unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art02d
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2018
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Kinder, die Systeme sprengen?
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2018
Menno Baumann
Jede(r) MitarbeiterIn der Kinder- und Jugendhilfe kennt sie: Junge Menschen, die uns durch ihr Verhalten (über-)fordern und an Grenzen bringen. Das Thema scheint bisher wenig systematisch bearbeitet, weder wissenschaftlich noch durch die Frage, welche Impulse die pädagogische Praxis braucht. Dabei kann der aktuelle Wissensstand der Intensivpädagogik wichtige Impulse bieten.
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2 unsere jugend, 70. Jg., S. 2 - 10 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art02d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kinder, die Systeme sprengen? Die Dynamik scheiternder Hilfeverläufe und (ver-)störender Verhaltensweisen Jede(r) MitarbeiterIn der Kinder- und Jugendhilfe kennt sie: Junge Menschen, die uns durch ihr Verhalten (über-)fordern und an Grenzen bringen. Das Thema scheint bisher wenig systematisch bearbeitet, weder wissenschaftlich noch durch die Frage, welche Impulse die pädagogische Praxis braucht. Dabei kann der aktuelle Wissensstand der Intensivpädagogik wichtige Impulse bieten. von Prof. Dr. Menno Baumann Jg. 1976; Sonderpädagoge, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner- Fachhochschule Düsseldorf sowie Bereichsleiter beim Jugendhilfeträger Leinerstift e.V. „Systemsprenger“ - Was kann diese Diskussion leisten und was nicht? Schon in der Begrifflichkeit scheinen die vermeintlichen „SystemsprengerInnen“ die pädagogische Diskussion zu überfordern. Auf der einen Seite ist dieser Begriff in der Praxis neben anderen synonym verwandten Termini geläufig und beschreibt ein großes Sammelsurium von Phänomenen, welchen allen gemeinsam ist, dass sie Hilfesysteme hilflos machen. Die Verwendung erfolgt eher assoziativ als über klar zu benennende Kriterien. Auf der anderen Seite gibt es berechtigterweise eine scharfe Kritik an diesem Begriff, rückt er doch den Jugendlichen in den Mittelpunkt, was einer systemischen Haltung zu widersprechen scheint und unter Stigmatisierungsverdacht steht. Darüber hinaus kann der Begriff „Systemsprenger“ in unterschiedlichen pädagogischen Kontexten auch sehr Unterschiedliches bedeuten. So muss das Thema „Systemsprenger“ im Kontext Schule (Baumann u. a. 2017) nicht zwangsläufig die gleiche Bedeutung haben wie in der Jugendhilfe oder in der Psychiatrie (Baumann 2012). Pragmatisch gesehen brauchen wir aber irgendeine Bezeichnung, um das Phänomen kommunizierbar zu machen, und andere Termini wie „besonders herausfordernde Kinder“, „Hoch- Risiko-Klientel“ oder„die Schwierigsten“ bleiben ähnlich unbestimmt und auf das Individuum fokussiert. Klar ist: Der Begriff „Systemsprenger“ kann und will nicht den Zustand eines jungen Menschen beschreiben und ist somit keinesfalls als diagnostische Kategorie zu missbrauchen. Vielmehr beschreibt er eine Interaktionsdynamik zwischen dem im Mittelpunkt stehenden Kind oder Jugendlichen, seiner Familie, den Hilfesystemen und der Gesellschaft als Ganzer. Insofern bleibt der Begriff „Systemsprenger“ zwar eine Krücke, die aber notwendig erscheint, um das Thema überhaupt zu systematisieren. 3 uj 1 | 2018 Kinder, die Systeme sprengen? Fest steht aber auch: Eine Pädagogik oder spezielle Angebote„für Systemsprenger“ kann es in einer reflektierten Kinder- und Jugendhilfe gar nicht geben - „Systemsprenger-Sein“ ist keine Persönlichkeitseigenschaft oder ein Merkmal des Betroffenen, „für den“ dann eine spezielle Hilfe angebahnt werden muss. Die Fragen: „Ist das nun schon ein Systemsprenger? Wo fängt dieses Phänomen an, wo hört es auf? “ verlieren somit ihren Sinn. Wenn ich das Prozessgeschehen in den Blick nehme (Baumann 2012), so kann Kinder- und Jugendhilfe immer nur gedacht