eJournals unsere jugend 70/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art39d
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2018
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Digitale Datenerhebung und -verwertung

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2018
Niels Brüggen
„Smart Youth Work“ heißt ein Konzept, das mit einem Beschluss des europäischen Rates im November 2017 für die europäische Jugendpolitik an Relevanz gewinnen wird. Dabei geht es u. a. darum, mit datenreichen Analysen Innovationen in die Kinder- und Jugendhilfe zu bringen. Big Data wird nicht nur als Thema der Medienkompetenzförderung, sondern auch für die eigene Arbeit relevant.
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242 unsere jugend, 70. Jg., S. 242 - 250 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art39d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Digitale Datenerhebung und -verwertung Herausforderung für eine zeitgemäße Medienkompetenzförderung in der Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten von Big Data „Smart Youth Work“ heißt ein Konzept, das mit einem Beschluss des europäischen Rates im November 2017 für die europäische Jugendpolitik an Relevanz gewinnen wird. Dabei geht es u. a. darum, mit datenreichen Analysen Innovationen in die Kinder- und Jugendhilfe zu bringen. Big Data wird nicht nur als Thema der Medienkompetenzförderung, sondern auch für die eigene Arbeit relevant. von Dr. Niels Brüggen Jg. 1976; M. A. Kommunikations-/ Medienwissenschaft, Informatik und Erziehungswissenschaft, Leiter der Abteilung Forschung des JFF - Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, München Ausgangslage: Vielfalt, Risiken und Chancen der Datenerhebung und -verwertung Big Data ist gegenwärtig ein Schlagwort, das metaphorisch für den digitalen Fortschritt steht und mit dem derzeitigen Fokus auf die Digitalisierung einen Hype erlebt. Die Dynamik dieses Hypes zeigt der Soziologe Jochen Mayerl auf. Demnach erschienen im Jahr 2011 noch weniger als 80 peer-reviewte Artikel zum Thema. Bereits 2014 waren es dagegen mehr als 5.000 Artikel, die in diesem Jahr neu im science citation index erfasst wurden (Mayerl 2015). Interessant ist vor diesem Hype, dass Jan-Felix Schrape in der aktuellen Debatte Bezüge zu utopischen wie auch dystopischen Prognosen entdeckt, die den Diskurs über die Computerisierung der Gesellschaft seit den 1960er-Jahren begleiten (Schrape 2016). Das Themenspektrum umfasst die Gefahr eines ,information overload‘, die Illusion umfassenden Wissens, die Angst vor einer Erosion der Privatsphäre oder die Sorge um Prozesse einer schleichenden Entdemokratisierung auf der Seite der Sorgen und auf der Seite der positiven Visionen Stichworte wie Dezentralisierung, Personalisierung, Transparenz oder die technische Erweiterung menschlicher Fähigkeiten, um Begrenzungen zu überkommen (ebd.). Dieses ganze Themenspektrum wird im aktuellen Diskurs mit Big Data assoziiert. Big Data Analytics sind statistische Prognoseverfahren Mit Big Data - genau genommen Big Data Analytics - stehen aktuell besondere Verfahren der Datenerfassung und -verwertung im Fokus. 