eJournals unsere jugend 70/3

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art18d
31
2018
703

Jugendarbeit im ländlichen Raum (Sachsens)

31
2018
Christian Hager
Andreas Borchert
Die Sächsische Landjugend e. V. hat Anfang 2016 begonnen, die Jugendhilfe im erweiterten Spektrum der §§ 11 – 14 und 16 SGB VIII im ländlichen Raum von Sachsen verstärkt in den Blick zu nehmen, zu analysieren und die Erkenntnisse laufend in Sachsen zu veröffentlichen. Auf Basis theoretischer Bezüge möchten wir dieses Wissen jetzt der bundesweiten Diskussion zur Verfügung stellen.
4_070_2018_3_0005
115 unsere jugend, 70. Jg., S. 115 - 123 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art18d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Jugendarbeit im ländlichen Raum (Sachsens) Die Sächsische Landjugend e.V. hat Anfang 2016 begonnen, die Jugendhilfe im erweiterten Spektrum der §§ 11 - 14 und 16 SGB VIII im ländlichen Raum von Sachsen verstärkt in den Blick zu nehmen, zu analysieren und die Erkenntnisse laufend in Sachsen zu veröffentlichen. Auf Basis theoretischer Bezüge möchten wir dieses Wissen jetzt der bundesweiten Diskussion zur Verfügung stellen. Was ist ländlicher Raum? Ländlicher Raum wird häufig ausschließlich in Differenz zur Stadt konstruiert und folgt dabei meist einer rein defizitorientierten Perspektive. „Dabei greift eine problemfokussierende oder dichotome Sicht auf ländliche Räume deutlich zu kurz - ‚der‘ ländliche Raum ist keine einheitliche Raumkategorie, da eine eindeutige Abgrenzung gegenüber verdichteten (also urbanen) Gebieten mit der fortschreitenden Angleichung an städtische Verhältnisse in Bezug auf Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur immer schwieriger wird“ (Penke 2012, 18). Grundsätzlich ist das Leben in Dörfern geprägt von folgenden Dimensionen der Lebensqualität: Naturnähe, Dorfgemeinschaft und Selbstwirksamkeitserfahrung (Harteisen/ Eigner-Thiel 2017, 167). Diese Dimensionen können jeweils unterschiedlich wirken. Beispielsweise kann die Dorfgemeinschaft positiv geprägt sein und dadurch unterstützend sowie identitätsstiftend wirken. Allerdings kann sie in der negativen Ausprägung sozialen Druck und Konfliktvermeidung fördern. Letzteres verstärkt dann beispielsweise Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in abgehängten Räumen (Heitmeyer 2014, 140). Insgesamt ist der ländliche Raum von unterschiedlich starker Abwanderung geprägt, die verschiedene Prozesse auslöst. „So folgt die ‚Anpassung‘ an den demografischen Wandel der immer gleichen Logik: Weniger Menschen brauchen weniger Infrastruktur! […] ‚Weiche‘ Infrastrukturen wie Bildung oder Kultur fallen zuerst den Sparmaßnahmen zum Opfer“ (Neu 2014, 121). Christian Hager Jg. 1985; Sozialarbeiter M. A., Vorsitzender der Sächsischen Landjugend e.V. Andreas Borchert Jg. 1983; Dipl.-Sozialpädagoge, Fach- und Bildungsreferent bei der Sächsischen Landjugend e.V. 116 uj 3 | 2018 Jugendarbeit im ländlichen Raum Als Ergebnis einer Tour durch die Landkreise Sachsens im Jahre 2016, wo wir viele Gespräche mit Fachkräften geführt haben, sind wir zu dem Schluss gekommen, den ländlichen Raum für uns mit folgender, an dieser Stelle knapp gefassten Arbeitsdefinition zu versehen, die für uns auch die Orientierung für planerische Empfehlungen darstellt (Borchert/ Stüber 2017, 13): „Unter ländlichem Raum [in Sachsen] verstehen wir generell die seit der Kreisreform von 2008 existierenden zehn Landkreise in Sachsen. Dabei unterteilen wir im Speziellen vier Kategorien des ländlichen Raumes, welche gleichzeitig in einem Landkreis vorkommen oder auch die Grenzen überschreiten können: 1. Der „reine ländliche Raum“ […] 2. Der „ländliche Raum mit Mittelzentren“ […] 3. Der „verstädterte ländliche Raum“ […] 4. Der „großstadtnahe ländliche Raum“ […] [Diese Raumtypen] bergen Potenziale, aber auch Herausforderungen, insbesondere für junge Menschen und ihre Mobilität, welche für die Jugendarbeit und die Planungen relevant sein sollten, es aber leider nicht immer sind.