werden als Versuch, die „Sprengung“, also das bildlich gesprochen„explosive“, weil zunehmend eskalierende Scheitern von Interaktionsprozessen zwischen Klientensystem und Helfersystem, zu vermeiden. Ziel aller Interventionen in diesem Phänomenbereich muss also die Professionalisierung an den Systemgrenzen des Helfersystems sein, um die oft wiederkehrende Spirale aus Abbrüchen, Überforderungen, Verschiebebahnhöfen und Drop-out-Prozessen zu unterbrechen. Als Arbeitsdefinition der Formulierung: „Kinder, die Systeme sprengen“, soll hier betrachtet werden: „Hoch-Risiko-Klientel, welches sich in einer durch Brüche geprägten negativen Interaktionsspirale mit dem Hilfesystem, den Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft befindet und diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mitgestaltet“ (Baumann 2014, 163). Drei Aspekte verdienen dabei eine nähere Betrachtung: Hoch-Risiko-Klientel Die Kinder und Jugendlichen, die an dieser Stelle beschrieben werden, sind im doppelten Wortsinne „Hoch-Risiko-Klientel“. Auf der einen Seite stehen die in der Entwicklungswissenschaft lange bekannten Risikofaktoren kindlicher Entwicklung, von welchen diese Kinder oft in massiver Form betroffen sind (z. B. die Fallanalysen bei Baumann 2012 oder Rätz- Heinisch 2005). Wir wissen, welche familiären und sozialen Faktoren die kindliche Entwicklung gefährden, wenn auch konstatiert werden muss, dass diese Risikofaktoren die Klientel der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt überdurchschnittlich häufig betreffen, nicht nur die vermeintlichen „Systemsprenger“. Dieses Ergebnis ist also ebenso banal wie unspezifisch. Ein faszinierendes Ergebnis ist aber, dass unsere Forschungsarbeiten gezeigt haben, dass gerade die so genannten „Systemsprenger“ eben auch über starke Resilienzfaktoren verfügen, die ihnen ein Überleben unter widrigsten Umständen gesichert haben, aber mit pädagogischen Regelwerken kaum vereinbar erscheinen (Baumann 2012). Diesem Befund folgend kommt dem Verstehen der Überlebensstrategien und der Dynamik zwischen Risiko- und Resilienzfaktoren eine besondere Bedeutung zu. Auf der anderen Seite zeigt sich aber auch die gegenteilige Bedeutung des Wortes „Risiko“. Diese Kinder und Jugendlichen sind und waren nicht nur einem erhöhten Entwicklungsrisiko ausgesetzt, von ihnen geht auch ein Risiko aus. Viele der vermeintlichen „Systemsprenger“ machen Dinge, die als riskant bezeichnet werden müssen und eine Gefährdung sowohl ihrer selbst, aber oft auch anderer Menschen darstellen. Gerade der Aspekt, andere Jugendliche in der Gruppe schützen zu müssen, ist ein enormer Risikofaktor für sogenannte Jugendhilfekarrieren. In unserer Studie „Kinder, die Systeme sprengen“, welche ich an der Universität Oldenburg von 2006 - 2010 geleitet habe (Baumann 2012), traten vor allem drei Verhaltensweisen als problematisch in den Vordergrund: Körperliche Gewalt, vor allem gegenüber jüngeren Kindern oder den MitarbeiterInnen der Einrichtung inklusive sexualisierter Gewalthandlungen, offen inszenierter Drogenkonsum sowie Abgängigkeit in Kombination mit selbstgefährdenden Verhaltensweisen. Aus der Analyse von Perspektivgutachten, die ich in den letzten sieben Jahren im Auftrag von Jugendämtern und 4 uj 1 | 2018 Kinder, die Systeme sprengen? Familiengerichten erstellt habe, um für junge Menschen nach Mehrfachabbrüchen neue Hilfeperspektiven zu entwickeln, zeigen sich noch zwei weitere Verhaltensweisen als bedeutsam: Selbstverletzungen mit para-suizidalen Tendenzen sowie Zündeln und Brandstiftung. In allen genannten fünf Verhaltensweisen zeigt sich das hohe Risikopotenzial, welches in der Arbeit mit diesen jungen Menschen steckt. Insofern vereinen diese Personen in besonderer Weise Opfer- und Täteranteile in sich. Durch Brüche geprägte Interaktionsspirale Ein zweiter Aspekt, der besondere Betrachtung verdient, ist das Phänomen der „Brüche“. Das Leben dieser jungen Menschen ist oft von