eJournals unsere jugend 70/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
111
2018
7011+12

Laudatio für C. W. Müller

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2018
Dieter Kreft
Brief an einen Freund: Prof. Dr. Dr. h. c. C. Wolfgang Müller zum 90. Geburtstag am 12. November 2018 Lieber C. W., dass Du ein Grande unserer Zunft bist, wissen wir. Es ist vielfach beschrieben worden, was Du für die Entwicklung und Ausgestaltung der Sozialen Arbeit nach 1945 geleistet, beigetragen hast: Als Hochschullehrer und Forscher, als ehrenamtlicher Verbandspolitiker, als Autor erfolgreicher Fachbücher, als ein begehrter Tagungsredner, einflussreicher Berater, engagierter Fort- und Weiterbildner, Übersetzer von Lehrbüchern aus dem angelsächsischen Bereich sowie als Projektemacher. Der nebenstehende Kasten mit Deiner Vita und Deinen wichtigsten Publikationen und Projekten legt davon Zeugnis ab. Und da dachte ich mir, dass zu so einem doch besonderen Geburtstag ein Format angemessen wäre, das hinter dem hoch geschätzten und hoch geehrten Fachkollegen auch den ungewöhnlichen Menschen vorstellt. […]
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500 uj 11+12 | 2018 Laudatio für C. W. Müller Wie alles nach meiner Erinnerung begann Da gibt es Anfang der 1970er Jahre ein Erlebnis, von dem an wir unsere Beziehungen von dem wechselseitigen beruflichen Respekt über die dann immer enger werdende berufliche Zusammenarbeit bis hin endlich zu einer gefestigten Freundschaft entwickelten: Ich war gerade im Mai 1971 Senatsdirektor (Staatssekretär) in der Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport geworden - mit unserer gemeinsamen Freundin Ilse Reichel an der Spitze. Und ich versuchte damals, in dem eskalierenden politischen Streit um die Besetzung des Bethanienkomplexes und die dortige Bildung eines selbstorganisierten Wohnkollektivs in Berlin-Kreuzberg (später von den Jugendlichen ‚Georg-von-Rauch-Haus‘ genannt) eine fachpolitische Lösung zu finden, die von den traditionellen Heimaufsichtsvorschriften abwich. Du erinnerst Dich, es wurde später ein Nutzungsvertrag geschlossen. Für etliche im Lande ein Beispiel neuen Handelns, in der Besetzerszene und bei ihren Unterstützern eine ‚Verschleierung von Herrschaftsverhältnissen’. Und zur Diskussion dieses Streites hattest Du mich in die Pädagogische Hochschule eingeladen. Das allein war schon ungewöhnlich für den Hochschullehrer Müller, zumindest mutig, denn Senatsmitglieder galten damals in studentischen Kreisen als ‚Unpersonen’. Entsprechend gespannt bis aggressiv war die Stimmung in dem vollen Hörsaal. Und ich sehe bis heute dieses Bild: C. W. Müller lässig auf einer Art Podest sitzend, die brodelnde Diskussion kompetent und gekonnt so moderierend, dass sie nicht aus dem Ruder lief. Ich ‚verlor jedenfalls nur nach Punkten’, mehr war auch mit Deiner Unterstützung nicht drin. Seither bewundere ich Deine Diskussionseleganz und habe mich immer gefragt, woher Du das wohl kannst? Brief an einen Freund: Prof. Dr. Dr. h. c. C. Wolfgang Müller zum 90. Geburtstag am 12. November 2018 Lieber C. W., dass Du ein Grande unserer Zunft bist, wissen wir. Es ist vielfach beschrieben worden, was Du für die Entwicklung und Ausgestaltung der Sozialen Arbeit nach 1945 geleistet, beigetragen hast: Als Hochschullehrer und Forscher, als ehrenamtlicher Verbandspolitiker, als Autor erfolgreicher Fachbücher, als ein begehrter Tagungsredner, einflussreicher Berater, engagierter Fort- und Weiterbildner, Übersetzer von