“ Welche Möglichkeiten und Herausforderungen haben Kinder und Jugendliche im ländlichen Raum? Speziell auf die Zielgruppe der Jugend im ländlichen Raum bezogen lassen sich auf quantitativer Ebene neben den soziodemografischen Daten der jeweiligen Statistikämter kaum Aussagen treffen (Wenk 2005, 99). Es ist auch in Bezug auf qualitative Erkenntnisse eine eher übersichtliche Fachdiskussion zu verzeichnen. Zum Aufwachsen auf dem Dorf wurden von Herrenknecht (2009) verschiedene Dimensionen gezeigt. Davon sollen die aus unserer Sicht relevantesten im Folgenden kurz ausgeführt werden. ➤ „Funktionsraumverluste: Kinder- und Jugendbedürfnisse werden immer weniger im reinen Dorfraum befriedigbar. Die Freunde sind regional verstreut, der Konsum wird überregional organisiert, die persönlichen Treffpunkte liegen in der Region“ (ebd., 97). Dies wird durch mediatisierte Lebenswelten unterstützt, welche die Organisation von überregionalen Freundeskreisen ermöglichen. Hier ergänzen sich reale und virtuelle Lebenswelten. „Die inzwischen zu Mediotheken aufgerüsteten Land-Kinderzimmer vermitteln über das Internet […] nicht nur ‚Welt-Nachrichten‘, sondern auch neue Jugendwelten, Spielgemeinschaften und Bekanntschaften“ (ebd.). ➤ Weiterhin gibt es deutliche regionale Ungleichheiten, die lebensweltprägend sind: „die sozial-räumliche Lage des Ortes (abgelegener Ort oder verkehrsgünstige Lage), das Dorfklima (jugendfreundliche oder jugendfeindliche Grundstimmung), das örtliche Jugendangebot (persönlichinteressantes oder dorftraditionelles Angebot) und die Bedeutung der eigenen Ortskontakte (Dorffreundschaften)“ (ebd.). ➤ Außerdem ist eine Gleichzeitigkeit von früher unvereinbaren Interessen und Orientierungen zu verzeichnen. Also beispielsweise Heimatverein und Punksubkultur oder mobiles Stadterleben und Dorfverbundenheit. „Die alten festen ‚Lager‘ der Jugendsubkulturen scheinen auch auf dem Lande zunehmend zu verschwimmen“ (ebd.). Neben Herrenknechts Erkenntnissen spielen weitere Dimensionen eine Rolle für die Lebenswelt der Jugendlichen im ländlichen Raum. An erster Stelle ist dabei Schule zu nennen. Diese nimmt zeitlich, auch aufgrund von sehr langen Schulwegen, großen Raum ein. Schule wird für die sozialen Kontakte wichtiger als Vereine eingestuft. Gleichzeitig wird Schule als Institution betrachtet, die sich der (Mit-)Gestaltung zum großen Teil entzieht und daher ertragen werden muss (May 2011, 141f ). 117 uj 3 | 2018 Jugendarbeit im ländlichen Raum Ein weiterer Befund ist, dass die Bleibeorientierung mit der sozialen Eingebundenheit steigt. Auch wenn beispielsweise das Engagement und die Identifikation mit Vereinen mit dem Alter sinkt (ebd., 143, 147). In der Selbstbeschreibung lassen sich die Interessen von Jugendlichen stichpunktartig durch die Ergebnisse der vom BMFSFJ initiierten Beteiligungsarbeitsgruppe zusammenfassen: ➤ „Familie und Generationendialog fördern […] ➤ Daseinsvorsorge und Angebote der Jugendarbeit stärken […] ➤ Mobilität, Breitband-Internet und Mobilfunknetz ausbauen […] ➤ Darstellung und Wahrnehmung der Vielfalt junger Menschen fördern […] ➤ Jugendpartizipation und Engagement unterstützen […] ➤ Kompetenzen vermitteln, Chancen eröffnen […] ➤ Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten schaffen […] ➤ Teilhabe nach Zuwanderung ermöglichen […] ➤ Wertschätzung und Toleranz erhöhen“ (BMFSFJ 2016, 65) Im „corax - Fachmagazin für Kinder- und Jugendarbeit in Sachsen“ haben wir die zehn sächsischen Landkreise anhand von Landkreisportraits vorgestellt (Borchert/ Drößler 2016 - 2017) und dort