unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art04d
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2018
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Machtmissbrauch und Gewalt in den stationären Hilfen
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2018
Fabian Kessl
Friederike Lorenz
Meike Wittfeld
Der Beitrag beleuchtet die Entstehungsbedingungen von Machtmissbrauch und Gewalt durch pädagogische MitarbeiterInnen gegen Kinder und Jugendliche in stationären Hilfen. Im Fokus stehen dabei Parallelen (Strukturmerkmale), die die öffentlich gewordenen Fälle der vergangenen Jahre aufweisen.
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21 unsere jugend, 70. Jg., S. 21 - 28 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art04d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Fabian Kessl Erziehungswissenschaftler, Professor für Soziale Arbeit an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen Machtmissbrauch und Gewalt in den stationären Hilfen Strukturmerkmale gegenwärtiger Gewaltkonstellationen Der Beitrag beleuchtet die Entstehungsbedingungen von Machtmissbrauch und Gewalt durch pädagogische MitarbeiterInnen gegen Kinder und Jugendliche in stationären Hilfen. Im Fokus stehen dabei Parallelen (Strukturmerkmale), die die öffentlich gewordenen Fälle der vergangenen Jahre aufweisen. Ausgangspunkt: Das Postulat gewaltfreier Erziehung und die Dynamik der (gewaltförmigen) Grenzüberschreitung Die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Wohngruppen soll als Hilfe zur Erziehung dazu beitragen, einem dem Wohl des Kindes oder dem Jugendlichen entsprechende Erziehung zu gewährleisten (§ 27 Abs. 1 SGB VIII). Eine solche Hilfe ist dadurch gekennzeichnet, dass junge Menschen durch eine Verbindung ihres „Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung (ge)fördert (werden)“ (§ 34 SGB VIII). Gehen wir von diesen bestehenden Rechtsansprüchen aus, sind Wohngruppen für Kinder- und Friederike Lorenz Jg. 1983; Erziehungswissenschaftlerin M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Freien Universität Berlin Meike Wittfeld Jg. 1983; Sozialarbeiterin M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der AG Schule und Jugendhilfe der Universität Duisburg Essen Alle drei AutorInnen sind Teil des Forschungsverbundes „Institutionelle Grenzsituationen und Konstellationen von Zwang und Gewalt in stationären Hilfesettings“ (IGGH) an der Universität Duisburg-Essen. 22 uj 1 | 2018 Machtmissbrauch und Gewalt in den stationären Hilfen Jugendliche als Orte zu gestalten, die diese im Alltag gemäß ihren individuellen Bedarfen fördern, aber auch unterstützen und begleiten (ebd.). Bereits von hier aus lässt sich über gewaltförmige Übergriffe auf BewohnerInnen von Wohngruppen eindeutig urteilen. Schließlich stellen sie das Gegenteil einer fördernden, unterstützenden und begleitenden Hilfe dar. Diese Einschätzung wird noch durch den Verweis auf den gesetzlich fixierten Anspruch auf eine gewaltfreie Erziehung unterstrichen (§ 1631 Abs. 2 BGB). Da diese juristischen Normsetzungen historisch noch relativ jungen Datums sind, lassen sie sich in den Prozess einer Zivilisierung der Vorstellungen von Erziehung einordnen (Elias 1936/ 1976; auch Neidhardt 1986). Doch nicht nur zivilisationstheoretisch lässt sich Gewalt in stationären Hilfesettings problematisieren. Wie im Sozialgesetzbuch (VIII) bereits angedeutet, kann eine angemessene Gestaltung von Erziehungsverhältnissen nur gelingen, wenn die Einsicht in die bestehende Machtasymmetrie zwischen Erwachsenen und Kindern/ Jugendlichen in pädagogischen Kontexten dazu führt, dass das Tun der Erwachsenen an den Interessen