Lehrbüchern aus dem angelsächsischen Bereich sowie als Projektemacher. Der nebenstehende Kasten mit Deiner Vita und Deinen wichtigsten Publikationen und Projekten legt davon Zeugnis ab. Und da dachte ich mir, dass zu so einem doch besonderen Geburtstag ein Format angemessen wäre, das hinter dem hoch geschätzten und hoch geehrten Fachkollegen auch den ungewöhnlichen Menschen vorstellt. uj 11+12 | 2018 501 Laudatio für C. W. Müller Inzwischen weiß ich es: Von Deiner Mutter, die für führende Modehäuser in Dresden gearbeitet hat, sie gab Dir die Sicherheit durch emotionale Zuwendung und das geschulte Interesse für Kleidungs- und Modefragen - ein Grund für Deine stets gepflegte italienische Kleidungs- Modernität. Und von Deinem Vater, einem promovierten Volkswirt, ein sog. Bodenreformer (,kein Privatbesitz an Grund und Boden‘) und Reformpädagoge (‚Kindern Raum geben für ihre eigene Entwicklung und ihnen vertrauen’): Ein sozialdemokratischer Sozialist seit 1920. Weil sie hier hin passt, diese Anmerkung für andere, die gelegentlich danach fragen: Das C. in Deinem Namen meint ‚Carl’, übergeben von Deinem Vater, eine Tradition in Deiner Familie seit Generationen. So eingebettet, hast Du von Deinen reformpädagogischen Eltern bei Deinen kognitiven und politischen Entwicklungen profitiert. C. Wolfgang Müller: Hochschullehrer mit Bodenhaftung Geboren am 12. November 1928 in Dresden, Abitur 1947 am Realgymnasium in Chemnitz/ Sachsen. Anschließend Dolmetscherausbildung in Leipzig und Studium europäischer Kulturwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin, der Freien Universität Berlin und der Universität in Basel. Promotion in Publizistikwissenschaft, Theaterwissenschaft und Germanistik in Berlin (1956). Anschließend Journalist, Jugendpfleger und Dozent (später Leiter) einer Fortbildungsstätte für Jugendarbeit und Jugendgruppenarbeit in Berlin. Postdoktorales Studium der Soziologie, Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik in Berlin und den USA (Harkness Fellow). 1965 Berufung zum Professor für Erziehungswissenschaft/ Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Berlin. Ab 1980 Universitätsprofessor und Gründer des Instituts für Sozialpädagogik an der Technischen Universität Berlin (1998 emeritiert). Weiterhin tätig in der Fachpublizistik und der Forschung. 2001 - 2006 Herausgeber von „unsere jugend“ und weiterhin Beiratsmitglied Spezialgebiete: Methodisches Arbeiten in der Sozialen Arbeit, Beratung im Gespräch, Gruppenpädagogik, Gemeinwesenarbeit. Die Rolle sozialer Bewegungen bei der Entwicklung von Methoden Sozialer Arbeit, Handlungsforschung und Evaluationsforschung Gremienarbeiten: Beratung des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems und seiner Mitarbeiter; Mitarbeit in Gremien der Arbeiterwohlfahrt und befreundeter wissenschaftlicher Institute (z. B. Stiftung SPI-Berlin) Ausgewählte Literaturhinweise Müller, C. W., Mollenhauser, K., Giesecke, H., Kentler, H. (1964): Was ist Jugendarbeit? Vier Versuche zu einer Theorie. München (Reprint 1986) Müller, C. W. (Hrsg.) (1995): Einführung in die Soziale Arbeit. Weinheim/ Basel Müller, C. W. (2013): Wie Helfen zum Beruf wurde. 6. Aufl. Weinheim/ Basel Müller, C. W. (Hrsg.): Berufsfelder der Sozialen Arbeit. 12 Bände. Weinheim/ Basel seit 1987 Müller, C. W. (1999): Sozialpädagogisches Brevier. Texte aus der praktischen Arbeit von 30 Jahren. Münster Müller, C. W. (2008): Helfen und Erziehen. Soziale Arbeit im 20. Jh. 2. erw. Aufl. Weinheim/ Basel Kreft, D., Müller, C. W. (Hrsg.) (2017): Methodenlehre in der Sozialen Arbeit. 