243 uj 6 | 2018 Digitale Datenerhebung und -verwertung Oftmals werden zur Erklärung des Begriffs die „4V“ herangezogen, eine Marketing-Metapher von IBM. Die 4V von Big Data Analytics stellen dabei heraus, welche Datenformen neuerdings mittels computerbasierter Verfahren analysiert werden können, die zuvor noch nicht im großen Stil automatisiert ausgewertet werden konnten: 1. Volume: die Menge an Daten, die bei einer Auswertung berücksichtigt werden kann, ist deutlich größer geworden 2. Velocity: mittlerweile können dynamisch sich verändernde Datenbestände in Echtzeit analysiert werden 3. Variety: so können Daten aus unterschiedlichen Quellen in die Analysen einbezogen werden und schließlich 4. Veracity: mit den Analyseverfahren großer Datenmengen wird das Versprechen verbunden, dass die Güte der Einzeldaten nicht mehr so entscheidend ist und damit auch Daten in eine Analyse einbezogen werden können, deren Präzision nicht sicher geklärt ist (so können z. B. Daten aus unsicheren Quellen wie facebook, Twitter oder anderen Diensten einbezogen werden) Deutlich wird daran, dass Big Data auch bestimmte Paradigmen der Datenverarbeitung postuliert, die durchaus hinterfragt werden können und sollten. Klar ist aber, dass Big Data Analytics gut Muster erkennen kann. Mit dieser Stärke können diese Verfahren z. B. in der technischen Wartung genutzt werden, um typische Formen des Verschleißes zu erkennen und entsprechende Reparaturen vor einem Schaden durchführen zu lassen. Die Verfahren können aber auch eingesetzt werden, um entlang statistischer Wahrscheinlichkeiten Aussagen dazu zu erhalten, wie gut eine Bewerberin bzw. ein Bewerber auf eine Stelle passt oder wie wahrscheinlich (auf Basis der verfügbaren Daten der Lebensführung) eine bestimmte Erkrankung einer Person ist. Beide Informationen könnten relevant für Arbeitgeber, aber auch für Versicherungen etc. sein. Ob dies als Chance oder Risiko bewertet wird, hängt jeweils sicher auch davon ab, ob der Nutzen oder Schaden auf der eigenen Seite wäre. Im Kern sind es aber schnell ethische Fragen und Haltungen, die damit tangiert sind. Allgegenwärtigkeit der Datenerfassung ist eine ethische Herausforderung Die fortschreitende Durchdringung der Lebenswelt mit digitalen Medien, kurz die Mediatisierung, bringt mit sich, dass immer mehr Bereiche menschlichen Lebens mit digitalen Daten erfassbar werden. Einen massiven Sprung hat diesbezüglich das Smartphone mit sich gebracht, das mittlerweile bereits ab dem Grundschulalter ein ständiger Begleiter ist. Damit werden aber auch von jedem Smartphone-Nutzenden Daten verfügbar und zwar einerseits die Inhalte (Bilder, Texte von Nachrichten, Kontaktdaten etc.), die im Telefon eingegeben werden und auf die eine App Zugriff erhält, und andererseits sogenannte Verkehrsdaten oder Metadaten, wie zum Beispiel Daten zum aktuellen Aufenthaltsort, zu den Kontakten, von denen Nachrichten oder Anrufe erhalten wurden, und so fort. Am Beispiel der Metadaten kann leicht verdeutlicht werden, warum die Datenerfassung in der digitalen Gesellschaft unverzichtbar ist. Denn nur, wenn der Mobilfunkbetreiber weiß, wo sich das Telefon befindet, kann er auch einen Anruf oder eine WhatsApp-Nachricht richtig weiterleiten. Je stärker digitale Medien in die Lebensführung integriert werden, desto mehr werden diese Teile des Lebens auch digital erfasst und potenziell überwacht. Zugleich wird mobile Erreichbarkeit aber auch erst durch diese umfassende Datenerfassung und -verarbeitung möglich. Überwachung und Ermöglichung gehen in digitalen Infrastrukturen Hand 244 uj 6 | 2018 Digitale Datenerhebung und -verwertung in Hand, und damit wird die Frage nach dem ethisch-verantwortlichen Umgang mit den erfassten Daten relevant. Aus einer streng individuellen bzw. individualistischen Perspektive wäre es vermutlich leicht zu argumentieren, dass jeder Vorzug, der aus Datenauswertungen resultiert, positiv zu bewerten ist. So kann Google