der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet wird (Wolf 2007, 136). Konkret heißt das, die pädagogischen Entscheidungen seitens der Erwachsenen kontinuierlich dahingehend zu befragen, ob sie tatsächlich im Interesse der einzelnen BewohnerInnen liegen. In diesem Verständnis würde Gewalt als Zufügung von Leid und Schädigung auf einen Missbrauch der gegebenen Machtasymmetrie verweisen, weil die Interessen der abhängigen Kinder und Jugendlichen missachtet werden. Damit wird auch bereits deutlich, dass die Begriffe Gewalt und Machtmissbrauch im Kontext von Gewaltkonstellationen in den stationären Hilfen unmittelbar zusammenhängen. Mit dieser Prämisse ließen sich die vorliegenden Ausführungen im Sinne eines fachpolitischen und professionsethischen Statements bereits beenden. Der Blick in den alltäglichen Handlungsvollzug sensibilisiert allerdings dafür, dass eine solche prinzipielle Ablehnung von Gewalt in Erziehungskonstellationen auch in ein Dilemma führen kann. Mit der daran anschließenden Entscheidung für eine gute Intention aufseiten der verantwortlichen Einrichtung und der zuständigen Fachkräfte ist man zwar ethisch auf der richtigen Seite, eine solche Entscheidung imaginiert aber zugleich, dass bereits mit der Intention die notwendige gewaltfreie Erziehung gewährleistet und realisiert wäre. Schlimmer noch: Eine solche Reduktion der fachlichen Positionierung auf eine gute Intention verstellt allzu leicht den Blick darauf, dass die Heimunterbringung von Kindern und Jugendlichen nicht nur von grundlegenden Machtasymmetrien geprägt ist (Wolf 2007), sondern oftmals auch unter (implizitem) Zwang erfolgt (Kessl/ Lorenz 2015 b; Widersprüche 2007). Bestimmte Grenzsetzungen und machtvolle Interventionen gegenüber den Kindern und Jugendlichen sind im Feld stationärer Hilfe selbstverständlich und pädagogisch situativ legitimierbar. Genau diese Legitimation setzt aber voraus, dass ein solches Vorgehen klar von Grenzüberschreitungen, und damit von gewaltförmigen Übergriffen, abgegrenzt werden kann. Eine mögliche Dynamik hin zu einem gewaltförmigen Übergriff kann nur vermieden werden, wenn neben der notwendigen fachlichen Erfahrung ein möglichst differenziertes Wissen vorliegt, warum Grenzsetzungen und bestimmte Formen der Intervention eine gewaltförmige Dynamik entfalten können. Nur auf dieser Basis kann in Korrespondenz mit der notwendigen Erfahrung im Feld eine Grenzüberschreitung vermieden werden. Mit unseren vorliegenden Überlegungen wollen wir zu diesem notwendigen Wissen etwas beitragen. Dazu widmen wir uns den Entstehungsbedingungen gewaltförmiger Übergriffe im Feld stationärer Hilfen und arbeiten zwei 23 uj 1 | 2018 Machtmissbrauch und Gewalt in den stationären Hilfen entscheidende Strukturmerkmale heraus, d. h. zwei Charakteristika, die nach vorliegendem Kenntnisstand für die Herausbildung gewaltförmiger Konstellationen begünstigend sind. In den Einrichtungen resp. Wohngruppen, aus denen im aktuellen Jahrzehnt gewaltförmige Übergriffe durch MitarbeiterInnen öffentlich bekannt geworden sind, fand die dortige Gewalt erstens ihre Legitimierung in den gültigen Gruppenkonzepten. Die dort versprochenen Verhaltensmodifikationen und -änderungen bei den BewohnerInnen orientieren sich zweitens an einem idealen Verhaltensmodell. Gewaltförmige Konstellationen in den stationären Hilfen Gewaltförmige Konstellationen in den stationären Hilfen sind in der jüngeren Vergangenheit in die Aufmerksamkeit von Fachpolitik und Fachdiskussion gerückt worden - sowohl mit Verweis auf historische (Runder Tisch Heimerziehung 2010; Kappeler 2013) wie gegenwärtige Vorfälle (Lindenberg/ Prieß 2014; Kessl/ Lorenz 2015 a; 2015 b; 2016). Sowohl in den Heimen der 