unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2018
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Rezension: Anita Plattner (2017): Erziehungsfähigkeit psychisch kranker Eltern richtig einschätzen und fördern
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2018
W. Topel
In der Sozialen Arbeit (u. a. in der Erziehungshilfe, Heimerziehung) werden die ehrenamtlichen und professionellen Mitarbeiter nicht selten mit Eltern konfrontiert, deren erzieherisches Handeln mit unterschiedlichen Störungen des Erlebens und Verhaltens assoziiert ist. Dabei handelt es sich um vielfältige Auffälligkeiten, deren Phänomenologie und Genese in gewissem Umfang zum elementaren Basiswissen der in der Jugendhilfe Agierenden gehören sollte, ohne damit Experten für die Diagnostik und Behandlung normabweichenden Verhaltens sein zu müssen. Unerlässlich ist deshalb im Interesse des Wohles der betroffenen Kinder und Jugendlichen die Zusammenarbeit mit anderen Fachgebieten, zu deren Aufgaben insbesondere die Diagnostik, Beratung und Therapie von Krankheiten und Störungen gehört die durch somatische oder psychosoziale Bedingungskonstellationen induziert werden: Ärzte und Psychologen. Die Jugendhilfepraxis bestätigt den Nutzen dieser interdisziplinären Kooperation. [...]
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506 uj 11+12 | 2018 Rezensionen Anita Plattner (2017): Erziehungsfähigkeit psychisch kranker Eltern richtig einschätzen und fördern Ernst Reinhardt, München, 176 Seiten, € 26,90 In der Sozialen Arbeit (u. a. in der Erziehungshilfe, Heimerziehung) werden die ehrenamtlichen und professionellen Mitarbeiter nicht selten mit Eltern konfrontiert, deren erzieherisches Handeln mit unterschiedlichen Störungen des Erlebens und Verhaltens assoziiert ist. Dabei handelt es sich um vielfältige Auffälligkeiten, deren Phänomenologie und Genese in gewissem Umfang zum elementaren Basiswissen der in der Jugendhilfe Agierenden gehören sollte, ohne damit Experten für die Diagnostik und Behandlung normabweichenden Verhaltens sein zu müssen. Unerlässlich ist deshalb im Interesse des uj 11+12 | 2018 507 Rezensionen Wohles der betroffenen Kinder und Jugendlichen die Zusammenarbeit mit anderen Fachgebieten, zu deren Aufgaben insbesondere die Diagnostik, Beratung und Therapie von Krankheiten und Störungen gehört die durch somatische oder psychosoziale Bedingungskonstellationen induziert werden: Ärzte und Psychologen. Die Jugendhilfepraxis bestätigt den Nutzen dieser interdisziplinären Kooperation. Das Autorenkollektiv der vorliegenden Schrift ist bemüht, theoretisches Wissen und praktische Erfahrungen in den Beiträgen in ausgewogener Form zusammenzufassen. Damit wird zum besseren Verständnis von Eltern, die an psychischen Störungen leiden, und deren Kindern beigetragen. Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine vollständige Erfassung aller möglichen psychischen Beeinträchtigungen, sondern um eine Auswahl von Auffälligkeiten, die sichhäufigaufdieErziehungsfähigkeitderSorgeberechtigten auswirken. Zu den Persönlichkeitsvariablen, die nicht erwähnt werden, die bei der Entscheidung über das Sorgerecht nicht selten einer differenzierten Bewertung bedürfen, gehören beispielsweise intellektuelle Fähigkeiten. Die Herausgeberin des Buches, öffentlich bestellte Sachverständige in Sorgerechts- und Umgangsfragen sowie familienpsychologische Sachverständige, betont zu Recht das große Gewicht dieser Thematik für Eltern und Kinder, indem sie auf relevante empirische