Beginn an durch eine Vielzahl von Brüchen gekennzeichnet - wechselnde Bezugs- und Betreuungspersonen, häufige Ortswechsel und andere brüchige Merkmale der Kernfamilien sind nicht selten. Der Aspekt, der aber besonders wichtig an dieser Stelle ist: Auch unser Hilfesystem ist ein auf Brüche angelegtes System. Nicht nur, dass die jungen Menschen, die hier als „Systemsprenger“ bezeichnet werden, häufig „Abbrüche“ erzieherischer Hilfen erleben - ein Phänomen, dessen Ursache längst nicht immer das Verhalten des jungen Menschen ist, sondern vielfachen Systemfaktoren unterliegt (Tornow/ Ziegler 2012). Selbst bei positiver Entwicklung einer Hilfe ist die logische Konsequenz der Abbruch: Ziele erreicht, Hilfe beendet. Oder wenn im Rahmen einer Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) erarbeitet wird, dass eine Fremdunterbringung angezeigt wäre, dann wird die Familienhilfe in der Regel eingestellt - genau in dem Moment, wo die Eltern ihre Elternrolle völlig neu entwickeln müssen und hierfür ein bestehendes Arbeitsbündnis in seiner Bedeutung nicht überschätzt werden kann - die aufnehmende Einrichtung dagegen selbst bei von den Eltern befürworteten Fremdunterbringungen zunächst einmal eher eine Konkurrenz darstellen dürfte. Am deutlichsten zeigt sich dies bei den intensivpädagogischen Maßnahmen, die als sogenannte „ultima ratio“ zur Anwendung kommen, wie z. B. die geschlossene Unterbringung oder die individualpädagogische Auslandsmaßnahme oder intensivpädagogische Maßnahmen mit Kostensätzen von über € 15.000,- monatlich: Der Beziehungsabbruch ist durch die zwangsläufig zeitliche Begrenzung solcher Interventionsformen schon eingeplant - vor allem bei positivem Verlauf. Aber auch für andere Hilfen gilt: Je besser der Verlauf, desto schneller lässt die Aufmerksamkeit der Fachkräfte nach, die sich dann wieder um andere „Härtefälle“ kümmern. Insofern ist unser Hilfesystem ein auf Brüche angelegtes System, im positiven Verlauf der Logik folgend: Positive Entwicklung führt zu Beziehungsabbrüchen und Maßnahmeende, im negativen Verlauf der Logik folgend: Von wohnortnah, sozialraumorientiert und familienunterstützend hin zu immer ein bisschen enger, immer ein bisschen kleiner und immer ein bisschen weiter weg von zu Hause. Die Steuerungsmechanismen in diesen Negativ- Spiralen habe ich als „Prinzip des Durchreichens“, „Prinzip der Nicht-Zuständigkeitserklärung“ und als „Prinzip des institutionellen Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms“ beschrieben, womit das Ignorieren der Individualität und der Ziele des jungen Menschen gemeint ist, bis dieser „freiwillig“ die Kooperation verweigert und somit klar ist, dass „mit ihm nicht zu arbeiten ist“ (Baumann 2012). Aktiv mitgestaltet Dieser Aspekt der Definition scheint mir aufgrund meiner Forschungs- und Praxistätigkeiten in diesem Arbeitsfeld zentral. Der junge Mensch, der im Wechselspiel zwischen seinen biografischen Erfahrungen und den Hilfesystemen zerrieben und „gesprengt“ wird (viel- 5 uj 1 | 2018 Kinder, die Systeme sprengen? leicht wäre ein terminologischer Ausweg aus der Stigma-Debatte die Formulierung: „Vom System Gesprengte“? ), bleibt nicht in einer passiven Opferrolle, er gestaltet diese Position aktiv mit. Nicht, weil er ein schlechter Mensch ist, weil er „keinen Bock hat“ oder weil er Spaß daran hätte, alle paar Monate die Einrichtung zu wechseln und zwischendurch monatelang in der Psychiatrie oder in den Inobhutnahmestellen festzuhängen - sondern weil dies im Rahmen seiner Wahrnehmung dieser Welt Sinn macht. Die Erkenntnis, dass jedes Verhalten Sinn macht, ist in der Pädagogik bei Verhaltensstörungen alles andere als neu, aber für die Zielgruppe der vermeintlichen Systemsprenger halte ich einen Gedankengang von Helmut Reiser für noch wichtiger: Manches Verhalten, welches auf die Umwelt als Störung wirkt, macht nicht nur Sinn, es schafft Sinn (Reiser 2006). Auf der Grundlage dieses Gedankenganges wurden