1950er und 60er Jahre als auch in den Wohngruppen, die in den vergangenen Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit geraten sind (u. a. die Haasenburg in Brandenburg, das bayerische Haus Maria, der Friesenhof in Schleswig-Holstein oder die Liacon in Nordrhein- Westfalen) haben MitarbeiterInnen Praktiken vollzogen, die den Bewohnern Leid und Schmerzen zugefügt, sie gezielt geängstigt oder gedemütigt oder ihnen zentrale Bedürfnisse vorenthalten haben. In unseren weiteren Ausführungen nehmen wir konkret Bezug auf zwei dieser jüngeren Fälle: den Friesenhof und die Liacon. Beide sind Einrichtungen im Feld der stationären Hilfen (Jugendhilfe und Eingliederungshilfe). Wir konzentrieren uns auf die genannten beiden Fälle aufgrund des uns zugänglichen Wissens über die dortigen gewaltförmigen Konstellationen. Deren Analyse macht deutlich, dass nicht das individuelle Fehlverhalten einzelner Fach- und Leitungskräfte der alleinige Grund für die grenzüberschreitende Dynamik war, sondern dass ein organisationaler Ermöglichungskontext für deren Verhalten entscheidend war. Um zu verstehen, wie es zu einem solchen Ermöglichungskontext für Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kommen kann, hilft der Blick auf die Charakteristika der nachfolgenden Fälle (Strukturmerkmale), die diese gewaltförmigen Konstellationen jenseits ihrer fallspezifischen Aspekte kennzeichnen (Kessl u. a. 2015). Friesenhof (Kreis Dithmarschen) Aus drei Wohngruppen des Unternehmens Kinder und Jugendhilfeeinrichtung Friesenhof Barbara Janssen GmbH & Co. KG für Mädchen und junge Frauen (nach SGB VIII) in Schleswig-Holstein werden im Sommer 2015 gewaltförmige Übergriffe öffentlich bekannt und diskutiert. Mädchen, die in den Gruppen untergebracht waren, berichten von systematischen Bestrafungen u. a. durch körperliche Gewalt (z. B. Fixierungen), Kollektivstrafen (z. B. Vergabe ungewürzten Essens), Zwangssport, Isolation und Sprechverboten (Schleswig-Holsteinischer Landtag, 433ff ). Die anschließend durch das Landesjugendamt untersuchten Gruppen verfügten jeweils über eine genehmigte Gruppenkonzeption. Eine markante Rolle spielt in diesen Konzepten die Praxis der Verhaltensregulation der Bewohnerinnen im Sinne eines Stufenplanes. So heißt es in der Konzeption des „Friesenhofes“ u. a.: „Rund um die Hausregeln und Pflichten der Bewohnerinnen haben wir unser häusliches Bewährungssystemgesetz. Hier haben wir in unserem Haus drei Bewährungsbereiche mit unterschiedlichen Graden der Selbstständigkeit und Freiheit eingerichtet.“ (ebd., 131) Und weiter: „Wer sich hier bewährt, steigt […] auf, wer sich nicht bewährt, steigt […] ab“ (ebd., 132). 24 uj 1 | 2018 Machtmissbrauch und Gewalt in den stationären Hilfen Liacon (Kreis Mettmann) Aus dem Fachbereich „Liacon“, die zu diesem Zeitpunkt zur Educon gGmbH gehört, einer ehemaligen Tochtergesellschaft der Graf Recke Stiftung in Nordrhein-Westfalen, wird im Jahr 2010 öffentlich bekannt, dass ein für zwei Wohngruppen der stationären Eingliederungshilfe zuständiges Team über mehrere Jahre systematisch Gewalt ausgeübt hat. Der Legitimationsrahmen des pädagogischen Personals ist das auf Belohnung und Bestrafungslogiken basierende IntraActPlus-Konzept (Jansen/ Streit 2006; 2015). Im Alltag der Wohngruppen wird die dort präferierte behaviorale Idee des vom zuständigen Landesjugendamt genehmigten Gruppenkonzepts gewaltförmig ausgelegt: u. a. durch Essensentzug, Strafsitzen auf einem Stuhl, wiederholtes Vom-Stuhl-Stoßen, als ,Therapie‘ deklarierte Fixierungen oder Isolation (Kessl/ Lorenz 2016, 41ff ). Ab Sommer 2008 wird die Gewalt durch einzelne MitarbeiterInnen sowie durch einen betroffenen Jugendlichen schrittweise