Erhebungen aufmerksam macht: Vermutlich 50 % der Kinder, die von der Jugendhilfe betreut werden, und 10 % aller Scheidungskinder haben einen psychisch „kranken“ oder suchtkranken Elternteil. Das erfordert zwangsläufig von allen Berufsgruppen, die in den verschiedenen Hilfesystemen tätig sind, solide Fachkenntnisse. Ein Anliegen des Buches ist neben der Information der beteiligten Helfer (Beurteilung der Erziehungsfähigkeit, lösungsorientierte Begutachtung) überdies die sachgerechte Information für Eltern und Kinder. Fallbeschreibungen und ausführliche Literaturangaben unterstützen die Auseinandersetzung mit den zur Diskussion gestellten Problemen. Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Teil I („Grundlagen der Erziehungsfähigkeit“) erörtert allgemeine Kriterien der erzieherischen Kompetenz, psychologische Aspekte des pädagogischen Handelns der Eltern und die Beurteilung der Erziehungsfähigkeit psychisch kranker Eltern. Dabei erfolgen Hinweise zu juristischen Hintergründen, den verschiedenartigen Aspekten des Kindeswohls, den psychodiagnostischen Instrumentarien zur Einschätzung der Erziehungsfähigkeit und der Beurteilung von psychisch auffälligen Eltern. Die hier erwähnten testpsychologischen Methoden dürften insbesondere für Psychologen von Interesse sein. Zuzustimmen ist der Auffassung, die Beurteilung der Erziehungsfähigkeit psychisch „kranker“ Eltern dürfe nicht allein auf der Grundlage einer Diagnose erfolgen, sondern müsse ihre individuell sehr unterschiedliche Persönlichkeitsentwicklung in Betracht ziehen. Der umfangreiche Teil II („Die wichtigsten psychischen Erkrankungen und mögliche Auswirkungen auf die Erziehungsfähigkeit“) befasst sich mit affektiven Erkrankungen und Angststörungen, Psychosen, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen und -akzentuierungen sowie den spezifischen Auswirkungen psychischer Störungen der Eltern auf die Kinder. Die Angaben über die Ursachen, die Häufigkeit, die Symptomatik, den Verlauf und die Prognose der psychopathologischen Phänomene stützen sich auf empirische Untersuchungen. Die Folgen für die Kinder und die Erziehungsfähigkeit der Eltern werden differenziert beschrieben. Überdenkenswert sind die Darlegungen über die Rolle protektiver Faktoren für die Herausbildung der Persönlichkeit der Kinder: individuelle, familiäre und soziale Ressourcen. Gegenstand von Teil III („Arbeit mit psychisch kranken Eltern und deren Kindern“) sind Hinweise für die sprachliche Kommunikation bei Beachtung entwicklungspsychologischer Aspekte, die Spezifika von Störungsbildern, die psychotherapeutische Arbeit mit Eltern und Kindern sowie besondere Unterstützungsangebo- 508 uj 11+12 | 2018 Rezensionen te (u. a. Psychoedukation, Patenschaftsprojekte, Möglichkeiten der Jugendhilfe). Abschließend werden rechtliche Grundlagen der elterlichen Sorge (u. a. Sorgerechtsverfahren vor dem Familiengericht, Umgangsregelungen) erläutert. Summa summarum: Psychische Störungen, Erkrankungen und Behinderungen sind multifaktoriell bedingte Erlebens- und Verhaltensauffälligkeiten, die in der Ontogenese die Wahrnehmung, das Denken, Fühlen und die sozialen Interaktionen vieler Menschen beeinträchtigen können. Sind davon Mütter und Väter betroffen, ist im Interesse des Kindeswohls sorgfältig zu prüfen, welche unterstützenden und fördernden Maßnahmen für die Entwicklung der Kinder und ihrer Familien angebracht sind. Dafür bietet das Buch brauchbare Denkanstöße. Dr. habil. W. Topel, Leipzig DOI 10.2378/ uj2018.art76d