genauer die durch einen Stau entstehende Verspätung vorhersagen als andere Dienste, da das Unternehmen live beobachten kann, wie schnell die Smartphones auf den jeweiligen Streckenabschnitten unterwegs sind. Dies kann sogar neben dem individuellen auch einen gesellschaftlichen Nutzen haben, wenn Rettungswagen die jeweils aktuell schnellste Strecke wählen können. Zugleich sind aber auch Auswertungen möglich, die nicht übergreifend sind, sondern eine Klassifikation einzelner Personen ermöglichen. Hier hat Wolfie Christl in einer Studie eine Vielzahl an Beispielen zusammengetragen, was mit aktuellen Auswertungsverfahren möglich ist (vgl. Christl 2014). So können beispielsweise aus Anruf-Metadaten (u. a. Schnelligkeit des Rückrufs bei verpassten Anrufen) verschiedene Charaktereigenschaften wie Emotionale Stabilität, Offenheit oder Soziale Verträglichkeit mit einer Wahrscheinlichkeit von ca. 70 % prognostiziert werden. Hierbei liegen die Wahrscheinlichkeiten jeweils deutlich oberhalb einer Ratewahrscheinlichkeit, womit sie für Bewerbungsverfahren und andere, insbesondere wirtschaftliche Zwecke, durchaus attraktiv sein können. Zugleich wird damit die oben angesprochene Befürchtung umfassenden Wissens angesprochen, dass die Auswertungsverfahren mehr über die Menschen aufdecken können, als sie bewusst zeigen wollen. Deutlich wird damit, dass Privatsphäre wie auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (die freie Entscheidung darüber, was andere über einen wissen (können)) unter den Vorzeichen der Digitalisierung zumindest problematisch werden. Informelle Selbstbestimmung als Recht oder Verhandlungsgegenstand? - Die Perspektive von Jugendlichen Als Grundlage für eine zielgruppenorientierte Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe wird es unter diesen Vorzeichen unverzichtbar, nachzuvollziehen, wie Kinder und Jugendliche, die mit der selbstverständlichen digitalen Durchdringung ihrer Lebenswelt heranwachsen, sich Konzepte wie Privatsphäre und Privatheit oder auch die informationelle Selbstbestimmung aneignen. Im Überblick über die hierzu vorliegenden Studien können insbesondere drei Befunde gebündelt werden. Aneignung digitaler Räume entsprechend eigener Entwicklungsschritte: Erstens weisen eine Reihe von Studien darauf hin, dass Heranwachsende digitale Medien mit alterstypischen Motiven aneignen und sie damit Relevanz für die Persönlichkeitsentwicklung, für die Gestaltung sozialer Beziehungen, für die Unterhaltung etc. gewinnen (Schmidt et al. 2009; Wagner/ Brüggen 2013). Damit verbunden ist, dass sowohl die Interaktionsräume, die beispielsweise in Apps wie musical.ly oder snapchat entstehen, nicht in erster Linie als öffentliche Räume oder Öffentlichkeit im klassischen Sinne verstanden werden, sondern vielmehr als persönliche Öffentlichkeiten. Persönliche Informationen werden von Jugendlichen darin oftmals in der Vorstellung geteilt, dass eine bestimmte Gruppe an Plattformkontakten diese sehen wird. Die potenziell wesentlich größere Gruppe, die die Inhalte sehen wird, oder auch die Auswertung der Inhalte und Metadaten durch die Anwendungen stehen im Handeln von Jugendlichen oftmals nicht im Fokus - selbst wenn sie davon abstrakt Kenntnis haben. Anspruch an Handlungsautonomie und Selbstverantwortung bei gleichzeitiger (teils unbewusster) Überforderung: Typisch für das Jugendalter ist, dass die in einer Reihe von Studien 245 uj 6 | 2018 Digitale Datenerhebung und -verwertung befragten Jugendlichen die Verantwortung für den Schutz der eigenen Daten primär bei sich