eJournals unsere jugend 70/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art75d
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2018
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Rezension: Peter-Ulrich Wendt (2017): Lehrbuch Methoden der Sozialen Arbeit

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2018
Wolfgang Müller
Methoden im Wandel der Zeiten: Ein kurzer Blick zurück. Die professionellen Methoden in der Sozialen Arbeit werden wieder beschrieben, gedruckt, gelehrt und nachgefragt. Das war nicht immer so. Nach der Niederlage Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg machten nordamerikanische Bildungsoffiziere und deutsche Fachleute, die von Hitler vertrieben worden waren, die damals klassischen Methoden von Einzelfallhilfe und Gruppenpädagogik bei uns bekannt. Sie waren von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) totgeschwiegen und durch eine rassistische Bevölkerungs- und Erbgesundheitslehre ersetzt worden. [...]
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504 uj 11+12 | 2018 Rezensionen Methoden im Wandel der Zeiten: Ein kurzer Blick zurück Die professionellen Methoden in der Sozialen Arbeit werden wieder beschrieben, gedruckt, gelehrt und nachgefragt. Das war nicht immer so. Nach der Niederlage Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg machten nordamerikanische Bildungsoffiziere und deutsche Fachleute, die von Hitler vertrieben worden waren, die damals klassischen Methoden von Einzelfallhilfe und Gruppenpädagogik bei uns bekannt. Sie waren von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) totgeschwiegen und durch eine rassistische Bevölkerungs- und Erbgesundheitslehre ersetzt worden. Wir mussten also radikal umlernen und haben es nicht zuletzt mithilfe der Methoden geschafft. Weil diese Methoden nicht nur beschrieben, „wie die Sozialen es machen sollten“, sondern weil sie ausgesprochen oder im Handeln verankert, ein Bild vom Menschen transportierten, das aus christlichen, humanistischen oder sozialistischen Traditionen stammte. Das war in den 1950er und 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Danach stellten Studierende einer neuen Generation die radikalere Frage nach einer Gesellschaft, die soziale Probleme, soziale Spaltungen und soziale Hilfsbedürftigkeit produzierte oder zuließ, und die Soziale Arbeit benutzte, damit „uns diese Gesellschaft nicht um die Ohren fliegt“. Im Angesicht dieser Grundfrage hielten die Studierenden (und viele Praktiker) dieser Generation die ‚Methodenfrage‘ für pure ‚Handwerkelei‘. Sie vertrauten darauf, dass Profis, wenn sie das richtige Bewusstsein hätten, das Richtige schon von selber tun würden. Wieder ein paar Jahrzehnte später waren es vor allem deutsche Gerichte, die sich in Streitfällen zwischen Bürgern und ihren Jugend- und Sozialämtern danach erkundigten, ob die Profis denn nach den Regeln der Kunst - also professionell - gehandelt hätten. Die Frage nach den anerkannten klassischen Methoden wurde wieder aktuell. Die Methoden in der Gegenwart Da stehen wir heute. Das Lehrbuch von Peter- Ulrich Wendt - 2017 schon nach zwei Jahren in 2. Auflage erschienen, hat es verdient. Der Autor war von 1982 - 2009 vorwiegend in der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Heute ist er Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Sachsen-Anhalt, Mitglied des Bundesjugendkuratoriums und Professor für Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Er weiß also, wovon er schreibt. Wendt stellt seine ‚Methodenlehre’ in einen allgemeinen Rahmen zwischen einerseits ethischmoralischen Prinzipien und positiven Vorstellungen vom Wesen von uns Menschen und andererseits persönlichen