Mitglieder der Jugendhilfeausschüsse sowie VertreterInnen von öffentlichen und freien Trägern unter anderem nach den Möglichkeiten und Herausforderungen junger Menschen im jeweiligen Landkreis gefragt. Folgende Aussagen wurden dabei landkreisübergreifend getroffen: ➤ Kinder und Jugendliche stehen einem demografischen Wandel gegenüber, der für sie vor allem bedeutet, weniger Peergroups vorzufinden oder selbst aufbauen zu können. Zunehmend gibt es eine Verlagerung des Freizeitalltags ins Digitale. ➤ Sie finden eine ausgedünnte soziale und kulturelle Angebotslandschaft vor, welche durch ehrenamtliche Angebote kaum ausgeglichen werden kann. ➤ Trotz teilweise stabiler wirtschaftlicher Verhältnisse in den Landkreisen, welche sich auch in einem, im Vergleich zu den Großstädten höheren durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen widerspiegeln, gibt es zunehmend komplexe Hilfebedarfe von Familien und Einzelnen, die in Form psychischer Erkrankungen, Suchtgefährdungen sowie Gewalt- und Vernachlässigungserfahrungen zutage treten. ➤ Die Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in den Kommunen und Landkreisen sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. Von sehr guten Beteiligungsformaten, über Scheinbeteiligungen bis hin zu nicht vorhandenen Möglichkeiten ist alles wiederzufinden. ➤ Der ÖPNV richtet sich fast ausschließlich an Schulzeiten aus. Eine darüber hinausgehende Mobilität hängt stark von der elterlichen Unterstützung bzw. (auch inhaltlichen) Forcierung ab und kann kaum selbstbestimmt gestaltet werden. ➤ Auch wenn Schule als stabiler Ort in der Lebenswelt ausgemacht wird, so ist dieser doch von vielen Ausfallstunden aufgrund von Krankheit und einem generellen Lehrkräftemangel geprägt und strahlt somit auch Diskontinuität und Unsicherheit aus. ➤ Gerade in den letzten zwei Jahren waren Kinder und Jugendliche mit dem Thema „Flucht und Asyl“ und insbesondere mit den darauf bezogenen (zivil-)gesellschaftlichen Diskussionen und Prozessen konfrontiert. Das Spannende an diesen Aussagen ist ihre Fokussierung auf Herausforderungen im Aufwachsen - Möglichkeiten wurden dagegen eher selten benannt. Diese Außenperspektive stellt natürlich nicht zwangsläufig die der Jungen und 118 uj 3 | 2018 Jugendarbeit im ländlichen Raum Mädchen selbst dar - auch wenn sie ihr nicht unbedingt entgegenstehen muss -, aber sie zeigt auf, welche Fokusse innerhalb der Jugendarbeit in den ländlichen Räumen Sachsens da sind und verweist damit vielleicht auch schon auf mögliche verfolgte Ziele und zu stellende Forderungen. Welche Ziele verfolgt die Jugendarbeit im ländlichen Raum? Die Ziele der Jugendarbeit im ländlichen Raum lassen sich anhand eines Dreiklangs bestimmen. Zum einen die von der Politik geforderten Ziele, wobei sich die politischen Forderungen i. d. R. darum drehen, mithilfe der Jugendarbeit Bleibeperspektiven zu eröffnen, um Jugendliche als Arbeitskräfte zu halten, umfeldkonformes Verhalten zu erzeugen und Kosten zu vermeiden (BMFSFJ 2016, 5; Wendt 2012, 122, 124f ). Zum zweiten die Ziele, die durch die Interessen der Jugendlichen vorgegeben werden (siehe die Erkenntnisse der Beteiligungsarbeitsgruppe des BMFSFJ oben). Und zum dritten die fachliche Einschätzung und praktische Umsetzung dessen durch die Fachkräfte im Rahmen der sozialpädagogischen Expertise. Abgesehen von den jeweiligen sozialpädagogischen Zielstellungen ist es auf der politischen Ebene problematisch, dass gerade in den Kommunen, in denen fehlende Infrastruktur ausgeglichen werden müsste, die Jugendhilfe selbst eine der ausgedünnten Infrastrukturdimensionen ist. Und daher ist sie eher mit der Absicherung und dem Erhalt der noch vorhandenen Angebote für Kinder und Jugendliche konfrontiert denn mit der öffentlichen und politischen Artikulation von