selbst gesehen haben. Dies korrespondiert mit der Entwicklung von Autonomie in größeren sozialen Zusammenhängen in diesem Alter. Interessant ist, dass Jugendliche dabei angesichts unter Jugendlichen etablierten Umgangsweisen mit digitalen Diensten eine Vorstellung von informationeller Selbstbestimmung entwickelt haben, die nicht davon ausgeht, von anderen ein Einverständnis einholen zu müssen, bevor sie Daten veröffentlichen. Vielmehr ist es eine übliche Praxis, Bilder von Freundinnen oder Freunden bei gemeinsamen Aktivitäten zu posten, und dabei wäre es schlicht nicht möglich, alle Betroffenen im Vorfeld zu fragen. Vielmehr, so äußerten die befragten Jugendlichen, könne man meist gut abschätzen, mit welchen Bildern andere einverstanden sind (Wagner et al. 2010). Wenn diese Einschätzung unzutreffend sei, dann müssten sich die betroffenen Personen eben melden und über die Veröffentlichung verhandeln. Somit wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Handeln von Jugendlichen zu einer Verhandlungssache. Die Anforderung, alle Inhalte, die von einem im Netz kursieren, zu überblicken, führt einerseits zu einer Kontrollspirale, weshalb es notwendig wird, immer wieder online zu gehen, und bei einigen Jugendlichen auch zu einer Resignation angesichts der Überforderung, die dieser Anspruch impliziert (ebd.). Fatalismus bezüglich eigener Rechte und übergreifender Schutzinstitutionen: Mit Blick auf die Datenauswertung durch die Anbieter von Online-Diensten zeigen sich unterschiedliche Phänomene. Vielen Jugendlichen ist nicht bewusst, welche Möglichkeiten zur Informationsgewinnung die Anbieter auf Basis der erfassten Daten haben. Dass die Tatsache, wie detailliert auf personenbezogene Eigenschaften rückgeschlossen werden kann, Jugendlichen nicht präsent ist und sie damit nicht einverstanden sind, wurde zumindest in qualitativen Studien zum Thema aufgedeckt (u. a. Brüggen et al. 2014). Repräsentative Daten liegen zu dieser Frage nicht vor. Dennoch sind mittlerweile die Anbieter auch bei Jugendlichen als Akteure präsent, die Interesse an der Auswertung von Daten haben. Beispielhaft zeigt dies das folgende Zitat von einem Jugendlichen in einer Gruppenbefragung, das zugleich als Titel des Berichts fungiert: „… dann sollte man gar nicht erst ins Internet, weil sie da mit Daten machen, was sie wollen“ (Gebel/ Schubert/ Wagner 2016). Der darin geäußerte Fatalismus lässt sich in Verbindung bringen mit den Befunden von Repräsentativdaten des Sicherheitsindex 2017 (vgl. Deutschland sicher im Netz 2017). Hier werden insbesondere jüngere Menschen der Gruppe der Fatalisten zugerechnet, die bezüglich der Sicherheit (auch ihrer Daten) bei der Nutzung von Online-Diensten zum einen Unsicherheit und zugleich wenig Hoffnung auf Unterstützung von anderer Seite äußern. Diese kurze Bündelung von zentralen Befunden verweist darauf, dass die fortschreitende Digitalisierung zumindest von einem Teil der Heranwachsenden als mit Unsicherheiten verbunden wahrgenommen wird. Hinzu kommt, dass die Möglichkeiten, aus Daten Informationen über einzelne Personen zu gewinnen, vermutlich Heranwachsenden weitgehend unbekannt sind. Da die digitalen Dienste aber auch und gerade bei Jugendlichen fest in der Lebensführung verankert sind, folgen daraus Anforderungen an die Förderung von Medienkompetenz nicht als ein optionales Bonusangebot, sondern als integraler Bestandteil der Kinder- und Jugendhilfe. Empfehlungen für eine zeitgemäße Medienkompetenzförderung in der Kinder- und Jugendhilfe Aus dem bisher Dargestellten können