Empfehlungen, wie wir uns als Profis bei dringlichen und bedrohlichen Anforderungen im beruflichen Alltag durch ‚Achtsamkeit und Selbstsorge’ unseren klaren Verstand, unsere offenen Sinne und unsere Empathie für das Wohlergehen unserer Klienten und Schutzbefohlenen bewahren und uns gegen Burn-Out-Symptome wappnen können. Denn - das steht auf den ersten 50 Seiten seines dicken Lehrbuches - unser methodisches Handeln muss eingebettet sein in ein positives Bild von allen Menschen - egal, ob sie uns gefallen oder nicht - und gleichzeitig in ein realistisches Bild vom wohl kritischen Zustand unserer Gesellschaft. Menschen sind generell Peter-Ulrich Wendt (2017): Lehrbuch Methoden der Sozialen Arbeit 2. überarbeitete Auflage, Beltz Juventa, Weinheim und Basel, 464 Seiten, € 19,95 uj 11+12 | 2018 505 Rezensionen handlungsfähig und gestaltungsmächtig. Sie können ihr Leben selber führen und in Solidarität mit anderen an einer Gesellschaft mitarbeiten, die menschenwürdig und lebenswert ist: Wenn ihnen nicht Wege verbaut und Entwicklungsmöglichkeiten vorenthalten werden. Nicht aus Böswilligkeit Einzelner, sondern durch die Strukturen einer Gesellschaft, deren Wirtschaft eher an der Marktförmigkeit ihrer Waren und Dienstleistungen interessiert, und nicht zuförderst am Wohlergehen ihrer Bürger orientiert ist. Was bleibt für die Soziale Arbeit zu tun? Grundlegende Perspektiven Sozialer Arbeit in dieser Situation sind die Stärkung der Selbsthilfekräfte des Einzelnen und seiner Solidarität mit anderen. Wendt nennt das ‚Empowerment‘. Ich übersetze es mir mit dem umgangssprachlichen Spruch: „Ich will helfen, Deine Kräfte zu stärken. Ich will nicht über Deine Schwächen jammern“. Wir haben das übrigens früher ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ genannt und uns auf eine lange europäische Tradition bezogen. Aber Wendt hat sich entschieden, Veröffentlichungen im Wesentlichen nur bis zum Jahre 2010 zurückzuverfolgen. Dabei bleiben historische Plausibilitäten auf der Strecke. Schade bei den immerhin nahezu 1.000 Titeln im Literaturverzeichnis von 24 Druckseiten. Wie weiter im Einzelnen? Nach dieser allgemeinen Einführung kommt der Autor im III. Hauptteil seines Lehrbuches zu den drei klassischen Handlungsformen der Sozialen Arbeit und ihren aktuellen Weiterentwicklungen. Er beginnt immer mit konkreten Fallbeispielen. Es folgen Erläuterungen, Interpretationen, mögliche Alternativen und zum Schluss jeden Kapitels Anregungen zur Sicherung des Verständnisses seiner Leser und zur vertiefenden Diskussion in Dreiergruppen mit anderen Studierenden. Für die sozialpädagogische Vorschulerziehung und Bildung, die Arbeit in der Kita und im Wohnheim und die offene Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen ganz allgemein sind vor allem die Kapitel 8 und 9 von Interesse: „Mit Gruppen arbeiten: Soziale Gruppenarbeit“ und „Gruppen bilden: Bildung als Methode“. Hier wird deutlich: Wendt sieht die Soziale Arbeit als einen Ort sozialen Lehrens und sozialen Lernens in informellen und nonformalen Zusammenhängen - also in außerschulischen Institutionen und nonformalen Gruppierungen von Altersgleichen und Gleichgesinnten. Historische Beispiele in Deutschland sind der Kindergarten - übrigens ein Kind der bürgerlichen Revolution von 1848 - und die bürgerlichen und proletarischen Jugendbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren selbstorganisierten ‚Fahrten’, den ‚Fahrtenliedern’, dem abendlichen ‚Abkochen’ über dem ‚Hordenpott’ und dem Vortragen selbst gemachter Geschichten. Die didaktischen Konzepte der ‚Gruppenpädagogik’ sind inzwischen in andere Formen der informellen Bildung von Erwachsenen, der Fortbildung von Führungskräften