienrichterinnen und Familienrichter, Verfahrensbeistände, Familienanwälte sowie Fachkräfte des ASD und der Beratungsstellen gemeinsam Lösungen suchen, wie Eltern in Trennungs- und Konfliktsituationen durch die Professionellen so unterstützt und begleitet werden können, dass die betroffenen Kinder diese Phase möglichst unbeschadet durchleben. 485 uj 11+12 | 2018 ASD: Kommunale Herausforderungen Eine besorgniserregende Dresdner Besonderheit unter den Großstädten ist der stark angestiegene Konsum der zu den Stimulanzien zählenden Droge Crystal Meth. Ausgehend von 2006 hat sich die Zahl der Crystal- Meth-bedingten Krankenhauseinweisungen bis zum Jahr 2014 auf das 35-fache erhöht. Seitdem haben sich die Einweisungszahlen zwar wieder halbiert, dennoch stehen in der ambulanten Suchtkrankenhilfe fast die Hälfte aller bearbeiteten Fälle von illegalem Drogenkonsum im Zusammenhang mit Crystal Meth (Gesundheitsamt Landeshauptstadt Dresden 2018). Die Hauptkonsumentengruppe dieser Droge sind Heranwachsende und junge Erwachsene zwischen 18 und 35 Jahren, das heißt, die Generation potenzieller junger Eltern. Im Oktober 2013 hat der ASD daher in einer nichtrepräsentativen Stichtagsabfrage versucht, ein Lagebild über Fälle im Suchtkontext zu bekommen. Die gezielte Auswertung aller Fälle der an diesem Tag anwesenden Fachkräfte ergab, dass in 56 % der Fälle ein kritischer Suchtmittelkonsum (Alkohol, Medikamente und illegale Drogen) nachgewiesen oder vermutet wurde. Trotz methodischer Mängel und Einmaligkeit der Abfrage rief dieses Ergebnis das Thema „Elternschaft und Sucht“ ins Bewusstsein aller ASD-Fachkräfte und löste einen umfangreichen fachlichen Weiterentwicklungsprozess in der gesamten Dresdner Jugendhilfe aus, der noch nicht vollständig abgeschlossen, aber gut vorangeschritten ist. Kostenfaktor In der öffentlichen Wahrnehmung des ASD und seiner Arbeit stehen im Wesentlichen zwei Themen im Vordergrund: 1. Das Eingreifen des Jugendamtes in Kinderschutzfällen - zu früh oder zu spät 2. Die Ausgaben für Hilfen zur Erziehung - zu sparsam oder zu teuer Auch der ASD Dresden steht - von innen und von außen - unter ständiger Beobachtung, wie sich die Kosten im Bereich der Hilfen zur Erziehung (HzE) entwickeln. Ähnlich dem bundesweiten Trend haben sich die Ausgaben für HzE in den letzten sieben Jahren beinahe verdoppelt. Lagen diese in Dresden 2011 noch bei 40,6 Millionen Euro, wurden 2017 bereits 70,3 Millionen Euro für HzE (ohne unbegleitete ausländische Minderjährige) aufgewendet. Die durchschnittlichen Fallkosten sind in Dresden in den Jahren 2011 bis 2017 von 27.300 Euro auf 29.400 Euro gestiegen. Der höchste kostenwirksame Zuwachs ist naturgemäß bei den Ausgaben für stationäre Hilfen zu verzeichnen. Hier stiegen die Ausgaben von 26,6 Millionen Euro auf 47,0 Millionen Euro. Prozentual betrachtet liegt jedoch der Anstieg der Aufwendungen für Eingliederungshilfen (EGH) nach § 35 a SGB VIII spürbar höher. Wurden hierfür 2011 noch 4,4 Millionen Euro aufgebracht, waren dies 2017 bereits 8,0 Millionen Euro. Maßgeblich hier ist der Bereich der ambulanten Eingliederungshilfen, die mittlerweile fast ausschließlich aus Schulintegrationshilfen bestehen. Die Aufwendungen hierfür haben sich in den vergangenen sieben Jahren von 450.000 Euro auf 2,6 Millionen Euro nahezu versechsfacht. Für die Landeshauptstadt Dresden konnten über das amtsinterne Fachcontrolling die wesentlichen Faktoren und einige dahinterliegende Ursachen für die Kostenentwicklung der letzten Jahre herausgearbeitet werden. Die Hauptfaktoren für die Kostenentwicklung sind steigende Fallzahlen, eine steigende Leistungsdichte und steigende Fallkosten. Ursachen dafür sind unter anderem in der soziodemografischen Entwicklung innerhalb der Stadt, aber auch in den oben beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen zu finden, für die die Jugendhilfe ein