Empfehlungen abgeleitet werden, welche Themen bei der Unterstützung der Entwicklung von Me- 246 uj 6 | 2018 Digitale Datenerhebung und -verwertung dienkompetenz in den Fokus gerückt werden sollten. Diese sind ergänzend zu bereits entwickelten Ansätzen zu verstehen. Kritische Anmerkungen zur aktuellen Medienkompetenzförderung In den vergangenen Jahren stand die Stärkung der Selbstverantwortung zentral im Fokus vieler Angebote der Förderung von Medienkompetenz. Gerade im Hinblick auf den Datenschutz manifestierte sich dies in Slogans wie „Think before you post! “. Insbesondere Jugendliche sollten angeregt werden nachzudenken, welche Informationen sie über Bilder und Texte von sich veröffentlichen und hier reflexiv auswählen. Dabei stand der Gedanke im Vordergrund, dass andere Interaktionspartnerinnen und -partner (befreundete Personen, Lehrkräfte, potenzielle Arbeitgeber etc.) auf Plattformen wie schuelerVZ, facebook oder YouTube Einsicht in die veröffentlichten Inhalte erhalten können. Ohne die Sinnhaftigkeit dieser Überlegungen infrage zu stellen, wird angesichts der oben dargestellten Datenerhebung und -auswertung unter dem Schlagwort Big Data deutlich, dass dieser Fokus unzureichend ist (Brüggen 2015). Die Auswertungsverfahren von Big Data ermöglichen es ja gerade auch, Informationen zu gewinnen (oder zumindest Prognosen anzustellen), wo die Einzelnen keine individuellen Einflussmöglichkeiten haben bzw. eine digitale Selbstverteidigung extrem aufwendig wäre. Dies sind zugleich zwei Ansatzpunkte, die eine zeitgemäße Medienkompetenzförderung in der Kinder- und Jugendhilfe auszeichnen könnte: 1. Die Perspektive über die individuelle Verantwortung weiten und den Umgang mit digitalen Daten als gesellschaftliche und ethische Herausforderung thematisieren 2. Kompetenzen zur digitalen Selbstverteidigung stärken, um die eigenen Daten zumindest in bestimmten Fällen besser schützen zu können Ansatzpunkte für eine zeitgemäße Förderung von Medienkompetenz Grundlage für die Formulierung der nachstehenden Ansatzpunkte für die Förderung von Medienkompetenz ist das Konzept von Bernd Schorb (2017). Dieser fasst Medienkompetenz in den Dimensionen Wissen (instrumentell, analytisch und strukturell) und Reflexion (selbstbezogen, medienbezogen und gesellschaftsbezogen), die zusammen eine Orientierung und Positionierung erlauben, die wiederum zusammen dem kompetenten Handeln mit Medien (kommunikativ, kreativ und partizipativ) eine Richtung weisen. Medienkompetenz ist in dieser Vorstellung weder allein auf Bedienfertigkeiten, das instrumentelle Wissen, reduziert, noch in der Reflexion allein auf eine Kritik der Medienangebote konzipiert. Vielmehr ist gerade in der Reflexionsdimension angelegt, dass auch die „Einbettung der Medien in die Gesellschaft“ (ebd. 258) wie etwa „die Erfassung und Verwertung persönlicher Daten, aber auch die politischökonomische Macht der globalen Medienkonzerne und ihre Beeinflussung der lokalen Politik und des alltäglichen Lebens der Menschen“ (ebd. 259) durchdacht werden sollte. Eine allein auf das individuelle Subjekt bezogene Reflexion greift in dieser Setzung zu kurz. Umgang mit digitalen Daten als gesellschaftliche und ethische Herausforderung Damit gibt es zwei Gründe, den Umgang mit digitalen Daten mit einer gesellschaftlichen und ethischen Perspektive zu thematisieren: Einerseits ergibt sie sich normativ aus dem Konzept der Medienkompetenz und andererseits aus der Tatsache, dass Einzelne sich der Analyse von Massendaten gerade nicht durch individuelles Handeln entziehen