in Wirtschaft und Verwaltung und in die Gestaltung von Konferenzen und Kongressen ausgewandert. Wendt nennt die Fischbowl-Diskussion, das World Café und die Open Space Konferenz, die Zukunftswerkstatt und das Planspiel. Ich bin mir nicht sicher, ob solche Erweiterungen des Spektrums der Sozialen Arbeit nicht für Studierende zu Beginn ihres Studiums eher verwirrend sind. Zumal aktuelle Beispiele, so illustrativ sie auch sind, häufig schnell wieder veralten oder weiterentwickelt werden müssten. Die ‚Steckbriefe’ von Michael Galuske, Unikate der sozialarbeiterischen Literatur in seinem Lehrbuch (Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung.10. Auflage 2013, dort ab S. 163) sind ein Beispiel für die verblassende Aussagekraft von prägenden Beispielen, wenn sie nach dem frühen Tod des Autors nicht fortlaufend aktualisiert wurden und damit nicht weiter verfolgt werden können. 506 uj 11+12 | 2018 Rezensionen Weil Erzieherinnen und Erzieher es nicht nur mit (kleinen) Kindern zu tun haben, sondern auch mit besorgten Eltern pädagogische Gespräche über das soziale Verhalten ihrer Kinder führen, wären für sie auch die Kapitel 3 (Grundzüge subjektzentrierter Gesprächsführung) und 6 (Anlassangemessene soziale Beratung) von Interesse. Denn: ‚Beraten‘ ist nicht identisch mit ‚Einen guten Rat geben‘. Es ist auch nicht zu verwechseln mit einem ‚Tipp‘, den ich im Vorübergehen fallen lasse. Es erfordert eine ziemlich genaue Kenntnis des Beraters über seinen Gesprächspartner, über den Fall und seine Geschichte, über die mit Fragen einzuholenden Zusatzinformationen und über die verbale Gestaltung des ‚Rates‘, der in den meisten Fällen zunächst einmal gar nicht erbeten worden ist. Es verlangt aktives Zuhören und die erkennbare Bereitschaft, den zu Beratenden richtig zu verstehen, in seiner Selbsteinschätzung nicht zu verletzen und dennoch in seiner Einschätzung der Lage und seinem Verhalten dem Kind gegenüber weiter zu helfen. Das Lehrbuch endet mit einem Schlusskapitel, das mich zunächst stutzig gemacht hat: ‚Soziale Arbeit als Kunst‘. Ich selber hatte mich zunächst in meinem eigenen methodischen Handeln an dem methodischen Handwerk meiner Ausbildungen, den wissenschaftlichen Grundlagen meiner Lehrbücher und meinen konkreten Erfahrungen orientiert. Gewiss: Schriftsteller hatte ich werden wollen - aber Erziehung betreiben wie eine Kunst? Wendt nähert sich dieser Frage mit der Einführung eines Begriffs, der unser Handeln in ausgewählten Situationen jenseits von sinnlicher Erfahrung, gedanklicher Erinnerung und übertragener Deutung beeinflussen könnte. Er schreibt dann umgangssprachlich von ‚Bauchgefühl’, wissenschaftlich von ‚Intuition‘ und verwendet für sich den Ausdruck ‚Navigation‘ (in unbekanntem Gelände). Denn es gibt gerade in der Sozialen Arbeit mehr Dinge, als wir uns in unserer Schulweisheit träumen lassen, wie der englische Tragödienschreiber uns wissen lässt. Wir treffen auf außergewöhnliche Menschen mit außergewöhnlichen Problemen. Wir haben es mit Kindern zu tun, die aus Großfamilien in uns fremden Erdteilen stammen und die anders ‚ticken‘, als wir es gewohnt sind und gelernt haben. In vielen solchen Fällen sind wir darauf angewiesen, die vergleichsweise sicher vorgegebene Route unserer Methodenkenntnisse zu verlassen und ‚auf Sicht zu fahren‘ = zu navigieren. Zur Unterstützung dieses Vorschlags, mit dem sein Lehrbuch endet, zitiert Peter-Ulrich Wendt den Ratschlag von Alice Salomon, man solle nicht vergessen, dass die durchdachteste Methode nur Werkzeug ist. „Recht handhaben kann es nur ein Mensch, dessen Tun aus einem wachen Geist quillt.“ Prof. Dr. Dr. h.c. C. Wolfgang Müller, Berlin DOI 10.2378/ uj2018.art75d