Seismograf ist. 486 uj 11+12 | 2018 ASD: Kommunale Herausforderungen So kann Dresden seit mehreren Jahren einen deutlichen Einwohnerzuwachs im Bereich der 0bis 20-Jährigen verzeichnen, vorrangig durch Geburten, aber auch durch Zuzüge. Waren es im Jahr 2011 noch gut 86.000 Jungeinwohner (JEW), sind dies, wie oben benannt, nunmehr knapp 110.000 Kinder, Jugendliche und Heranwachsende. Basis für die Leistungsdichte (LD) sind die Jahresstichtagszahlen, d. h. die durchschnittliche Zahl aller an 12 definierten Stichtagen des betrachteten Jahres laufenden Fälle. Selbst bei einer stabilen LD von rund 17 laufenden HzE-Fällen je 1.000 JEW (Ausgangswert 2011) hätte die steigende Zahl der JEW bis 2017 zu einem Anstieg um 400 Fälle geführt. Der tatsächliche Anstieg von 2011 zu 2017 lag jedoch bei 900 Fällen, was bedeutet, dass die Leistungsdichte von 17 auf 22 HzE je 1.000 JEW gestiegen ist. Dabei war der steilste Anstieg in den Jahren 2013 (LD: 19) bis 2015 (LD: 23) zu beobachten, seit 2016 hat sich die Leistungsdichte vorerst stabil bei 22 HzE je 1.000 JEW eingepegelt. In Dresden konnten über tarifliche und gesellschaftliche Entwicklungen hinaus auch Ursachen für die Kostenentwicklung identifiziert werden, die mit der Organisation und Struktur sowie mit der Arbeitsweise des ASD an sich zu tun hatten. Wie oben beschrieben, fiel ab Ende 2012 eine deutliche personelle Unterbesetzung des ASD mit einer fast zweijährigen Vakanz der Abteilungsleitung zusammen. Dies führte einerseits zu einer verstärkten Auslagerung ehemals durch die ASD-Fachkräfte selbst begleiteter Fallkonstellationen an freie Träger der Jugendhilfe im Rahmen von HzE, andererseits zu einer eingeschränkten Reaktionsfähigkeit auf sich verändernde Rahmenbedingungen, Fallkonstellationen und jugendhilfliche Bedarfe. Es fehlte an einer klaren und vor allem einheitlichen Herangehensweise, die Kontrolle von Fachstandards erfolgte nur noch teilweise und nach unterschiedlichen Kriterien. Mit Besetzung der Abteilungsleitung und ersten strukturellen Veränderungen wurde die € 80.000.000,00 € 70.000.000,00 € 60.000.000,00 € 50.000.000,00 € 40.000.000,00 € 30.000.000,00 € 20.000.000,00 € 10.000.000,00 € 0,00 Aufwendungen für HzE und EGH nach Jahr 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 ambulante Hilfen Summe HzE stationäre Hilfen Summe EGH ambulante EGH Gesamtausgaben Abb. 1: Entwicklung der Aufwendungen für Hilfen zur Erziehung (HzE) und Eingliederungshilfen (EGH) der Landeshauptstadt Dresden von 2011 bis 2017 487 uj 11+12 | 2018 ASD: Kommunale Herausforderungen Organisationsaufmerksamkeit wieder auf den Prozess der Steuerung von Hilfen zur Erziehung gelenkt. Mit einem Steuerungsrahmen (Abb. 2), der auf regelmäßigem und systematischem Berichtswesen basiert, konnten direkte Handlungsbedarfe abgeleitet und bearbeitet werden. Die Dokumentation aller mittel- und langfristigen Steuerungsaktivitäten erfolgt mittels Steuerblättern, die den jeweiligen Erfüllungsstand zeigen. Gesellschaftliche Entwicklungen Gesetzlicher Auftrag Politischer Auftrag Ziele Jugendhilfeplanung Organisationsziele Aufgabenerfüllung Fallbearbeitung Organisationsentwicklung Infrastrukturentwicklung Umsetzen der Maßnahmen Vorstellen von Ergebnissen in Fachthemen und Einzelrücksprachen Quartalsweise Erhebung des Arbeitsstandes Ableiten von Handlungsbedarf Steuerungsziele Steuerungsebene Steuerungsmaßnahmen = Steuerblätter Berichtswesen Datenerfassung regelmäßige Berichtlegung Auswertung der Daten Abgleich mit Zielen gesetzlicher Auftrag politischer Auftrag planerische Vorgaben Organisationsvorgaben Erklärungsansätze für erfasste Daten Abweichungen Entwicklungen Abb. 2: Steuerungsrahmen des ASD Dresden 488 uj 11+12 | 2018 ASD: Kommunale Herausforderungen Die Steuerung im Bereich Hilfen zur Erziehung, Eingliederungshilfen und angrenzende Aufgaben setzt hier auf drei Ebenen an, mit