eJournals unsere jugend 70/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art42d
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2018
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Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der stationären Kinder- und Jugendhilfe

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2018
Katja Nowacki
Silke Remiorz
Hermann Muß
Junge Menschen, die ohne Familie nach Deutschland fliehen, stehen vor großen Herausforderungen und benötigen die Jugendhilfe zur Unterstützung und Integration. Werden die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge volljährig, endet in den meisten Fällen zumindest die stationäre Jugendhilfe. Die jungen Menschen werden zu Care Leavern, die sich eigenständig zurechtfinden müssen.
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267 unsere jugend, 70. Jg., S. 267 - 275 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art42d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Katja Nowacki Jg. 1968; Diplom-Psychologin, Professorin für klinische Psychologie und Sozialpsychologie an der Fachhochschule Dortmund Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der stationären Kinder-und Jugendhilfe Integration und Care Leaving Junge Menschen, die ohne Familie nach Deutschland fliehen, stehen vor großen Herausforderungen und benötigen die Jugendhilfe zur Unterstützung und Integration. Werden die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge volljährig, endet in den meisten Fällen zumindest die stationäre Jugendhilfe. Die jungen Menschen werden zu Care Leavern, die sich eigenständig zurechtfinden müssen. Stationäre Kinder- und Jugendhilfe und Care Leaving Eine Unterbringung außerhalb der eigenen Herkunftsfamilie in stationären Jugendhilfeeinrichtungen ist insbesondere für die Kinder und Jugendlichen selbst mit vielen Verunsicherungen und Ängsten verbunden (Nowacki/ Remiorz 2014). Fühlen sie sich in dem Setting der Heimeinrichtung jedoch wohl, wird die Struktur des Zusammenlebens mit den BetreuerInnen und den MitbewohnerInnen häufig als familienähnlich angesehen (Remiorz/ Nowacki 2018). Ein Aufwachsen bis zur Volljährigkeit der Jugendlichen geschieht folglich in einem geschützten und vertrauensvollen Rahmen. Mit dem Erreichen des achtzehnten Lebensjahrs endet jedoch in vielen Fällen die Betreuung durch die stationäre Jugendhilfe und folglich auch die enge Anbindung an die jeweiligen stationären Heimeinrichtungen. Die jungen Erwachsenen werden in dem Prozess des Übergangs in die Eigenständigkeit zu „Care Leavern“ (Sievers u. a. 2015). Als „Care Leaver“ werden insgesamt Jugendliche und junge Erwachsene nach dem Verlassen einer stationären Hilfe Silke Remiorz Jg. 1985; Sozialwissenschaftlerin M. A., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Dortmund Hermann Muß Jg. 1954; Dipl.-Pädagoge, Geschäftsführer der Kinder- und Jugendhilfe FLOW gGmbH Bottrop 268 uj 6 | 2018 Integration und Care Leaving von UMF zur Erziehung bezeichnet, die vor der Verselbstständigung stehen (Thomas 2017). Eine Anbindung der Jugendlichen an Bezugspersonen aus ihrem sozialen Umfeld (u. a. Peers, ehemalige BetreuerInnen aus den Heimeinrichtungen sowie die Herkunftsfamilie) ist dabei elementar für ein gutes Gelingen des Übergangs von der Jugendhilfe in die Eigenständigkeit (Stein/ Wade 2000; Thomas 2017), um der Gefahr sozialer Ausgrenzung zu begegnen (Stein 2006). Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der stationären Kinder- und Jugendhilfe Handelt es sich bei den AdressatInnen der Jugendhilfe jedoch um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF), so sind besondere Aspekte von Schutz und Unterstützungsbedarf herauszustellen. Die UMF haben im Unterschied zu einheimischen Kindern und Jugendlichen andere Formen der Traumatisierung, wie zum Beispiel Kriegshandlungen, extreme Armut sowie traumatische Erfahrungen während der Flucht erlebt (Gilliéron/ Jurt 2017). Das Fliehen ohne Familienangehörige führt darüber hinaus zu Beziehungsabbrüchen, die für die Jugendlichen eine psychische Belastung darstellen können. Auch die Sorge um verfolgte, zwangsrekrutierte Familienangehörige oder sogar Informationen über Folter und Tod kann zu heftiger Verzweiflung aufseiten der Jugendlichen führen. Dazu kommen u. U. Erwartungen der Familie bzgl. eines eventuellen Familiennachzugs, des Übersendens von Geld zur Absicherung des Überlebens der Familie oder zum Abgleich noch vorhandener Schulden bei Schleppern (Sulimani-Aidan 2014). Weitere Belastungen der jungen Menschen können z. B. durch einen ungeklärten Aufenthaltsstatus oder ggf. ein abgelehntes Asylgesuch mit drohender Abschiebung (Gilliéron/ Jurt 2017) entstehen. Auch das Zurechtkommen in einem anderen Kulturkreis mit einer anderen Sprache kann bereits herausfordernd sein. Dazu kommt eine häufig fehlende Infrastruktur (z. B. eine nicht vorhandene bzw. sehr schlechte psychologische Betreuung/ Notversorgung in der jeweiligen Muttersprache), die dazu beiträgt, dass die UMF weiterhin den bestehenden Belastungen ausgesetzt sind oder neuen ausgesetzt werden, ohne dass eine adäquate Aufarbeitung erfolgt (Kleefeldt/ Dienemann 2017). Dazu kommt möglicherweise ein Prozess des Ankommens in der Gesellschaft mit häufigen Wechseln in der Unterbringung (insbesondere im Zuge der „vorläufigen Inobhutnahmen“ gemäß §§ 42 a/ b) und damit auch in Bezug auf vermehrte Wechsel von Bezugspersonen (Kleefeld/ Dienemann 2017). So erscheint die kontinuierliche Betreuung der Jugendlichen mit Fluchtgeschichte im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe als ein notwendiges Element zur Stabilisierung und Unterstützung. Fachkräfte bzw. Betreuungspersonen stehen aber vor besonderen Herausforderungen. Neben der Notwendigkeit traumapädagogischer Betreuung (Kleefeldt 2017) sind auch sprachliche Barrieren vorhanden sowie detaillierte Kenntnisse über asyl- und aufenthaltsrechtliche Fragestellungen notwendig. Insgesamt erscheint der Aufbau von vertrauensvollen Beziehungen als wichtiger Faktor für eine gelingende Unterstützung und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen im Setting der Hilfe zur Erziehung. Dies ist beispielsweise bei einer Unterbringung in einer Pflegebzw. Gastfamilie denkbar, allerdings wird dies in der Praxis noch nicht so häufig umgesetzt (Betscher/ Szylowicki 2017; Gravelmann 2016). Sehr häufig erfolgt die Unterbringung im Rahmen der Hilfen zur Erziehung für die UMF in Heimgruppen der stationären Erziehungshilfe. Auch wenn die Beziehungen zu den professionellen BetreuerInnen ggf. nicht so eng sind wie in Gastfamilien (Hansbauer/ Alt 2017), empfinden Jugendliche generell auch das Setting einer Heimeinrichtung häufig als familienähnlich (Remiorz/ Nowacki 2018). 269 uj 6 | 2018 Integration und Care Leaving von UMF Dies erscheint deshalb besonders wichtig, da die BetreuerInnen für die UMF oftmals eine der wenigen Anlaufstellen sind, zu denen sie Vertrauen haben. Darüber hinaus ist eine Integration der UMF in die deutsche Mehrheitsgesellschaft häufig an eine persönliche Beziehung und an das Vertrauen in die Helfenden gekoppelt. Der Vertrauensaufbau zu neuen Bezugspersonen sowie der Aufbau des Gefühls, in Sicherheit zu leben, können als wichtige Indikatoren für eine gelungene Integration angesehen werden (Kleefeld / Dienemann 2017; González Méndez de Vigo u. a. 2017). Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge als Care Leaver Für viele der betroffenen UMF kann der Übergang in die Eigenständigkeit ohne geeignete Hilfemaßnahmen einen Rückschlag für ihre weitere Entwicklung und Integration in die Mehrheitsgesellschaft bedeuten (Kleefeldt/ Dienemann 2017), da neben dem möglichen Wegfall der Vertrauenspersonen auch die Unterstützung bei Schul- und Ausbildungsmaßnahmen unter Umständen nicht mehr ausreichend vorhanden ist. Der Übergang in die Volljährigkeit stellt damit eine besondere Herausforderung für die UMF dar, da sie ohne ein familiäres Netz in einem anderen Land und Kulturkreis zurechtkommen müssen, und ihnen dabei möglicherweise auch die bereits aufgebaute Unterstützung durch die Jugendhilfe fehlt. Ableitung der Fragestellung Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass die Beendigung der Hilfe zur Erziehung mit dem achtzehnten Lebensjahr oder auch eine nur noch kurz andauernde Gewährung einer Hilfeleistung für junge Volljährige nach § 41 Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) unter Umständen die jungen Menschen vor große Schwierigkeiten stellt und ihren Integrationsprozess gefährden kann. Den Fragen, welche Ziele und Wünsche die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge für ihre persönliche Zukunft haben, wie sie die Unterbringung in der Jugendhilfe erleben und welche Schwierigkeiten aus ihrer Sicht eine Beendigung der Hilfe bedeutet, geht die Studie HUMAN („Heimat für Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge, Arbeit und Neuanfang“) nach, die in Kooperation zwischen der Fachhochschule Dortmund und der Kinder- und Jugendhilfe FLOW gGmbH, einem freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe im Ruhrgebiet, durchgeführt wird. Stichprobe Für die vorliegende Fragestellung wurden Interviews im Zeitraum von November 2016 bis März 2017 mit insgesamt 36 männlichen UMF im Alter zwischen 17 und 18 Jahren (M = 17,3; SD 0,71) durchgeführt, welche in Bezug auf ihre Erfahrungen im Kontext der Unterbringung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe (gemäß § 34 SGB VIII) bei FLOW sowie zu ihren Erfahrungen im Hinblick auf die Integration und den Übergang in die Eigenständigkeit befragt wurden. Die Konzentration auf männliche UMF spiegelt die Geschlechterverteilung der alleine nach Deutschland geflohenen Jugendlichen wider (Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge 2015). Zum Zeitpunkt der Datenerhebung waren die teilnehmenden Jugendlichen im Mittel seit M = 10,1 Monaten (SD 4,25) untergebracht. Die Verteilung der Herkunftsländer der befragten UMF ist in Abbildung 1 dargestellt. So kam mit 58 % der überwiegende Teil der Jugendlichen aus Afghanistan, gefolgt von Syrien mit 17 % und Irak, Ghana und Somalia mit jeweils knapp 6 %. Eine ähnliche Verteilung der Herkunftsländer findet sich auch in anderen Untersuchungen (z. B. Herrmann u. a. 2018). 270 uj 6 | 2018 Integration und Care Leaving von UMF Instrument Für die vorliegende Studie wurde ein problemzentriertes Interview verwendet (Witzel/ Reiter 2012). Die hier interessierenden Themenkomplexe beinhalten Fragen nach persönlichen Wünschen und Zielen und nach der aktuellen Lebenssituation der UMF in den jeweiligen stationären Heimeinrichtungen. Außerdem wurden sie im Hinblick auf ihre Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft befragt und ein Ausblick auf die Eigenständigkeit vorgenommen. Das Interview wurde in den jeweiligen Muttersprachen der UMF oder in deutscher sowie in englischer Sprache durchgeführt. Die Übersetzung ins Deutsche wurde von jeweils mindestens zwei ProjektmitarbeiterInnen vorgenommen. Ergebnisse Die Ergebnisse der vorliegenden Studie wurden mithilfe der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) und dem Auswertungsprogramm MAXQDA 2018 analysiert. Für die vorliegende Fragestellung wurden drei Kategorien ausgewählt und anhand des Datenmaterials ausgewertet: 1. Aktuelle Lebenssituation sowie persönliche Ziele und Wünsche 2. Integration 3. Verlassen der Jugendhilfe „Care Leaving“ Es ist anzumerken, dass die folgend aufgeführten Zitate zum Zweck der besseren Lesbarkeit sprachlich geglättet wurden. Aktuelle Lebenssituation sowie persönliche Ziele und Wünsche In Bezug auf die aktuelle Lebenssituation der jungen Geflüchteten ist insbesondere der Aspekt der schulischen und beruflichen Ausbildung herauszustellen, und es wird eine hohe Bildungsaffinität seitens der befragten Jugendlichen deutlich. Der größte Anteil der interviewten UMF befand sich zum Zeitpunkt der Daten- Afghanistan Syrien Irak Ghana Somalia Marokko Algerien Eritrea Herkunftsländer der UMF Häufigkeiten 25 20 15 10 5 0 21 6 2 2 2 1 1 1 Abb. 1: Verteilung der Herkunftsländer der befragten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (N = 36) 271 uj 6 | 2018 Integration und Care Leaving von UMF erhebung entweder in der Vorbereitung auf den Besuch einer Regelschule oder in einer solchen, und ein Teil war bereits in einer Ausbildung. Ein Jugendlicher fasst die Vorteile des deutschen Bildungssystems wie folgt zusammen: „Allgemein kann man sagen, dass Deutschland für Leute, die hier studieren wollen … ein sehr gutes Land ist. … Die Kinder und Jugendlichen dürfen die Schule besuchen und sie werden dabei auch von der Regierung unterstützt. Wenn jemand bei der Ausbildung von der Regierung unterstützt wird, kann derjenige sich besser auf die Lernmaterialien konzentrieren. So kann man sich ein besseres Leben aufbauen und eine bessere Zukunft für sich haben.“ (Interviewter A) Neben dem Bereich der Bildung wird ein weiterer wichtiger Aspekt angesprochen, welcher für die gegenwärtige Lebenssituation von besonderer Bedeutung zu sein scheint. Gesetze und Normen zur Gewährung von Sicherheit werden als ein Indikator für eine hohe Lebensqualität angesehen: „(…) Was ich hier toll finde, ist das Gesetz in Deutschland. Hier gibt es Gesetze. Hier ist das sicherste Land. Die Lebensqualität ist hier hoch.“ (Interviewter A) Generell geben die meisten Jugendlichen an, dass das Leben in Sicherheit in einem demokratischen Staat einen besonders hohen Wert für sie habe. In Betracht auf die persönlichen Ziele und Wünsche der jungen Flüchtlinge kann angemerkt werden, dass insbesondere ein Leben in Frieden für die Befragten im Vordergrund steht. So merkt ein Jugendlicher an: „Ich weiß, wenn ich hier in Deutschland bleibe, wird mein Leben friedlich verlaufen. … Es ist selbstverständlich für alle, die hierbleiben, dass ihre Zukunft gut sein wird, weil hier nicht (Name des Herkunftslandes, Anm. der AutorInnen) ist, wo deine Zukunft unsicher ist.“ (Interviewter B) Ferner werden der Nachzug der im Herkunftsland zurückgebliebenen Familie und die eigene Familiengründung in Deutschland von der Mehrheit der Befragten als ein persönlicher Wunsch geäußert. Nachfolgend ein Beispiel: „Also wollte ich auch so wie andere Menschen leben: Heiraten. Zuerst einmal aber möchte ich, dass meine Familie hier ist…“ (Interviewter C) In Bezug auf die aktuelle Situation in der Jugendhilfeeinrichtung wird insbesondere die Beziehung zum Betreuungspersonal in der Einrichtung der Jugendhilfe hervorgehoben, und die Jugendlichen betonen den familienähnlichen Charakter: „Sie (meine Mentorin) betreut mich, wenn ich Probleme habe … Sie hilft mir überall und beschützt mich, wie meine Eltern mich beschützen würden.“ (Interviewter B) Ferner stellten die befragten Jugendlichen heraus, dass für sie insbesondere die Anfangszeit in der Einrichtung und die daran angeschlossene enge Betreuung durch die BetreuerInnen und deren Integrationshilfe im Alltag von hoher Bedeutung sind: „Am Anfang, als wir (in die Einrichtung) gekommen sind, haben die Betreuer uns gezeigt, wie und was wir essen können, und haben uns gezeigt, wie wir uns in Deutschland anziehen können.