aufgedeckt (ebd., 68ff ). Zwei der AutorInnen haben im Rahmen des Forschungsprojektes „Gewaltförmige Konstellationen in den stationären Erziehungshilfen. Eine Einzelfallstudie“ Interviews mit MitarbeiterInnen zu den Vorfällen in den Liacon-Gruppen geführt (vgl. Kessl/ Lorenz 2016). Das Forschungsprojekt wurde vom Träger, der Graf Recke Stiftung, der Diakonie Deutschland, der Diakonie Rheinland und dem EREV gefördert. Die Zitate im nun folgenden Text entstammen diesen Gesprächen und sind kursiv markiert. Strukturmerkmal I: Verhaltensmodifizierende (Gruppen)Konzepte Sowohl der Friesenhof als auch die Liacon sind aus der Diagnose heraus entstanden, dass eine bestimmte Gruppe von Kindern und Jugendlichen im öffentlichen Hilfesystem spezialisierte, sog. „intensivpädagogische“ Gruppenangebote benötige. So wird in Interviews mit Fachkräften der ehemaligen Liacon geschildert, dass der Träger vom Landesjugendamt zur Einrichtung einer intensivpädagogischen Gruppe für „schwierigere bewohner“ aufgefordert wurde und zugleich einrichtungsintern ein Bedarf für bestimmte Kinder und Jugendliche gesehen wurde, die als „ganz schwierig einzugliedern“ (Fachkraft Gruppendienst Liacon) galten (Kessl/ Lorenz 2016, 27). Nachfragen im Rahmen der Konzeptprüfung und -bewilligung durch das Landesjugendamt, das „ne gewisse besonderheit“ bei dem eingereichten Konzept für die Liacon-Gruppen wahrgenommen hatte (ebd., 29), führten aufgrund der Begründung seiner AutorInnen und der bewährten Zusammenarbeit mit dem Träger nicht zu einer Ablehnung oder zu einer Überarbeitungsaufforderung durch die Aufsichtsbehörde. Die Unterbringung der Kinder und Jugendlichen wurde in der Liacon wie im Friesenhof vielmehr als Möglichkeit beschrieben, Aufenthalte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Medikation zu vermeiden und stattdessen normalisierend auf die BewohnerInnen einzuwirken (vgl. ebd., 33; Schleswig-Holsteinischer Landtag, 119, 124, 160). Das Versprechen der Konzepte, das in einzelnen Fällen faktisch auch eingehalten wurde, war, dass die BewohnerInnen wieder am Alltag teilnehmen könnten - z. B. in Form eines Schulbesuchs (Kessl/ Lorenz 2016, 78; Magyar-Haas 2015, 51). Aufgrund ihres Versprechens der relativ kurzfristigen Verhaltensmodifizierung gelten behaviorale Ansätze als effizienter als alternative therapeutische und pädagogische Interventionsprogramme (Bohle u. a. 2014). Der Bericht über entsprechende bemerkenswerte Verhaltensänderungen spielt in Bezug auf die Anerkennung, die z. B. die Liacon-Wohngruppen innerhalb der Einrichtung und darüber hinaus erfahren haben, eine zentrale Rolle. Über ein Mädchen, das in der wissenschaftlichen Analyse „Rabea“ genannt wird, erzählt eine Fachkraft einer anderen Wohngruppe des Trägers: „und dann ist die Rabea halt äh gewechselt in die 25 uj 1 | 2018 Machtmissbrauch und Gewalt in den stationären Hilfen [Gruppenname] […] hab die Rabea dann auf nem sommerfest wiedergesehen wo die halt wie ein ganz normales mädchen über das sommerfest ging (.) und man dachte sich, das gibt es gar nicht“ (Kessl/ Lorenz 2016, 36). Dass diese kurzfristigen, deutlich sichtbaren Veränderungen ein direktes Ergebnis der gewaltförmigen Disziplinierung der Bewohnerin waren, also eines sanktionsbewehrten Bedrohungsregimes, dem sich das Mädchen beugte, erschloss sich dieser und anderen Fachkräften erst im Lauf der Aufdeckung der gewaltförmigen Konstellation. Die konkreten Arbeitsweisen in den Liacon-Gruppen waren ihnen bis dahin entweder nur ausschnitthaft bekannt oder sie wurden bei Nachfragen mit Verweis auf das besondere Konzept der Gruppe legitimiert (ebd., 95). Halten wir also für das erste Strukturmerkmal fest: (Gruppen)Konzepte, wie