2. überarb. und erw. Aufl. München 502 uj 11+12 | 2018 Laudatio für C. W. Müller Und so habe ich Dich auch immer erlebt: Umfassend gebildet, vieles versucht in mehreren Studienfächern, schließlich mit einer „reich bebilderten Geschichte des französischen und deutschen Kabaretts zwischen 1881 und 1905 promoviert“. Und als einen, der ‚das Schreiben‘ beherrschte. Eigentlich wolltest Du ja Journalist werden, ‚Feuilletonchef bei der SZ‘, Dein Studium hast Du Dir als einer der Berliner Korrespondenten des SPIEGEL verdient. „Der heißblütige rotzige Schreibstil dort entsprach wohl dem Lebensstil eines 22-jährigen sächsischen Ausgewanderten“ - gelegentlich kann man diese besondere sprachliche Grundfärbung noch erkennen. Stattdessen wurdest Du durch glückliche Lebensumstände „keine journalistische Edelfeder, sondern ein schlichter (und schlecht bezahlter) Gruppenpädagoge und Jugendpfleger“. Aber in Deinen Schriften und auch in Deinem Tun, ich denke da an die unzähligen Schreibwerkstätten von Dir, kam immer wieder Deine heimliche Sehnsucht ans Licht. Ich habe mal davon gesprochen, „C. W. Müller ist ein wundervoller Erzähler, der beschreibt, wie sich die Profession entwickelte … und das mit literarischer Qualität“ - stimmt bis heute! Und was Du alles für mich gewesen bist Ein bedeutender Anreger und ein Traumerfüller. So wollte ich ja eigentlich das Projekt ‚Wörterbuch Soziale Arbeit‘ mit Dir zusammen herausgeben. Aber Du wusstest damals schon als Erfahrener, was damit verbunden war. Du winktest freundlich ab und versprachst dann aber, uns - Ingrid Mielenz und mich - nach Kräften dabei zu unterstützen und durch kluge Beiträge zu begleiten - so geschehen von der 1. Auflage 1980 bis zur 8. Auflage 2017 - ohne Deine Unterstützung hätten wir das nicht so geschafft. Und der Traum? In Berlin-Charlottenburg gab es am Ernst-Reuter-Platz die wunderbare Buchhandlung Kiepert (inzwischen Geschichte), in der man noch in Fachbüchern blättern konnte, weil die wichtigsten und aktuellsten auslagen. So auch viele Bände aus der kleinen roten Reihe von UTB. Ich stand immer wieder mal davor und träumte davon, auch einmal ein so kleines rotes Buch zu machen! Es dauerte dann bis 2010, dass wir beide zu Deinem zentralen Lebensthema, der Methodenlehre, eines bei UTB herausbrachten. Und dass wir beiden, inzwischen in die Jahre gekommenen, Herren 2017 auch noch eine aktualisierte 2. Auflage herausgaben, das hatte was. Auch das wäre ohne Deine jahrzehntelange Erfahrung, Dein so überragendes reflektiertes Wissen, so nicht gelungen. Ich bin jedenfalls schon ein wenig stolz darauf, das mit Dir zusammen gemacht zu haben, nun, ich wohl schon eher in Deinem Windschatten. In diesem kleinen Lehrbuch sind übrigens auch andere Deiner lebensbegleitenden Themen von Dir behandelt worden: Die Gruppenpädagogik und Gruppendynamik und damit auch die Jugendarbeit - für Dich sei das ‚der letzte Abenteuerberuf, den es in der heutigen Zeit noch gibt‘, hast Du einmal gesagt. Schließlich das Schreiben und das Kommunizieren, das Spielen in allen Variationen. Dazu passt für mich wieder ein Zitatgeschenk von Dir aus einem der letzten Telefonate: „Was für mich Sozialpädagogik mit jungen Menschen kennzeichnet: Zwar erzieherischer, aber nicht schulischer Umgang mit Kindern und Jugendlichen unter besonderer Berücksichtigung ihrer bereits vorhandenen Stärken.