unterschiedlichen Wirkungsgraden: ➤ Einzelfallebene - 70 Prozent Wirkung: Ansatzpunkt sind fallführende Fachkräfte (= zentrale Steuerungsebene laut Schrapper/ Enders 2011): Stellenbesetzung, Personalentwicklung und Fortbildung, Auftragsklarheit, Kostenbewusstsein. ➤ Organisationsebene - 20 Prozent Wirkung: Ansatzpunkt sind hier die Organisationsaufmerksamkeit und die Rahmenbedingungen für die Aufgabenerfüllung der fallführenden Fachkräfte. ➤ Infrastrukturebene - 10 Prozent Wirkung: Ansatzpunkt ist die Leistungs- und Infrastrukturentwicklung, insbesondere Qualitätsentwicklung von Angeboten und Ausbau einer bedarfsgerechten Infrastruktur. Über eine stringente Anwendung des Steuerungsrahmens sowie Kommunikation und Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen auf den drei Ebenen konnte der Anstieg der Fallzahlen zunächst gedämpft, ein weiterer Anstieg der Leistungsdichte gestoppt werden. Zukünftig sollen vor allem lange und sich ausweitende Hilfeverläufe durch einen frühzeitigen Zugang zur Jugendhilfe und schnelleren Hilfebeginn verhindert werden. Personalausstattung Im bundesweiten Diskurs um Fallzahlen und Arbeitsbelastung der ASD der Jugendämter wird regelmäßig eine verbindliche Fallobergrenze eingefordert. Dabei kristallisiert sich in letzter Zeit eine Zahl von 35 laufenden Fällen je Vollzeitkraft als Mainstream heraus. Auch in Dresden findet diese Diskussion statt, wobei bereits ein Blick in die umliegenden Landkreise oder innerhalb des interkommunalen Vergleichsringes Jugendhilfe der bundesdeutschen Großstädte der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) zeigt, wie unterschiedlich „ein Fall“ definiert ist und wie unterschiedlich der Aufgabenzuschnitt einer ASD-Fachkraft sein kann. Im Jahr 2017 wurden durch den ASD Dresden gut 10.800 Fälle im gesamten Aufgabenspektrum von Beratung bis Inobhutnahme bearbeitet. Setzt man diese Fallzahl ins Verhältnis zur personellen Ausstattung des ASD mit Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen Ende 2017, so hat jede der rund 85,5 VZÄ durchschnittlich 127 Fälle im Jahr bearbeitet. Problematisch an dieser Aufrechnung sind der unterschiedliche Zeitaufwand und die unterschiedliche Intensität der Fallbearbeitung je nach Aufgabe. So erfordert nach den Fachstandards des ASD Dresden die Bearbeitung eines durchschnittlichen Familiengerichtsverfahrens nur etwa die Hälfte der Zeit einer durchschnittlichen HzE, während ein Inobhutnahmefall gut die doppelte Arbeitszeit in Anspruch nimmt. Das Aufkommen der verschiedenen Aufgaben ist in den einzelnen Sachgebieten des ASD Dresden recht unterschiedlich verteilt. So gibt es in drei Sachgebieten eine deutlich überdurchschnittliche Zahl an KWG-Abprüfungen (Kindeswohlgefährdung), während es in zwei Sachgebieten besonders viele familiengerichtliche Verfahren gibt. Für eine vergleichbare Aussage zur Fallbelastung müssen daher die absoluten Fallzahlen entsprechend des dafür vorgesehenen Zeitaufwands gewichtet werden. Gemessen am jährlichen Arbeitsaufwand für eine HzE (= 1 Fall) ergibt sich eine gewichtete Gesamtfallzahl von 8.361 bearbeiteten Fällen im Jahr 2017 (Tab. 1) und somit eine Jahresfallbelastung von durchschnittlich 98 Fällen je VZÄ. 489 uj 11+12 | 2018 ASD: Kommunale Herausforderungen Die durchschnittliche Zahl laufender Fälle (Jahresstichtagszahl) lag 2017 bei 2.102 HzE und 290 Eingliederungshilfen (EGH). Das heißt, eine Vollzeitfachkraft im ASD Dresden hatte 2017 im Schnitt 24,6 laufende HzE und 3,5 EGH (gewichtet 4) zu bearbeiten, zuzüglich einer derzeit über die Fachsoftware nicht bestimmbaren Anzahl laufender anderer Aufgaben. Der beschriebenen Betrachtungsweise vorausgegangen war eine Organisationsuntersuchung zur Personalbemessung durch die Firma Ramboll Management im Jahr 2007/ 2008 sowie eine innerbetriebliche Organisationsbetrachtung 2011 im Zusammenhang mit