sie z. B. im Friesenhof oder in der Liacon vorlagen - und auch von dem zuständigen Landesjugendamt genehmigt waren - vermochten mit ihren Versprechen einer grundlegenden Verhaltensveränderung und -anpassung sowohl Fach- und Leitungskräfte aufseiten des Trägers wie der Aufsichtsbehörde als auch einzelne Eltern der BewohnerInnen zu beeindrucken und zu überzeugen. Gerade das scheinbare Einlösen dieser Versprechen, das bereits einige Wochen nach der Eröffnung der neuen Gruppen zu beobachten war, verstellte den Blick, wie es zu den entsprechenden Verhaltensveränderungen kommen konnte. Die Fokussierung auf den ,Effekt‘ von Maßnahmen führte dazu, dass „dem konkreten Alltag der Jugendlichen und den Umgangsweisen mit ihnen wenig Aufmerksamkeit geschenkt [wird], genauso wie die Konzepte, nach denen die Arbeit ausgerichtet werde und die zur Legitimation verschiedener gewaltförmiger Angriffe herangezogen werden, kaum kritische Berücksichtigung erfahren“ (Magyar-Haas 2015, 51). Erst der Blick auf die pädagogischen Prinzipien der Konzepte und der Blick in den Arbeitsalltag der Gruppen hätte die Gewaltförmigkeit der Konstellation in den Gruppen sichtbar machen können. Wenn aber „niemand nach den Prinzipien fragt, nach denen diese pädagogische Praxis ausgeübt wird, müssen dafür auch keine Gründe angegeben werden“ (Lindenberg 2015, 41). Verhaltensmodifizierende Konzepte, wie die im Friesenhof und in der Liacon angewandten, scheinen attraktiv, weil sie rasche Erfolge nicht nur versprechen und erwünschte Veränderungen verheißen, sondern aufgrund ihrer gewaltförmigen Intervention u. U. auch kurzfristig erreichen. Betrachtet man nun die Methoden und Arbeitsweisen, die in diesen Gewaltkonstellationen zum Einsatz kamen, wird deutlich, dass auch diese eine gemeinsame Logik aufweisen: Sie sind an einem idealen Verhaltensmodell ausgerichtet. Strukturmerkmal II: Orientierung an einem idealen Verhaltensmodell Die im Friesenhof und in der Liacon zum Einsatz gekommenen Methoden und Arbeitsweisen eint zuerst ihre Logik als Belohnungs- und Bestrafungssystem. Anweisungen des pädagogischen Personals war unmittelbar Folge zu leisten und den Gruppenregeln hatten sich die BewohnerInnen widerspruchslos zu fügen. Die konkreten pädagogischen Interventionen durch die MitarbeiterInnen richteten sich dabei an Regelkatalogen aus, denen ein ideales Verhaltensmodell zugrunde lag. Seine Anwendung fand dieses Modell pauschal für alle BewohnerInnen. Eine solche Regelfixierung, und damit verbundene konzeptionell festgeschriebene Mittel zu ihrer Durchsetzung, steht allerdings im direkten Widerspruch zur Logik eines sozialpädagogischen Fallverstehens (Müller 2012) und dem fachlichen Anspruch der Einzelfallorientierung. 26 uj 1 | 2018 Machtmissbrauch und Gewalt in den stationären Hilfen Die eindeutigen Regeln und Interventionstechniken versprechen den MitarbeiterInnen dagegen eine fallübergreifende Handlungssicherheit, gerade im Fall der anspruchsvollen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die eine intensive pädagogische Hilfe benötigen - und dazu noch einen raschen und messbaren Erfolg. Diese Sicherheits- und Effizienzsuggestion wird schließlich durch ein berufliches Orientierungsangebot ergänzt: Programme, wie der im Fall der Liacon-Gruppen konzeptionell platzierte IntraActPlus-Ansatz, bot den MitarbeiterInnen eine berufliche Identität als therapeutisch tätige Fachkraft an (Oetken 2013, 115). So wurden die Mitglieder des zuständigen (Groß-)Teams im Sinne des Ansatzes von den Protagonisten von IntraActPlus, Fritz Jansen und Uta Streit in ihrem Institut fortgebildet. Ihre Arbeitsweise präsentierten die MitarbeiterInnen mit Verweis auf diese Ausbildung in