in der empirischen Studie „Kinder, die Systeme sprengen“ (Baumann 2012) Fälle extrem eskalierender Hilfeverläufe mit dem zuvor entwickelten und validierten Diagnoseinstrumentarium „Verstehende Subjektlogische Diagnostik“ (Baumann 2009) analysiert. Hierzu erstellten an der Studie beteiligte Einrichtungen Fallmaterialien, welche durch Akten und wenn möglich noch durch Interviews mit den jungen Menschen ergänzt wurden. Diese wurden dann zunächst durch den Untersucher, anschließend durch ein Reflecting Team mit dem genannten Instrumentarium aufbereitet und auf die zentralen Handlungslogiken und Motive des jungen Menschen hin untersucht. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden im Anschluss durch ca. 100 Einzelfallstudien repliziert. Das zentrale Ergebnis unserer Forschung lautete: Kinder und Jugendliche, die in hoch-eskalierenden Interaktionsprozessen mit den Hilfesystemen stecken, schaffen durch ihr Verhalten - vor allem die als störend empfundenen Anteile - Kontrolle. Die Rekonstruktion der Normalität Dies ist zunächst nicht ungewöhnlich, denn das Gefühl, seine Umwelt in einem überschaubaren Rahmen als sicher einzuschätzen, ist eine der wichtigsten Aufgaben der menschlichen Psyche überhaupt. Insofern ist das Streben nach Kontrolle niemals als Störung zu betrachten, sondern immer als normal. Eine verstehende Zugangsweise zum Eigensinn kindlichen Verhaltens ist insofern zuallererst als Rekonstruktion der Normalität zu betrachten. Nur wenn wir verstehen, wo der junge Mensch in seiner Lebenssituation die Interaktionen mit seiner Umwelt als Kontrollverlust erlebt (oder erlebt hat), können wir auch verstehen, wie eine Pädagogik für diese Zielgruppe aussehen kann, gegen die der junge Mensch nicht kämpfen muss. Bei der genaueren Aufarbeitung der Fallanalysen habe ich drei Kategorien herausarbeiten können, welche das Motiv der Kontrolle präzisieren (Baumann 2012) und welche auch erste Hinweise auf die notwendige differenzierte pädagogische Setting- und Interaktionsgestaltung geben können (Baumann i. Vorb.). Die erste Gruppe der jungen Menschen, die ich als Kategorie A bezeichnet habe, umfasst Kinder und Jugendliche, deren Verhaltensweisen der Herstellung von Kontrolle bei situativer Unsicherheit dienen. Diese Kinder und Jugendlichen können soziale Situationen, das Verhalten und/ oder die Mimik und Gestik anderer Menschen nicht adäquat einschätzen. Bei einigen dieser jungen Menschen gilt die Schwierigkeit, Emotionen und Erlebenszustände zu erkennen, auch bezogen auf das eigene Erleben. Aus dieser Irritation heraus entsteht ein mangelndes Gefühl der Sicherheit und der Antizipation des Zukünftigen. Die jungen Menschen können sich zu keinem Zeitpunkt sicher sein, dass ihre Einschätzung der Situation, des Verhaltens anderer Menschen und der Erwartungen, die in der Situation an sie gerichtet sind, eine angemessene Grundlage für die eigene Handlungs- und Impulskontrolle bietet. Auch können diese 6 uj 1 | 2018 Kinder, die Systeme sprengen? Kinder recht schwer aus Routinen und Beobachtung lernen - auch wenn ein Ablauf sich immer wieder wiederholt und die PädagogInnen davon ausgehen, dies wäre allen Kindern klar, muss dies für diese Kinder und Jugendlichen längst nicht so eindeutig erkennbar sein. Was entsteht, ist das situativ spontan auftretende, oft impulsiv aufsteigende Gefühl der Verunsicherung, was nach einer Strategie verlangt, die sofort Sicherheit herstellt. In Situationen, wo der junge Mensch den Rahmen gut überschauen kann, oder im Eins-zu-eins-Kontakt, kann er oft über lange Zeiträume hinweg fast unauffällig interagieren. Wird die Situation komplexer, zum Beispiel im Rahmen einer Gruppensituation, durch das Hinzukommen Dritter, den Wegfall einer vertrauten Bezugsperson, die Notwendigkeit eines Ortswechsels oder einer anderen alltäglichen Übergangssituation, eskaliert die Situation plötzlich und unvermittelt. Das Ergebnis: Ein Wutausbruch, eine plötzliche