der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes zum 1. Januar 2012. In beiden Untersuchungen standen die im ASD Dresden umgesetzten fachlichen Verfahren im Fokus. Es wurde betrachtet, wie viel Jahresarbeitszeit durchschnittlich benötigt wird, um einen Fall sach- und fachgerecht zu bearbeiten und zu dokumentieren. Verbunden mit einer Betrachtung der Fallzahlenentwicklung über alle Aufgaben des ASD hinweg, wurde die benötigte Personalausstattung ermittelt. Im Ergebnis der Untersuchungen wurde ein Fehlbedarf von 42,5 VZÄ sozialpädagogischer Fachkraft festgestellt, was bei einem IST-Stand von 53 VZÄ im Jahr 2007 fast eine Verdopplung der sozialpädagogischen Fachkräfte bedeutete. Um diesen Zuwachs als Organisation umsetzen zu können, musste die Personalzuführung über mehrere Jahre hinweg gestaffelt werden. Letztlich dauerte die reine Aufstockungsphase von September 2012 bis Dezember 2016 an. Ende 2016 waren mehr als 60 % der fallführenden ASD-Fachkräfte weniger als drei Jahre im Jugendamt beschäftigt. Damit gibt es einige neue Folgen zu bewältigen: Ein gestiegener Qualifizierungsbedarf durch die sich verändernde Bewerberlage und die gestiegene Personalfluktuation durch Nachbesetzung von Vertretungsstellen. Derzeit wird für den ASD ein Gesamtpersonalkonzept erarbeitet. Darin findet sich neben einem Stellenbesetzungsverfahren für externe und interne Stellen ein Traineeprogramm mit jährlich fünf Trainee-Stellen für ASD und BSD, ein erweitertes Einarbeitungskonzept für neue und ein Fortbildungskonzept für bereits länger Beschäftigte. Über diesen Weg versucht das Jugendamt der Landeshauptstadt Dresden, dem zunehmenden Mangel an geeigneten und gut qualifizierten Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen auf dem Bewerbermarkt zu begegnen und gleichzeitig die Beschäftigten für eine langfristige Arbeit im Jugendamt und im ASD zu begeistern. Aufgabe bearbeitete Fälle 2017 Anteil in % Zeitaufwand p. A. (Ø) 1 Wichtungsfaktor Fallzahl gewichtet Anteil in % Beratung KWG Inobhutnahme FamG HzE EGH 3227 1692 232 2030 3198 478 29,7 15,6 2,2 18,7 29,5 4,4 10 12,3 35,75 7,7 16,8 19,9 0,6 0,73 2,13 0,46 1 1,18 1936,2 1235,2 494,2 933,8 3198,0 564,0 23,2 14,8 5,9 11,2 38,2 6,7 Gesamt 10857 100,0 8361,4 100,0 Tab. 1: Fallzahlen und Fallverteilung nach Aufgaben im ASD Dresden 2017 490 uj 11+12 | 2018 ASD: Kommunale Herausforderungen Abschlussbetrachtung und Ausblick Die vorstehenden Ausführungen verdeutlichen, dass nach Jahren zielstrebiger und beharrlicher Aufbauarbeit ein stabiler und leistungsfähiger ASD geschaffen werden konnte, der durch Effizienz und Anpassungsfähigkeit (an neue Aufgaben: Migration) sicher auch zukunftsfähig ist. Die Herausforderungen der nächsten Jahre, die sich schon abzeichnen, sind: ➤ Vollständige Umsetzung des Inklusionsanspruches ➤ Verbesserung der statistischen Aussagefähigkeit durch Einführung der Auswertungs- und Steuerungssoftware PROSOZ KRISTALL ➤ Eigennützige, praxisorientierte Beiträge zur Fachkraftausbildung an den „benachbarten“ Hochschulen und der Universität mit dem Ziel der Fachkraftgewinnung ➤ Arbeitsplatz 4.0 in der sozialen Arbeit? Das Jugendamt der Landeshauptstadt Dresden steht weiterhin in allen relevanten Fachgremien zum Austausch mit anderen Ämtern zur Verfügung, um Erfahrungen zu diskutieren und neue, innovative Impulse anderer Städte aufzunehmen. Enrico Birkner Landeshauptstadt Dresden Jugendamt Abteilung Allgemeine Soziale Dienste E-Mail: jugendamt@dresden.de Literatur Gesundheitsamt Landeshauptstadt Dresden (Hrsg.) (2018): Dresdner Suchtbericht 2018. In: https: / / www. dresden.de/ media/ pdf/ gesundheit/ Sucht_Suchtbe richt_2018.pdf, 28. 8. 2018 Schrapper, C., Enders, S. (2011): Wer (und was) steuert die Hilfen zur Erziehung? Abschlussbericht der AG Fallsteuerung. Hrsg. v. IKO-Vergleichsring d. Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGST). Köln/ Koblenz