der Einrichtung und gegenüber den FachkollegInnen in benachbarten Wohngruppen als „therapeutisch“. Dieses Selbstverständnis erlaubte ihnen eine symbolische Aufwertung der eigenen Arbeitsweise und eine Abgrenzung gegenüber der sozial- und heilpädagogischen Arbeitsweise benachbarter Gruppen: „man hat aalso man hat auf jeden fall den restlichen gruppen so das gefühl gegeben als hätten wir ein leben lang nichts geleistet […] und hätten wir nicht alle schon damals und hätten hätten hätten ne (.) so gearbeitet wie die […] dann wäre aus dem einen oder anderen kind ja auch was ganz anderes geworden ne so und das war - wurde so publiziert“ (Fachkraft Gruppendienst) (Kessl/ Lorenz 2016, 37). Ihr therapeutisches Selbstverständnis ermöglichte den MitarbeiterInnen aber auch die Isolation der sogenannten ,Therapiesitzungen‘ als zentrale Arbeitsweise und Ort vielfältiger Gewalt gegen die BewohnerInnen: Diese Sitzungen sollten aufgrund ihres therapeutischen Charakters von niemandem gestört werden (Kessl/ Lorenz 2016, 60). Die Orientierung an einem idealen Verhaltensmodell erlaubt somit die Etablierung eines Ausnahmezustandes resp. einer nach außen weithin abgeschlossenen Sonderzone. Mit Verweis auf die Verhaltensabweichungen der in Blick geratenen Kinder und Jugendlichen erscheinen die Ausnahme und die Gestaltung eines besonderen Ortes jederzeit legitimierbar. Im Fall der Liacon-Gruppen konnten so verhaltenstherapeutisch verbrämte Instrumente, wie das sogenannte ,Klötzchen-Ziehen‘, als therapeutische Mittel präsentiert werden: Kindern und Jugendlichen wurden für ein bestimmtes Fehlverhalten (im Sinne des fixierten Regelkatalogs) Symbolfiguren entzogen. Beim Verlust aller Figuren wurden sie - oftmals massiv und gewaltförmig - sanktioniert (ebd., 45). Ganz ähnlich arbeiten die sogenannten Stufenpläne, wie sie in den Friesenhofgruppen zum Einsatz kamen: Hier werden die Bewohnerinnen für ihr Fehl- oder Wohlverhalten (wiederum im Sinne des fixierten Regelkatalogs) in einem einrichtungsinternen Privilegiensystem herauf- und herabgestuft - eine Belohnung oder Bestrafung, die im letztgenannten Fall häufig noch mit zusätzlichen Sanktionen und Diffamierungen verbunden wurde. Die Eindeutigkeit idealer Verhaltensmodelle erlaubt also eine immense Verengung des Spielraums an Interaktions- und Reaktionsmöglichkeiten in der alltäglichen pädagogischen Arbeit. Die Aufgabe der MitarbeiterInnen schrumpft auf die Durchsetzung vorgegebener Regeln durch vorgegebene Instrumente. Die Einnahme einer professionellen (sozial- oder heil-)pädagogischen Perspektive wird in diesen Gruppen dagegen konzeptionell vermieden: Statt eigene fachliche Entscheidungen zu treffen, sind die Fachkräfte dazu angehalten, schematischen Abläufen zu folgen (vgl. Kunstreich/ Lutz 2015, 27). Die Konsequenz im alltäglichen Tun ist eine enge Fokussierung auf bestimmte Ausschnitte des Verhaltens der Kinder und Jugendlichen. Einzelne Verhaltensweisen werden weitgehend unabhängig vom Kontext, von der Lebenslage und der Lebensgeschichte der Kinder und Jugendlichen problematisiert und als Ge- 27 uj 1 | 2018 Machtmissbrauch und Gewalt in den stationären Hilfen genstand der fachlichen ‚Bearbeitung‘, z. B. einer (verhaltens)therapeutischen ‚Behandlung‘, vorausgesetzt, weil sie vom idealen Verhaltensmodell abweichen. Dieser Fokus bringt mit sich, dass die subjektiven Bedürfnisse, Anliegen, Deutungen und Interessen der Kinder und Jugendlichen sowie ihre damit verbundene konkrete Lebenssituation und ihre biografischen Erfahrungen wenig(er) in die Arbeit einbezogen und berücksichtigt werden oder auch ganz ausgeblendet bleiben. Schluss In der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Gewaltkonstellationen