Expertisen und Zielstellungen. In Analogie zu diesem Dreiklang der Zieldefinition kann für Sachsen unter Bezugnahme auf die Jugendhilfepläne der Landkreise und der entsprechenden Aussagen in den bereits erwähnten Landkreisportraits Folgendes festgehalten werden: Kinder und Jugendliche sind in Sachsen nicht anders als anderswo in Deutschland. Das, was sie beschäftigt und bewegt, wurde vom BMFSFJ (2016) aber auch von der DJI-Studie „Jugend im Blick“ (2016) bereits gut aufgearbeitet. Für die Politik auf Landkreisebene können übergreifend zwei geforderte Ziele für die Kinder-, Jugend- und Familienarbeit ausgemacht werden. Das erste Ziel ist die präventive Wirkung der Angebote zu forcieren. Oder anders gesagt: Sie auf die Bearbeitung von Problemlagen in Familien und bei Einzelnen auszurichten - je früher desto besser -, um darüber einen weiteren Kostenanstieg in den Hilfen zur Erziehung zu vermeiden oder ihn gar zu senken. Das zweite Ziel ist die Erfüllung der Maßgabe des SGB VIII, allen Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Angeboten zu ermöglichen. Oder anders gesagt: Mit dem gleichen Geld entweder die Zugänge zu den Angeboten zu zentralisieren, durch verstärkten Ausbau von Schulsozialarbeit („da sind ja alle“) und gleichzeitigen Abbau anderer Angebote bzw. die Aufforderung an alle, sich an den Ort Schule zu begeben. Oder die räumliche Zuständigkeit von (zusammengeführten) Angeboten geografisch zu erweitern, ungeachtet der tatsächlichen Mobilität junger Menschen und der vorhandenen Ressourcen von Einrichtungen und Projekten, diese Sozialräume tatsächlich (mobil und zeitlich) abdecken zu können. Die Beteiligung junger Menschen oder auch die Demokratiebildung zu fördern, sind selten Anliegen der Landkreise (durchschnittlich werden nur zwei Vollzeitstellen für die Jugendverbandsarbeit von einem Landkreis gefördert). Hier herrscht das Mantra vom fehlenden Geld für die sogenannten „freiwilligen Leistungen“. Dies sind also eher Anliegen der Fachkräfte oder bestenfalls auch der jeweiligen mitfinanzierenden Kommunen, wenn es Letzteren dabei nicht doch wieder nur um Befriedung und Anpassung geht. Die Expertise der Fachkräfte, sofern diese denn überhaupt Zeit und Reflexionsmöglichkeiten haben, eine solche zu entwickeln, fließt nur 119 uj 3 | 2018 Jugendarbeit im ländlichen Raum spärlich in die Zielsetzungen ein. Dies erfolgt sicherlich vor Ort in der alltäglichen Arbeit, aber Fachgremien, in denen auch die Möglichkeit zur fachlichen Auseinandersetzung besteht, sind selten zu finden. Insbesondere in den Jugendhilfeausschüssen der Landkreise herrscht eher eine angespannte und angepasste Stimmung, in der offene fachliche und fachpolitische Auseinandersetzungen selten geführt werden - auch aus Angst vor dem Verlust der eigenen Förderung. Besser funktioniert dies in der Aushandlung mit den lokal mitfinanzierenden Kommunen. Dass gegenüber einer Fachkraft nicht nur die Jugendlichen, sondern auch der Landkreis und die Kommune Ziele und damit verbundene Arbeitsaufträge formulieren, macht die Arbeit im ländlichen Raum im Vergleich zu einer Großstadt wie Dresden, die Landkreis und Kommune zugleich und damit nur eine Auftraggeberin ist, wesentlich herausfordernder. Wie steht es derzeit um die Jugendarbeit im ländlichen Raum? Wie bereits skizziert, leidet die Struktur der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere unter der demografischen Entwicklung (BMFSFJ 2017, 401). Dabei gibt es grundsätzlich zwei Strategien von Kommunen und Landkreisen, damit umzugehen. Einerseits den Ansatz, „durch strategische Vernetzung vorhandene Ressourcen besser zu nutzen, […] basierend auf Regionalanalysen eigene Leitbilder und Initiativen für Jugendliche zu entwickeln“ (Tillmann/ Beierle 2015, 18). Und andererseits „ein starkes und mitunter