depressive Verstimmung mit Selbstverletzung, eine unangekündigte Flucht aus der Einrichtung oder in den Vollrausch. Das dahinterliegende Motiv: Die Situation muss sofort im Hier und Jetzt unter Kontrolle gebracht werden - um jeden Preis. Dies geschieht dadurch, dass der junge Mensch Eindeutigkeit in die Situation bringt, durch welche oft auch die Interaktionspartner in ein bestimmtes Verhalten hineingezwungen werden. Problematisch an diesen Verläufen: Während in konzentrierten Situationen durchaus pädagogische Arbeit gelingt, eskalieren die Krisensituationen oft schnell, heftig und für die PädagogInnen längst nicht immer vorhersehbar. Wichtig ist für die pädagogische Intervention also neben allem, was für das Kind Sicherheit und Überschaubarkeit der Rahmung bietet, auch besonders den Aspekt der Krisenfestigkeit in den Blick zu nehmen. Eskalationen werden auftreten, dies hat der junge Mensch nicht immer unter (bewusster) Kontrolle, weil seine Strategien meistens unter den Bedingungen starker Angst, Bedrohung oder Irritation entwickelt wurden und sich durch viele misslungene Interaktionserfahrungen auch mit PädagogInnen weiter verstärken. Es gilt: Zumindest mittelfristig kann das Kind zwar ein Mehr an Orientierung erwerben - dies führt zu einer starken Herabsetzung der Konfliktdichte. Aber in Überforderungssituationen wird der junge Mensch noch für einen recht langen Zeitraum auf alte Strategien zurückgreifen. Und für die Krisensituationen gilt: Es ist alles hilfreich, was Sicherheit für alle Beteiligten bietet. Auch der junge Mensch muss lernen, dass seine starken Emotionen von anderen ausgehalten werden und dass er sie auch selbst aushalten kann. Nichts anderes tun Eltern, die ihren aus Leibeskräften brüllenden Säugling stundenlang durch die Wohnung tragen. Einem Kind mit diesem Erlebensmuster in einer Krisensituation mit Sanktionen zu drohen ist wenig hilfreich. Auf Sanktionen zu reagieren, bedeutet, die Zukunft in die Handlungsplanung einzubeziehen und eine Kosten-Nutzen-Rechnung machen zu können. Aber für diese Kinder ist im Moment der Krise nur die überschäumende Emotion im Hier und Jetzt entscheidend - die Frage, ob dann den Rest der Woche weniger Medienzeit angesagt ist oder in drei Stunden ein geplanter Ausflug ausfällt, ist für den Moment völlig unbedeutend - zumindest nicht handlungsleitend. Hierauf muss sich Hilfe einstellen. Die zweite Gruppe in der zitierten Studie, die ich als Kategorie B bezeichnet habe, folgt zwar auch dem Motiv der Kontrolle, aber in einem völlig anderen Fokus. Im Gegensatz zu Kategorie A können diese jungen Menschen soziale Situationen und andere Menschen ganz hervorragend „lesen“. Jede(r) PädagogIn kennt wohl Begegnungen mit Kindern oder Jugendlichen, bei denen schon im Erstkontakt das Gefühl entsteht, von oben bis unten abgescannt zu werden. Kontrolle hat bei dieser Gruppe der Kategorie B ein anderes Thema, nämlich die Kontrolle im Rahmen der eigenen Biografie über oder gegen das Hilfesystem. Was kompliziert klingt, ist de facto aber oft ganz einfach: Der junge Mensch hat Lebensthemen, implizite Aufträge oder Loyalitätsverpflichtungen, die er 7 uj 1 | 2018 Kinder, die Systeme sprengen? im Rahmen seiner Lebenssituation (Biografie) verfolgen muss und mit denen das Annehmen pädagogischer Hilfe unvereinbar erscheint. Beispielsweise gibt es nicht wenige Kinder und Jugendliche in der Jugendhilfe, die in ihrer Kernfamilie einen (oft impliziten) Versorgungsauftrag erfüllen. Für jüngere Geschwister, einen suchterkrankten Elternteil, die emotionale Stabilität eines depressiv erkrankten Elternteils oder auch die Beziehung und Kommunikationsstruktur der Eltern - egal, ob diese zusammenleben oder nicht. Ein Einlassen auf pädagogische Prozesse steht diesen geheimen Aufträgen im Wege, und so kann sich der junge Mensch nicht einlassen. Eine zweite Variante sind die geheimen Loyalitätsaufträge. Sowohl das Bindungsverhalten der Eltern („niemand