in der stationären Erziehungs- und Eingliederungshilfe erweist sich die Reflexion von Strukturmerkmalen, von denen wir zwei exemplarisch im vorliegenden Text vorgestellt haben, als äußerst hilfreich. Sie können die Träger stationärer Hilfen wie die Fachkräfte, aber auch Eltern und BewohnerInnen, über die Ermöglichungskontexte von gewaltförmigen Übergriffen in den stationären Hilfen aufklären. Eine solche Aufklärung ist im Sinne eines differenzierten Wissens unbedingt erforderlich, um gewaltförmige Dynamiken, und damit verbundene Grenzüberschreitungen, in Zukunft möglichst zu vermeiden. Strukturmerkmale, wie die Gruppenkonzepte, die auf Verhaltensmodifikation setzen, und die Orientierung an einem idealen Verhaltensmodell, machen aber auch deutlich, dass es nicht ausreicht, wenn sich öffentliche wie fachliche Debatten in der Empörung über das Fehlverhalten einzelner Fachkräfte ergehen. Der Blick auf die Strukturmerkmale macht vielmehr auf die Tatsache aufmerksam, dass in solchen Fällen bestimmte Ermöglichungskontexte vorlagen: Bestimmte organisationale Bedingungen für die alltägliche Arbeit, bestimmte Produktionsbedingungen für stationäre Hilfen im Feld der Kinder- und Jugendhilfe wie der Eingliederungshilfen insgesamt, bestimmte gesellschaftliche Vorstellungen über Kindheit und Jugend usw. Erst solche Konstellationen erlauben die Platzierung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen in einzelnen Gruppen, wie sie im Friesenhof oder der Liacon, aber auch in einer ganzen Reihe anderer Einrichtungen in den vergangenen Jahren zu beobachten waren. Gelingt die Aufklärung im Feld von Kinder- und Jugendhilfe wie Eingliederungshilfe im Sinne einer Kontextualisierung von intensivpädagogischen, spezialisierten Wohngruppen, ist eine Basis für eine erfolgreiche Prävention erreicht. Diese benötigt allerdings auch eine qualifizierte Ausbildung, eine kontinuierliche Fortbildung und eine adäquate Bezahlung von Fachkräften in dem anspruchsvollen Arbeitsbereich stationärer Hilfen und eine kritische Überprüfung privat-gewerblicher Trägerkonstruktionen, wie sie sowohl im Fall des Friesenhofs, der Liacon, aber auch der brandenburgischen Haasenburg vorlagen. Prof. Dr. Fabian Kessl Universität Duisburg-Essen Fakultät für Bildungswissenschaften, Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik Universitätsstr. 2 45141 Essen Tel. (02 01) 1 83-35 54 E-Mail: fabian.kessl@uni-due.de Friederike Lorenz, M. A. Freie Universität Berlin, AB Sozialpädagogik Raum JK 24/ 122 e Habelschwerdter Allee 45 14195 Berlin Tel. (0 30) 83 86 34 78 E-Mail: friederike.lorenz@fu-berlin.de Meike Wittfeld, M. A. Universität Duisburg-Essen Fakultät für Bildungswissenschaften, Institut für Erziehungswissenschaften Universitätsstr. 2 45141 Essen Tel. (02 01) 1 83-63 40 E-Mail: meike.wittfeld@uni-due.de 28 uj 1 | 2018 Machtmissbrauch und Gewalt in den stationären Hilfen Literatur Bohle, A., Galuske, M., Grosse, M., Schäfer M., Schmid, N., van den Berg, W. (2014): Zusammenfassung des Abschlussberichts der Evaluation des Trainingscamps Lothar Kannenberg. In: https: / / www.uni-kassel.de/ fb01/ fileadmin/ datas/ fb01/ Institut_fuer_Sozialwe sen/ SozP%C3%A4d/ Zusammenfassung_Abschluss bericht_Homepage.pdf, 19. 9. 2017 Elias, N. (1936/ 1976): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt am Main, Suhrkamp Jansen, F., Streit, U. (Hrsg.) (2015): Fähig zum Körperkontakt. Körperkontakt und Körperkontaktstörungen - Grundlagen und Therapie - Babys, Kinder & Erwachsene - IAP-Konzept. Springer VS, Wiesbaden Jansen, F., Streit, U. (2006): Positiv lernen. Springer Medizin, Heidelberg Kappeler, M. 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