ausschließlich reaktives Programmmanagement […], was sich in einer umfangreichen Teilnahme an Landes- und Bundesprogrammen ausdrückt […]“ (ebd., 17). Problematisch ist dabei, dass diese diskontinuierliche, und damit letztendlich in der Wirkung stark begrenzte, Modellprogrammstrategie insbesondere von finanzschwachen Kommunen angewendet wird. Parallel dazu wird häufig auf das Ersetzen der Leistungen durch Ehrenamt gesetzt. Hier ergibt sich das Problem, dass (fachliches) Ehrenamt ohne Hauptamt nicht herstellbar ist. Daher „[…] können seitens der Politik bestehende, aber überhöhte Hoffnungen und Erwartungen an zivilgesellschaftliches Engagement bisher fast nur enttäuscht werden“ (Nadler 2017, 509). Auf Basis der Erkenntnisse der Landkreistour können gemeinsam auftretende Tendenzen innerhalb der ländlichen Jugendhilfe festgestellt werden (Borchert/ Stüber 2017, 14f ). Zunächst ist festzustellen, dass die Förderung häufig nicht auf fachlichen Kriterien beruht, sondern Finanzierungsgesichtspunkte den Haupteinfluss ausmachen. Dies geht soweit, dass der festgesetzte Betrag mitunter nachträglich auf demografische Faktoren zurückgeführt wird. Lebensweltanalysen als Basis planerischer Entscheidungen oder Einflüsse aus Beteiligungsprozessen sind höchstens als Alibi vorhanden. Eine weitere Tendenz ist die Entsäulung von Handlungsfeldern. Hier werden handlungsfeldspezifische Aufgaben aus den §§ 11 - 14 und 16 SGB VIII in einzelne Projekte übertragen. Hierbei gibt es einerseits einige wenige „multiprofessionelle Teams“, die einen großen geografischen Bereich abdecken oder von einem Zentrum aus in die ländliche Breite wirken sollen. Diese Teams haben dann den Auftrag, alle Aufgaben nach den genannten Paragrafen abzudecken. Andererseits gibt es die Strategie, Ziele und Aufgaben handlungsfeldunspezifisch zu definieren. Hier wird auf dezentrale Einrichtungen gesetzt, die zwar in einem Handlungsfeld verortet sind, aber ungeachtet dessen die gleichen Ziele umzusetzen haben. Dies soll in die Region wirken. „Diese Formen der Entsäulung unterliegen selten fachlichen oder gar begleiteten Konzepten. Vielmehr stellen sie den Versuch dar, mit weniger werdenden Mitteln ein ‚breitflächiges‘ Angebotsnetz aufrechtzuerhalten“ (ebd., 14). 120 uj 3 | 2018 Jugendarbeit im ländlichen Raum Eine Folge davon sind die von den Fachkräften benannten fehlenden KooperationspartnerInnen. Dies wird häufig auch als EinzelkämpferInnentum bezeichnet. Wo es keine (unterstützten) selbstverwalteten Jugendclubs oder -initiativen gibt, mangelt es an sozialen und (jugend)kulturellen Angeboten. Die Reaktionen auf den demografischen Rückgang von Jugendlichen in der Fläche befördern dabei die geringe Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Häufig wird die Schule bis in den Nachmittag besucht. Der unflexible ÖPNV sorgt dann für ein „Festsitzen“. Die Folge vonseiten der Jugendarbeit ist eine Konzentration auf Schule. Entweder wird die Schulsozialarbeit anderen Handlungsfeldern vorgezogen, dies wird derzeit durch die Landesförderung in Sachsen noch verstärkt, oder die freien Träger verlagern, gefordert oder eigenständig, die Angebote an die Schulen. Die Reaktionen dazu sind unterschiedlich. Häufig wird die Schule als Ressource gesehen, unabhängig vom Handlungsfeld. Dies ergibt unter dem Einfluss der Immobilität vieler Jugendlicher durchaus Sinn. In den Schulen haben die Fachkräfte Zugang zu fast allen Kindern und Jugendlichen. Dies lässt sich in tragfähige Beziehungen außerhalb der Schule übersetzen. So können passgenaue Angebote ermöglicht werden. Die Entsäulung ist daher auch positiv zu sehen. „Problematisch wird es, wenn die Fachkräfte den vielen Rollenanforderungen nicht mehr gerecht werden können aufgrund der verschiedenen Zugänge zu der gleichen Zielgruppe. Dadurch