kann dich so gut versorgen wie ich“), noch häufiger aber Konflikte zwischen Elternhaus und Hilfesystem provozieren eine solche Dynamik. Wenn die Eltern einer Fremdunterbringung nicht zustimmen können (sei es offen oder emotional), dann hieße ja eine gute Entwicklung in der Einrichtung, dass das Kind sich auf die Seite des Hilfesystems schlägt. Eine negativ-eskalierende Entwicklung dagegen wäre ein Loyalitätsbeweis. Auch wenn die Eltern starke Versagensgefühle mit der Fremdunterbringung verbinden, ist das „Scheitern der Profis“ eine Art Freispruch. Eine dritte Dynamik, die prototypisch für diese Kategorie ist, ist die im Rahmen der Biografie erworbene Erfahrung, dass Autonomie die einzige Lebensstrategie darstellt und ein Verlassen auf Erwachsene grundsätzlich Enttäuschung, Verletzung oder sogar Gefahr mit sich bringt. Ein Einlassen auf die Hilfe wird als Abhängigkeit gewertet und darf nicht zugelassen werden. Was alle diese unterschiedlichen Motive eint: Hilfe kann nicht zugelassen werden, Beziehungen zu PädagogInnen sind wenig attraktiv und die eigene Unabhängigkeit und Autonomie ist um jeden Preis zu verteidigen. Klar ist, dass dieser Dynamik mit Zwang und Kontrolle nicht beizukommen ist. Nur wenn es gelingt, dem jungen Menschen glaubhaft zu vermitteln, dass er die Nähe-Distanz-Regulation selbst in den Händen hält, können diese jungen Menschen sich auf Hilfen einlassen. Dies ist oft mit einem gewissen Risiko verbunden, da die jungen Menschen ihre Autonomie teilweise durch selbst- und fremdgefährdendes Verhalten bis hin zu langen Phasen der Straßenorientierung (inklusive Couch-Surfing) untermauern. Gelingt es aber, diese jungen Menschen in die Kooperation zu bringen, sodass sie sich einlassen können, ist die Prognose dieser Gruppe oft sehr gut, weil es sich in der Regel um sehr ressourcenstarke junge Menschen handelt. Die dritte Kategorie (C) schließlich, die ich aus dem Fallmaterial unserer Studie herausgearbeitet habe, beschreibt Kinder und Jugendliche, die zwar über Beziehungen steuerbar erscheinen, aber innerhalb dieser Beziehungen absolute Kontrolle brauchen. Der junge Mensch kann sich nicht auf eine Beziehung im Sinne des gegenseitigen Austausches zwecks gegenseitiger Kooperation, Unterstützung, Identitätsfindung, Bedürfnisbefriedigung und, was noch alles zum „sozialen Kern“ des Menschseins dazugehört (Bauer 2006), einlassen. Beziehungen sind nur auf die Erfüllung der eigenen „Urbedürfnisse“ nach Sicherheit, hundertprozentiger Zuwendung und Versorgung ausgerichtet und müssen kontrolliert werden. Insofern lässt sich hier als Kontrollmotiv formulieren: Kontrolle als Überprüfung der Tragfähigkeit des umgebenen Netzwerkes. Der junge Mensch ist sich zu keinem Zeitpunkt der Interaktion sicher, dass die Beziehung tragfähig und schützend ist, erwartet (wenn auch unbewusst) eigentlich ständig die Zurückweisung, den Abbruch oder sogar den Übergriff und provoziert diesen gleichermaßen durch eskalierendes Verhalten oder distanzlose Übergriffshandlungen. Das heißt, auf der einen Seite saugt der junge Mensch die ihn umgebenden Erwachsenen vollkommen aus, indem er sich vergewissern möchte, der Mittelpunkt allen Geschehens zu sein. Geht die Fachkraft auf Distanz (und sei es durch die kurze Aufforderung, einen Moment 8 uj 1 | 2018 Kinder, die Systeme sprengen? zu warten, bis man Zeit hat), wird dies als Beweis für die Vorannahme, auch diese Beziehung werde enttäuschen, gewertet und sofort in tiefe Verzweiflung übersetzt. Auf der anderen Seite provozieren diese jungen Menschen sehr häufig schwerste Krisen, um sich zu vergewissern, dass die Beziehung diese Krisen aushalten kann. Die Handlungsmuster erzwingen ein Kümmern, Regeln und Absprachen scheinen eher die Schlachtfelder zu definieren, auf denen überprüft werden kann. Das Problem: Die Konflikte sind nicht zielorientiert, sodass es in der Hand des Erwachsenen läge, einfach nachzugeben oder den Wunsch des jungen Menschen zu