können. Es stellt durchaus eine Herausforderung dar, Menschen, die (zumindest in Teilen) eine fatalistische Haltung entwickelt haben, zu einer Reflexion der gesellschaftlichen Bedeutung die- 247 uj 6 | 2018 Digitale Datenerhebung und -verwertung ser Entwicklung anzuregen. Zugleich erscheint es vor allem auch mit einem der demokratischen Grundordnung verpflichteten politischen Selbstverständnis von Kinder- und Jugendhilfe notwendig, gerade diese Herausforderung anzugehen. Zugleich liegen bereits methodische Anregungen vor, wie dies angegangen werden kann. Zwei Beispiele sollen an dieser Stelle kurz angesprochen werden. Eine interessante Methode findet sich in dem klicksafe-Materialpaket „Privatsphäre und Big Data“ und dort im Zusatzarbeitsblatt „Überwachung“ (vgl. Materialien am Ende). Als Zielstellung ist hier formuliert, dass die Schülerinnen und Schüler Situationen der Überwachung kennen und Folgen reflektieren können. Zur Sensibilisierung wird die Methode „Überwachung“ eingesetzt. Hier stellen sich freiwillige Spielende in einer Reihe auf. Verdeckt erhalten sie Karten mit unterschiedlichen Rollenzuweisungen. In diesen geheimen Informationen sind unterschiedliche Szenarien beschrieben, wie an der Schule (denkbar ist, dies einfach in andere institutionelle Rahmen zu übertragen) Überwachung technisch und/ oder physisch stattfindet. Diese Szenarien spannen ein Spektrum zwischen „es findet keine Überwachung statt“ bis hin zu einer „umfassenden Überwachung durch Menschen und Technologie“. Nun werden den Spielenden verschiedene Fragen gestellt, ob sie Dinge in diesem Rahmen tun würden. Wer die Frage mit Ja beantwortet, geht einen Schritt nach vorne. Schon nach wenigen Fragen werden hier Unterschiede erkennbar, inwiefern das Wissen, überwacht zu werden, durchaus Auswirkungen auf das eigene Handeln hat. Die Übung ist somit ein Ansatzpunkt, die Haltung „Ich habe doch nichts zu verbergen“ zu überwinden oder zumindest zu hinterfragen. Ein weiteres methodisches Beispiel findet sich im Materialpaket „Online-Werbung mit Jugendlichen zum Thema machen“ (JFF 2014). Darin wird mit einem Positionierungsspiel (vgl. Abbildung 1) eine Methode vorgeschlagen, wie Jugendliche zu einem Austausch über Haltungen zur Datenauswertung angeregt werden können. Dabei werden die Jugendlichen jeweils aufgefordert, sich zu verschiedenen Aussagen zuzuordnen, die etwa eine Grundhaltung zur Datenauswertung, zu Informationspflichten, aber auch zu … die Auswertung von Daten verbieten. (Angebote wie facebook können dann nicht kostenlos sein und man müsste für die Nutzung zahlen.) … Unternehmen weiterhin erlauben Daten zu sammeln. (Man muss einfach selbst aufpassen, welche Daten man preisgibt.) … verlangen, dass alle gut informiert werden, was mit den Daten gemacht wird. … Angebote sperren lassen, die nicht nach deutschen Regeln arbeiten. A C B D Wenn ich Gesetze machen könnte, würde ich … Abb. 1: Positionierungsspiel aus dem Materialpaket „Online-Werbung mit Jugendlichen zum Thema machen“ 248 uj 6 | 2018 Digitale Datenerhebung und -verwertung Forderungen nach einer gesetzlichen Regulation der Datenauswertung beinhalten. Jeweils werden vier Antwortoptionen (A bis D) vorgeschlagen, bei denen das Besondere ist, dass nicht eine Antwort richtig ist, sondern die vier Antworten ungefähr das Spektrum der aktuellen Diskussion abbilden. Jeweils sollen die Spielenden sich im Raum zu dem entsprechenden Buchstaben stellen, womit eine Diskussion zwischen verschiedenen Gruppen angeregt wird. Ein Teil der im Positionierungsspiel vorbereiteten