können Zeit für Reflexion fehlen oder Rollenkonflikte in der Arbeit auftauchen, die auf Beziehung basierende Jugendarbeit unmöglich machen“ (ebd., 15). Viele Fachkräfte reagieren auf die verringerte Förderung mit anders finanzierten Projekten. Allerdings bringt dieser „Ausgleich“ zusätzlichen Verwaltungsaufwand mit sich. Letztendlich wird dadurch, in Kombination mit den dichteren Aufgaben, der Vereinzelung Vorschub geleistet. Tragfähige Netzwerke sind nur vorhanden, wenn mehrere Projekte/ Fachkräfte bei einem Träger angesiedelt sind. Weiterhin ist die Tendenz zu verzeichnen, dass Beteiligungsprojekte durchgeführt werden. Diese sollen die Interessen der Jugend in politische Prozesse einspeisen. Neben dem fachlichen Anspruch stellen diese auch eine indirekte Kritik an den politischen Entscheidungen dar, die in die Förderstrategie der Landkreise mündet. „Da die Landräte in fast allen Landkreisen sehr resolute Agenden fahren, in denen die Jugendhilfe (und auch das Jugendamt) eher den Status eines ungeliebten Stiefkindes erfährt, sind an Beteiligungsprojekte eben auch Hoffnungen auf Veränderung geknüpft, welche im direkten Dialog nicht erreicht werden können“ (ebd.). Als letzte Tendenz ist der, häufig aus den schlechteren Arbeitsbedingungen resultierende, tatsächliche Fachkräftemangel zu nennen. Wie kann und muss eine Jugendpolitik für den und mit dem ländlichen Raum aussehen? Grundlegend sollte zunächst der, wenn auch nicht einklagbare, gesetzliche Auftrag, Jugendarbeit in geeigneter Form für alle Jugendlichen zugänglich zu gestalten, ernst genommen werden. Dazu ist es notwendig, eine an regionalen Gegebenheiten ausgerichtete Jugendhilfeplanung und deren Umsetzung durchzusetzen. Allerdings liegt bereits die Planung „in vielen Landkreisen z. T. seit vielen Jahren brach“ (Tillmann/ Beierle 2015, 18). Hinzu kommt die Problematik, dass auch politische Akteure konstatieren: „Da die Zuständigkeit für Jugend auf verschiedenen administrativen Ebenen […] liege, Jugendpolitik auf Langfristigkeit angelegt sei und dem politischen Denken in Legislaturperioden entgegenstehe, würde diese kaum kontinuierlich verfolgt oder nur symbolisch betrieben“ (ebd.). 121 uj 3 | 2018 Jugendarbeit im ländlichen Raum „Werden weiterhin allein Inputkriterien (Mindestklassenstärke, Liniennetze, Bettenzahlen) herangezogen […], so wird sich die bereits heute prekäre Versorgungslage in entlegenen ländlichen Räumen weiterhin verschärfen. Dabei geht es gar nicht darum, dass in allen Regionen die Ausstattung mit Infrastruktur gleich hoch sein soll, sondern, dass ein Wechsel hin zu einer Orientierung an Output-Kriterien für Infrastrukturen vorgenommen wird: Was ist das gesellschaftliche Ziel? Wie kann dieses Ziel mit welchen Mitteln erreicht werden“ (Neu 2014, 122)? Die finanzielle Situation der Landkreise ist sehr angespannt, dies zu leugnen und einfach mehr Geld für die Jugendarbeit zu fordern, würde an der Realität vorbeizielen. Allerdings ist die Vorstellung, dass die bestehende Jugendhilfeinfrastruktur die multiplen Aufgabenzuweisungen bewältigen kann, ebenso realitätsfern. Deshalb muss die (fach)politische Frage geklärt werden, was das mit der Jugendarbeit verfolgte (gesellschaftliche) Ziel ist. Auf den ersten Blick ist es die Entscheidung zwischen einer „Jugendarbeit für alle“ und einer „Angebotsstruktur zur HzE-Prävention für gesellschaftlich Benachteiligte“, wobei dann auch nur eins umgesetzt werden sollte. Auf den zweiten Blick geht es aber um die Analyse der anstehenden Herausforderungen und die Festlegung auf gewünschte Entwicklungen im jeweiligen ländlichen Raum sowie um die ehrlich geführte Diskussion um die Potenziale und mögliche „Nebenwirkungen“ der beiden Entscheidungsmöglichkeiten. Unserer Meinung nach trägt eine soziale und (jugend)kulturelle