erfüllen. Die Krisen haben ihren Eigenwert und können daher nicht verhindert, höchstens mitgestaltet werden. In der Konsequenz bedeutet dies, dass es extrem wichtig ist, ein solches Beziehungsmuster frühzeitig zu erkennen. Hat der junge Mensch seine Beziehungsinszenierung erst einmal etabliert, ist diese schwer zu unterbrechen. Für diese Kinder und Jugendlichen gilt: Die PädagogInnen müssen von Anfang an die Nähe-Distanz-Regulation in ihren Händen halten, müssen Beziehungsinszenierungen und Rollenzuweisungen erkennen, reflektieren und selbst entscheiden, wo sie „mitspielen“, wo sie für sich Gestaltungsspielräume im Rahmen dieser Inszenierungen sehen und wo sie sich von Beginn an klar abgrenzen müssen. Die Sicherung des Settings für die MitarbeiterInnen ist bei dieser Zielgruppe der wichtigste Faktor. Symptomtoleranz im Sinne von Ignorieren, damit es nicht völlig eskaliert, ist bei dieser Gruppe unangemessen, da die Eskalation das Ziel des Fehlverhaltens ist. Vielmehr sollten die PädagogInnen dem jungen Menschen ihrerseits Konfliktthemen anbieten, dies inszenieren und hinterher thematisieren. Selbstverständlich ist die Realität viel komplexer, als es sich in einem Drei-Kategorien-System abbilden ließe. Aber für eine diagnostische Ersteinschätzung hat sich dieses Kategoriensystem als durchaus hilfreich erwiesen. Was aber tun? Nach dieser Analyse der scheiternden Interaktionsdynamik zwischen Hilfesystem und dem jungen Menschen stellt sich natürlich die Frage, welche Handlungsimpulse sich aus diesen Forschungsarbeiten, aber auch aus der Arbeit im Bereich der „Innovativen Hilfen“ des Jugendhilfeträgers Leinerstift e.V., welche ich aufbauen und als Bereichsleiter betreuen durfte (Oltrop/ Tammena 2016), ergeben. Neben der erst einmal grundlegenden Entscheidung, eine Haltung einnehmen zu wollen, die hält und aushält, sehe ich aus vielen kleineren und in unterschiedlicher Weise ausgewerteten Einzelfallanalysen heraus folgende Aspekte als bedeutsame praktische Impulse: Pädagogische Angebote, die auch in krisenhaften Verläufen junge Menschen nicht zu „Systemsprengern“ werden lassen wollen, sind (idealerweise) … … konfliktsicher, deeskalierend und präsent Die Grundlage für die Arbeit mit dieser Klientel ist, dass die PädagogInnen das nötige „Handwerkszeug“ für schwierige Situationen haben. Hierzu gehört die Rückendeckung der Einrichtung und des belegenden Jugendamtes, die Kenntnis und Verinnerlichung von Deeskalationstechniken und der Präsenzpädagogik. Dort, wo massive Gewalt zu erwarten ist, gehört hierzu auch die Fähigkeit, sich im Zweifelsfalle schützen zu können. …reflektiert bezüglich Nähe - Distanz, Bindung und Abgrenzung Wie beschrieben gibt es junge Menschen, die eine enge Begleitung durch möglichst konstante Personen brauchen, andere haben ein extremes Autonomiebestreben und halten eine Bezugsbetreuung oder beziehungsorientiertes 9 uj 1 | 2018 Kinder, die Systeme sprengen? Arbeiten kaum aus. Hier müssen Einrichtungen lernen, den jungen Menschen als Ausgangspunkt zu sehen und nicht Konzepte oder pädagogische Glaubenssätze … … dranbleibend, haltend ausgerichtet und Kontinuität vermittelnd Hierzu gehört natürlich neben der akuten Ausrichtung, Krisen aushalten zu wollen, den Menschen auch durch Phasenverläufe hinweg begleiten zu können. Gerade die Gestaltung von Übergängen, seien sie geplant (z. B. Verselbstständigung) oder auch vom jungen Menschen inszeniert (z. B. eine erneute Schleife ins Milieu) müssen im Rahmen einer kontinuitätsbasierten Pädagogik begleitet werden. …in ihrer Haltung verstehenden und traumasensiblen Ansätzen verpflichtet Die Bedeutung des Verstehens habe ich bereits ausführlich dargelegt. Dabei muss die Beantwortung zweier Fragen im Fokus stehen: ➤ Wie muss ein Setting gestaltet sein, damit es für den jungen Menschen nicht als Kontrollverlust gesehen wird und er nicht gegen dieses Setting kämpfen muss? ➤ Wie muss ein Setting gestaltet sein, damit alle