“ Deine Art der Wissenschaft mit Bodenhaftung und marxistischer Grundierung, die sich auch in besonderen Projekten zeigte, schon früh der Jugendclub ‚cá irá‘ und dann über viele Jahre das Erzählcafé in Berlin-Wedding, hat nicht immer die Zustimmung der Hochschul-Kolleginnen und uj 11+12 | 2018 503 Laudatio für C. W. Müller -Kollegen gefunden. Während andere Hochschulkollegen sich Dr. Dres. h. c. oder gar Dr. h. c. mult. nennen können, hat Dir die Universität Siegen erst spät einen Ehrendoktor verliehen, was sie ‚auszeichnet‘, was für mich aber gegen andere Fakultäten der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik spricht, die das unterlassen haben. Hatten wir beide in den vielen Jahrzehnten eigentlich keine Streitigkeiten oder wenigstens Unstimmigkeiten? Eine erinnere ich sehr genau: Als ich bei der geplanten Berufung von Manfred Kappeler an der TU Berlin und dem von Dir gegründeten Institut ganz behutsam nachfragte, ob das sein sollte, hast Du mich ziemlich schroff zurückgewiesen. Heute glaube ich, Du hattest Recht. Bei einem anderen Disput habe ich Dich leider noch nicht ganz überzeugt. Ich meine meinen unverzagten Widerstand gegen die so schrecklich modernistisch-unpolitischen Schreibweisen des Gender* und des unsäglichen Unterstrichs (_), die unsere Schreibsprache verstümmeln. In einem letzten Gespräch dazu bist Du mir noch zu nachgiebig in Erinnerung: Ich werde weiter daran arbeiten. Und was nicht gelang? Nicht alles, was versucht wurde, Deinen Ruf als ungewöhnlicher (Hochschul-) Lehrer nachhaltig zu untermauern, ist gelungen. Du bist ja immer auf das Sorgfältigste vorbereitet in Deine Lehrveranstaltungen gegangen, und zudem voller Empathie gegenüber den Studierenden und bei/ von Dir Lernenden. Irgendjemand hat Dich daher mal treffend als „Erfinder der Nickepädagogik“ bezeichnet. Und so haben wir in Anlehnung an die berühmte Steinlaus von Loriot aus dem Pschyrembel dem Wörterbuch-Beitrag von E. Jürgen Krauß über die Methoden Sozialer Arbeit nach der Erwähnung unseres gemeinsamen Vorschlages, in Zukunft nur noch für die drei klassischen Methoden den Methodenbegriff zu verwenden, dies angefügt: „Allenfalls könnte die sog. Müller-Prävention noch als vierte Methode anerkannt werden, die sich durch Nicken als Stärkung und die erzählerische Umarmung als beziehungsstiftendes Moment auszeichnet.“ Leider war, wie Du weißt, die soziale Leserschaft noch nicht reif für diesen Loriot’schen Witz, deshalb haben wir in der Folgeauflage diesen Halbsatz wieder gestrichen. Nach vielem, was ich hier geschrieben habe, wird es wohl niemanden verwundern, dass ich Dich als einen Genussmenschen bezeichne: Der selbstverständlich kochen kann und auch gern und regelmäßig kocht, mit dem man natürlich auch hervorragend ,speisen gehen kann’ und der auch ‚erste Adressen’ dazu kennt, kurz, der immer einen Blick für alles Gute und Schöne hatte und hat (auch für Frauen, wenn sie intelligent sind und gut aussehen) - Du bist schon ein anregender Freund. Was ich Dir nun abschließend zu Deinem Geburtstag wünsche? Genieße einfach Dein wundervolles, so gelungenes Leben, zumal wir beide ja davon überzeugt sind, dass jedes Leben einmalig ist. Komme gelegentlich immer mal wieder runter von Deinem hohen Plateau, auf dem Du leben darfst und mische Dich ein, wie es immer Deine Art war. Lebe aber auch das andere Leben mit Deiner Familie und den Enkeln sowie Deinen Freundinnen und Freunden, und lass uns endlich mal wieder hervorragend zusammen essen gehen, wir haben noch so viel zu erzählen. Dein Freund Dieter Prof. Dieter Kreft E-Mail: kremie.nuernberg@t-online.de