Angebotsvielfalt (und die dadurch gegebene Wahlmöglichkeit für Kinder und Jugendliche) zur Stärkung ihrer Persönlichkeiten und Ressourcen bei. Diese steht allen jungen Menschen offen, wirkt dadurch auch unterstützend und präventiv bei (familiären) Herausforderungen, bietet die Möglichkeit zu Ehrenamtlichkeit und sozialem, identitätsstiftendem Eingebundensein und stärkt so auch die - im ländlichen Raum oft politisch angestrebten - Bleibe- und Wiederkehrperspektiven junger Menschen. Um dies zu erreichen, müssten die Bedarfe und Bedürfnisse junger Menschen ressortübergreifend angegangen werden, ganz im Sinne einer eigenständigen Jugendpolitik mit: ➤ jugendbeauftragten Personen in den Gemeinden und Landkreisen, um Andockstation für JugendarbeiterInnen zu sein, sowie zu beachten, welche Entscheidungen Kinder und Jugendliche betreffen, und diese dann auch sonst innerhalb des Gemeinwesens zu beteiligen ➤ kreativen Ideen für den Ausbau der Mobilität junger (und damit auch aller) Menschen, bspw. über Car- und E-Bike- Sharing-Modelle oder ehrenamtlichen BürgerInnen-Taxis zu Öffnungszeiten von Jugendangeboten ➤ der Förderung von selbstorganisierten Jugend- und Familienräumen durch gezielte hauptamtliche Unterstützung Was kann die öffentliche und freie Jugendhilfe selbst angehen? Die Kreisjugendämter haben angesichts fehlender MitarbeiterInnen, finanziellem und strukturellem Druck nur geringe Handlungsspielräume. Umso mehr sollten sie den Schulterschluss mit den freien Trägern suchen und gemeinsam eine Fachexpertise aufbauen, die auch politische Beachtung findet. Als erste Schritte dahin könnte das Sachberichts- und Antragswesen sinnvoll eingekürzt und als tatsächliches, gemeinsames Evaluationsinstrument genutzt werden. Dies würde bei den Fachkräften Zeitressourcen, die sie wieder in ihre eigentliche Arbeit im Sozialraum einsetzen und damit auch eine größere Wirksamkeit entfalten könnten, und das Gefühl freisetzen, ernst genommen und als KooperationspartnerInnen anerkannt zu werden. Weiterhin würde diese gemeinsame Expertise dazu führen, anstatt einer aufgesetzten Entsäulung zu einer bedarfsgerechten Flexibilisierung zu kommen, die den demografischen 122 uj 3 | 2018 Jugendarbeit im ländlichen Raum Entwicklungen, den verschiedenen, am Anfang aufgeführten Raumtypen mit ihren jeweiligen Mobilitätsherausforderungen und natürlich den jungen Menschen selbst gerecht werden würde. Darüber hinaus wäre es ein wichtiger Beitrag, die zumindest in Sachsen gegebenen Fachstandards und -empfehlungen des Landesjugendhilfeausschusses für die verschiedenen Handlungsfelder mit entsprechender Förderung und ggf. notwendiger Projektzusammenlegung umzusetzen (bspw. mind. zwei Fachkräfte pro Angebot), damit die Stellenattraktivität im ländlichen Raum wieder steigt und dem Fachkräftemangel entgegengewirkt wird. Den einzelnen Fachkräften generelle Empfehlungen auszusprechen, wie sie ihre methodische Arbeit besser machen könnten, würde angesichts eines zunehmenden EinzelkämpferInnentums und anderen Rahmenbedingungen eher zynisch wirken. Sicherlich könnten sie neben dem Methodischen prüfen, ob sie mit anderen Fachkräften im „näheren“ Umfeld gemeinsame, angebotsübergreifende Handlungsstrategien verfolgen und ob sie auch gute Fäden in die Politik gesponnen haben, aber mehr noch sind die TrägerInnen im Jugendhilfeausschuss und darüber hinaus gefragt. Sie sind angehalten, gemeinschaftlich für (die Einhaltung von) Fachstandards einzutreten, über innovative Projektverbünde mit beruflichen Aufstiegschancen nachzudenken und vor allem für und mit Kindern und Jugendlichen für eine vielfältige Angebotslandschaft zu streiten. Christian Hager und Andreas Borchert Sächsische Landjugend e.V. Unterer Kreuzweg 6 01097 Dresden E-Mail: andreas.borchert@landjugend-sachsen.de christian.hager@landjugend-sachsen.de Literatur Borchert, A., Drößler, T. (2016-2017): Landkreisporträts. Corax - Fachmagazin für Kinder- und Jugendarbeit in Sachsen. Ausgaben 1 - 6/ 2016 und 1 - 4/ 2017. Chemnitz. In: www.corax-magazin.de/ tag/ landkreis portrait, 10. 