Fragen regt genau die gesellschaftliche Perspektive an, wie übergreifend mit der Auswertung digitaler Daten umgegangen werden sollte. Aufbauend auf den beispielhaft vorgestellten Methoden ist es wichtig, mit den Jugendlichen gemeinsam Ideen und Forderungen zu entwickeln, welche Konsequenzen sie aus den Diskussionen ziehen wollen. Denn es ist schwierig, sich angesichts der oben angesprochenen wechselseitigen Bedingung von Überwachung und Ermöglichung bei digitalen Diensten nicht als ohnmächtig zu erleben. Hilfreich kann es hier aber sein - wie im Positionierungsspiel angelegt - in der Gruppe über Forderungen zu diskutieren, die eigene Schutzbedürfnisse berücksichtigen. Digitale Selbstverteidigung Ein weiterer Ansatzpunkt, der mit konkreten Handlungsoptionen verbunden ist, ist die Stärkung von Kompetenzen in der sogenannten digitalen Selbstverteidigung. Dass dies aber gerade nicht die gesellschaftliche Dimension des Problems aufgreift, wird bereits im Namen erkennbar. Dennoch kann es gerade auch in der Arbeit mit Heranwachsenden wichtig sein, konkrete Handlungsoptionen aufzuzeigen, wie persönliche Informationen besser geschützt werden können. Gerade in Kontexten der Kinder- und Jugendhilfe kann dies sogar aus professionsethischen Gründen geboten sein. Eine Beratung über WhatsApp schließt sich, z. B. angesichts der Datenauswertung des Konzerns facebook, datenschutzrechtlich ohnehin aus. Unter dem Schlagwort digitale Selbstverteidigung geht es um die Frage, welche sichereren Handlungsmöglichkeiten es in digitalen Räumen gibt. An verschiedenen Orten haben sich z. B. als Angebotsformat Cryptopartys etabliert, bei denen in informellem Rahmen Informationen zu verschlüsselter Kommunikation oder anonymem Surfen im Internet weitergegeben werden. Für die typischen Zielgruppen der Kinder- und Jugendhilfe sind diese Formate aber dennoch zu voraussetzungsreich. Entsprechend wurden niedrigschwelligere Methoden entwickelt, die auch in der Arbeit mit Heranwachsenden eingesetzt werden können. Von den Zielen der digitalen Selbstverteidigung können unterschiedliche Stufen unterschieden werden: 1. Bewusstsein über die Formen der Datenerhebung und -verarbeitung 2. Wissen über die in den Online-Diensten und Geräten vorgesehenen Einstellungsmöglichkeiten und Anwendung dieser Optionen 3. Wissen über datenschutzgerechte Alternativen zu gängigen Angeboten (Suchmaschinen, Browsern, Apps, Betriebssystemen etc.) und Nutzung dieser Dienste 4. … Mit den drei Punkten soll angedeutet werden, dass bei der digitalen Selbstverteidigung eine immer weitere Vertiefung möglich ist. Aber bereits die ersten drei Schritte können eingebettet in ein pädagogisches Konzept, das auch die gesellschaftliche und ethische Dimension von Big Data einschließt, konkrete Handlungsoptionen aufzeigen, dass es erstens möglich ist, auch anders mit digitalen Daten umzugehen, und zweitens dennoch attraktive Online-Angebote zur Verfügung stehen, die (zumindest teilweise) den Motiven von Heranwachsenden auch entgegenkommen. Schließlich bleibt es aber auch ein Aufgabenbereich der Kinder- und Jugendhilfe, sich für mediale Räume einzusetzen, die den Ansprüchen der Heranwachsenden und den eigenen fachlichen Ansprüchen gerecht werden. 