Beteiligten, vor allem auch die PädagogInnen, dieses Setting auch langfristig aushalten können? ➤ Diese beiden Fragen können nur auf der Grundlage eines biografischen Verstehens des jungen Menschen und des bisherigen Hilfeverlaufes heraus beantwortet werden. … mit Konzepten der (emotionalen) Sicherung von MitarbeiterInnen ausgestattet Diesen Aspekt halte ich für den bedeutsamsten Impuls für die Kinder- und Jugendhilfe. Die Arbeit mit dieser Klientel ist und bleibt auch auf lange Sicht hin belastend, und hierfür bedarf es Unterstützungsstrukturen, die über die obligatorische Supervision hinausgehen. Verlässliche Strukturen für Unterstützung in Krisensituationen, Nachsorge nach Vorfällen, Möglichkeiten des Einzelcoachings, Spielregeln für die Kommunikation über Krisen, die frei sein muss von unterschwelligen Vorwürfen und Kompetenzzweifeln, Strukturen für die Aufarbeitung von Rollenzuweisungen durch die Klientel oder innerhalb des Teams u. v. m. sind fest zu installierende Aspekte, auf die ein hohes Maß an Konzentration zu legen ist (Baumann u. a. 2017; Baumann i. Vorb.). …flexibel in der Umgestaltung des Settings, wenn nötig Nicht immer gelingt es auf Anhieb, das passende Setting einzurichten. Wichtig erscheint an dieser Stelle, die notwendige Beweglichkeit in den Settings zu ermöglichen. Dabei sind weit mehr Stellschrauben zu beachten als nur die Frage nach „mehr Stunden“. Können Aufgaben unabhängig vom Lebensort übernommen werden, „kleben“ Mitarbeiter an einem Einsatzort oder können auch da verschiedene Modelle gedacht werden? Müssen junge Menschen, die unter einem Dach leben, zwangsläufig eine Gruppe sein oder kann es auch Einzelbetreuungen in einer Gruppe geben? Wenn Träger und Jugendämter wagen, hier kreativ zu denken, gibt es oft erstaunliche Lösungen, die Abbrüche vermeiden, Überforderung verhindern und dennoch über Jahre eine positive Begleitung sichern können (Oltrop/ Tammena 2015). Professor Dr. Menno Baumann Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf Alte Landstraße 179 40489 Düsseldorf E-Mail: m.baumann@leinerstift.de 10 uj 1 | 2018 Kinder, die Systeme sprengen? Literatur Bauer, J. (2006): Prinzip Menschlichkeit - Warum wir von Natur aus kooperieren. Hoffmann & Campe, Hamburg Baumann, M. (i. Vorb.): Kinder, die Systeme sprengen - Band 2: Impulse, Zugangswege und hilfreiche Settingbedingungen für Schule und Jugendhilfe. Schneider, Baltmannsweiler Baumann, M. (2014): Jugendliche Systemsprenger - zwischen Jugendhilfe und Justiz (und Psychiatrie). Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (ZJJ) 2/ 14, 162 - 167 Baumann, M. (2012): Kinder, die Systeme sprengen - Band 1: Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern. Schneider, Baltmannsweiler Baumann, M. (2009): Verstehende Subjektlogische Diagnostik bei Verhaltensstörungen - Ein Instrumentarium für Verstehensprozesse in pädagogischen Kontexten. tredition, Hamburg Baumann, M., Bolz, T., Albers, V. (2017): „Systemsprenger“ in der Schule - Auf massiv störende Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern reagieren. Beltz, Weinheim Oltrop, A., Tammena, D. (2015): Innovative Hilfen - Ein Projekt für vermeintliche „Systemspreger“. In: Baumann, M. (Hrsg.): Neue Impulse in der Intensivpädagogik -„Was tun, wenn wir nicht mehr weiter wissen…? “ EREV Beiträge zur Theorie und Praxis der Jugendhilfe 11/ 2015. Schöneworth Verlag, Hannover, 52 - 62 Rätz-Heinisch, R. (2005): Gelingende Jugendhilfe bei „aussichtslosen Fällen“ - Biographische Rekonstruktion von Lebensgeschichten junger Menschen. Ergon, Würzburg Reiser, H. (2006): Psychoanalytisch-systemische Pädagogik - Erziehung auf der Grundlage der Themenzentrierten Interaktion. Kohlhammer, Stuttgart Tornow, H., Ziegler, H. (2012): Ursachen und Begleitumstände von Abbrüchen stationärer Erziehungshilfen (ABiE). In: EREV-Schriftenreihe 3/ 2012: Abbrüche in stationären Erziehungshilfen (ABiE), Schöneworth Verlag, Hannover, 11 - 118