11. 2017 Borchert, A., Stüber, S. (2017): Jugendarbeit im ländlichen Raum Sachsens. Corax - Fachmagazin für Kinder- und Jugendarbeit in Sachsen 1/ 2017, 13 - 15 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2016): Jugend gestaltet Zukunft. Gelingendes Aufwachsen in ländlichen Regionen. Berlin. In: www.demografie-portal.de/ SharedDocs/ Arbeitsgruppen/ DE/ 2014/ Ergebnisse/ AG-A2-Gelingendes-Aufwachsen-in-laendlichen-Regionen.pdf; jsessionid=490E043F515DF5853969BF37D32F0C85. 2_cid389? __blob=publicationFile&v=2, 16. 11. 2017 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin Deutsches Jugendinstitut (DJI) (2016): Jugend im Blick - Regionale Bewältigung demografischer Entwicklungen. Projektergebnisse und Handlungsempfehlungen. Harteisen, U., Eigner-Thiel, S. (2017): Lebensqualität und Dorfentwicklung. Eine Fallstudie aus Niedersachsen. In: Raumforschung und Raumordnung 75 (2), S. 157 - 170, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s13147-016-0 459-7 Heitmeyer, W. (2014): Rechtsextremismus im ländlichen Raum. In: Dünkel, F., Herbst, M., Schlegel, T. (Hrsg.): Think Rural! Dynamiken des Wandels in peripheren ländlichen Räumen und ihre Implikationen für die Daseinsvorsorge. Springer VS, Wiesbaden, 131 - 146, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-03931-8_13 Herrenknecht, A. (2009): Die Rückkehr des ländlichen Blicks. Sozialräumlich-orientierte Kinder- und Jugendarbeit auf dem Lande. In: Ulrich Deinet (Hrsg.): Sozialräumliche Jugendarbeit. Grundlagen, Methoden und Praxiskonzepte. 3., überarb. Aufl. Springer VS, Wiesbaden, 93 - 114, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531- 91895-2_5 May, M. (2011): Jugendliche in der Provinz. Ihre Sozialräume, Probleme und Interessen als Herausforderung an die Soziale Arbeit. Budrich, Opladen 123 uj 3 | 2018 Jugendarbeit im ländlichen Raum Nadler, R. (2017): The Elephant in the Room. Über das Verhältnis von demographischem Wandel, Daseinsvorsorge und zivilgesellschaftlichem Engagement in Deutschland. In: Raumforschung und Raumordnung 75 (6), 499 - 512, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s13147- 017-0507-y Neu, C. (2014): Ländliche Räume und Daseinsvorsorge. Bürgerschaftliches Engagement und Selbstaktivierung. In: Frieder Dünkel, Michael Herbst und Thomas Schlegel (Hrsg.): Think Rural! Dynamiken des Wandels in peripheren ländlichen Räumen und ihre Implikationen für die Daseinsvorsorge. Springer VS, Wiesbaden, 117 - 124, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3- 658-03931-8_11 Penke, S. (2012): Ländliche Räume und Strukturen - mehr als eine „Restkategorie“ mit Defiziten. In: Debiel, S., Engel, A., Hermann-Stietz, I., Litges, G., Penke, S., Wagner, L. (Hrsg.): Soziale Arbeit in ländlichen Räumen. Springer VS, Wiesbaden, 17 - 28, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-18946-8_2 Tillmann, F., Beierle, S. (2015): Jugend im ländlichen Raum im Blick behalten! Erste Ergebnisse einer qualitativen DJI-Studie. In: dreizehn (13), 15 - 18 Wendt, P.-U. (2012): Kinder- und Jugendarbeit auf dem Land. In: Debiel, S., Engel, A., Hermann-Stietz, I., Litges, G., Penke, S., Wagner, L. (Hrsg.): Soziale Arbeit in ländlichen Räumen. Springer VS, Wiesbaden, 121 - 132, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-18946-8_10 Wenk, R. (2005): Jugend. In: Beetz, S., Brauer, K, Neu, C. (Hrsg.): Handwörterbuch zur ländlichen Gesellschaft in Deutschland. Springer VS, Wiesbaden, 97 - 104, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-322-80909-4_12