249 uj 6 | 2018 Digitale Datenerhebung und -verwertung Digitale Jugendarbeit - Perspektiven für die Kinder- und Jugendhilfe vor dem Hintergrund der europäischen Diskussion Die hier skizzierten Entwicklungen lassen sich mit zwei aktuellen Rahmenpapieren in Verbindung setzen, die gerade auf europäischer Ebene diskutiert werden. So wurde mit dem Konzept der digitalen Jugendarbeit ein in diesem Zusammenhang relevantes Rahmenpapier von einer durch die EU-Kommission eingesetzten Expertengruppe zu „Digitalisierung und Jugend“ (Europäische Kommission 2018) erarbeitet. Digitale Jugendarbeit meint in der Arbeitsdefinition der Expertinnen und Experten, dass in der Jugendarbeit digitale Medien und Technologien proaktiv aufgegriffen und thematisiert werden sollten, und zwar als Werkzeug, Handlungsraum oder Gegenstand. Jugendarbeit sollte demnach also nicht nur die Potenziale der Digitalisierung aktiv nutzbar machen, sondern vielmehr die gesellschaftlichen Prozesse der Digitalisierung selbst zum Thema machen. Dies entspricht durchaus dem hier skizzierten Ansatz der Förderung von Medienkompetenz im Hinblick auf digitale Daten. Ganz im Sinne der Zielsetzung der Kinder- und Jugendhilfe akzentuiert das Konzept der digitalen Jugendarbeit darüber hinaus aber auch, dass Heranwachsende gestärkt werden sollten, die Digitalisierung als gestaltbar zu erleben, und auch eigene Gestaltungsansprüche in diese Entwicklung einzubringen. Dies steht auch eng in Verbindung mit dem hier grundgelegten Verständnis von Medienkompetenz, das gerade auch das partizipative Handeln mit Medien einschließt. Diese Perspektive sollte noch weiter entwickelt werden. Abschließend soll nochmals der Ratsbeschluss zu „smart youth work“ aufgegriffen werden. Denn dieses Konzept fokussiert nicht nur auf die Arbeit mit der Zielgruppe, sondern betrachtet auch die Bedeutung der Digitalisierung für die Arbeitsprozesse und -grundlage der Jugendarbeit bzw. auch der Kinder- und Jugendhilfe. So heißt es dort „smart youth work bedeutet, digitale Medien und Technologien zu nutzen und anzusprechen, um: a) Die Möglichkeiten aller Jugendlichen zur Information, zum Zugang zur Jugendarbeit, zur Partizipation, zum non-formalen und informellen Lernen zu erweitern, indem neue Räume und Formate für die Jugendarbeit sinnvoll genutzt werden b) Unterstützung des Motivations-, Kapazitäts- und Kompetenzaufbaus von Jugendbetreuern und Jugendleitern, um intelligente Jugendarbeit entwickeln und umsetzen zu können c) Ein besseres Verständnis der Jugend- und Jugendarbeit zu schaffen und die Qualität der Jugendarbeit und der Jugendpolitik durch effizientere Nutzung datengestützter Entwicklungen und Technologien zur Datenanalyse zu unterstützen“ (Rat der Europäischen Union 2017, 4, Übersetzung: N. B.) Insbesondere im Punkt c ist dabei die Idee verankert, Potenziale von Big Data auch als Arbeitsgrundlage für die Jugendarbeit und Kinder- und Jugendhilfe zu nutzen. Interessant ist, dass die ExpertInnengruppe darauf verweist, dass bei der Entwicklung von digitalen Technologien, die in der Kinder- und Jugendhilfe Verwendung finden, auch die Fachlichkeit der Fachkräfte eingebracht werden muss. Gerade dies ist sicher aber noch ein Bereich, in dem auch noch Kompetenzen aufgebaut werden müssen. Dr. Niels Brüggen JFF - Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis Arnulfstr. 205 80634 München Tel. (0 89) 68 98 91 30 E-Mail: niels.brueggen@jff.de 250 uj 6 | 2018 Digitale Datenerhebung und -verwertung Literatur Brüggen, N. (2015): Gedanken zur Neuausrichtung der Medienkompetenzförderung angesichts Big Data. In: Gapski, H. (Hrsg.): Big Data und Medienbildung. Schriftenreihe zur Digitalen Gesellschaft | NRW, kopaed, München, 51 - 62 Brüggen, N., Dirr, E., Schemmerling, M., Wagner, U. (2014): Jugendliche und Online-Werbung im Social Web. 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