“ (Interviewter C) Integration Die Befragten haben in den Interviews einige Anregungen aufgeführt, welche ihre Integration in die Mehrheitsgesellschaft erleichtern würden. So geben fast alle an, dass sie zur Verbesserung ihrer Sprachkenntnisse sowie zur Integration in die Gesellschaft ein Zusammenleben und den Schulbesuch mit einheimischen Jugendlichen bevorzugen. Zwei Aussagen von Jugendlichen illustrieren das: 272 uj 6 | 2018 Integration und Care Leaving von UMF „Ich möchte nur mit Jugendlichen aus Deutschland hier leben, so kann ich meine deutschen Kenntnisse verbessern.“ (Interviewter D) „[…] die große Hilfe war, dass wir zur Schule gehen konnten. Dadurch verbesserten sich meine Sprachkenntnisse. … Habe viele Freunde, auch deutsche Freunde, die Schüler sind wichtig für mich …“ (Interviewter E) Ein weiterer Aspekt des Zusammenlebens mit deutschen Jugendlichen ist neben der Verbesserung des Spracherwerbs auch die Möglichkeit zur kulturellen und gesellschaftlichen Integration. Ein Jugendlicher veranschaulicht dies durch folgende Aussage: „Ich brauche in Deutschland ein Leben mit anderen deutschen Leuten. Weil ich mehr von denen und dem Land lernen kann. Zum Beispiel, wenn ich mit Leuten aus meinem Land zusammensitze, dann sagen die ,mein Land war schön, diese Stadt ist gut. Meine Leute machen das so und so‘ … Da kann ich nicht mehr dazulernen.“ (Interviewter F) Auch erscheint die Anbindung der Jugendlichen an Sportvereine integrationsfördernd zu sein: „Ja, hervorragend. Ich brauche hier nichts mehr. Alles habe ich schon hier. Hier gibt’s Sicherheit. Ich kann zur Schule gehen und Sport treiben.“ (Interviewter D) Bei einem Jugendlichen wird die hohe Bildungsaffinität besonders deutlich. Er stellt heraus, dass zunächst der Spracherwerb für ihn oberste Priorität habe und erst nach diesem die Fokussierung auf Hobbys gelegt wird: „Das muss ich auch erzählen. …Ich wollte in einen Volleyballverein, dann haben wir versucht einen Volleyballverein zu finden. Dann habe ich ein Probetraining da gemacht. Aber danach ich hab’ keine Zeit mehr, ich möchte nur deutsche Sprache lernen und meine Deutschkenntnisse verbessern. Letzten Monat, beim Elterntag, die Lehrerin meinte, ich mache zu viel deutsche Sprache, ich brauche ein Hobby. … Ich sagte: ,Nein, ich habe keine Zeit mehr, ich möchte auch englische Sprache lernen.‘ “ (Interviewter G) Verlassen der Jugendhilfe - „Care Leaving“ Den eigentlichen Übergang von der Jugendhilfe in die Selbstständigkeit hatten zum Zeitpunkt der Interviews nur einige wenige Jugendliche bereits selbst erlebt. Ein Interviewter schildert seine Erlebnisse wie folgt: „Als ich achtzehn Jahre alt geworden bin, musste ich diese Einrichtung verlassen. Das war sehr schwer für mich. Meine Zukunft war unklar, ich wusste nicht, was mit mir passiert. Aber ich musste diese Einrichtung verlassen, das war wirklich sehr schwer für mich, weil das erste Mal kam ich in ein Heim und dann kommt mein Betreuer und sagt: ,Du bist achtzehn, dann bekommst du eine Wohnung.‘ Und bis jetzt habe ich immer noch keine Wohnung.“ (Interviewter H) Diese Aussage zeigt auf, dass sich der junge Geflüchtete in einer Situation befindet, in der er nicht genau weiß, wie es für ihn weitergeht. Eine unklare Perspektive und eine mögliche Rückkehr in eine Sammelunterkunft werden grundsätzlich als belastend und als den bisherigen Bildungserfolg gefährdend erlebt. Auch ein möglicher Wechsel der Zuständigkeiten vom Jugendamt zum Sozialamt - wenn kein Antrag auf § 41 SGB VIII gestellt und gewährt wird - ist teilweise nur schwer nachvollziehbar. Diese Unsicherheit wird in folgendem Interviewzitat deutlich: „Wenn jemand jugendlich ist, minderjährig ist, entscheidet das Jugendamt, wo und wie man lebt oder wohnt. Aber wenn jemand achtzehn Jahre alt ist, ist das Jugendamt nicht mehr verantwortlich, dann ist das das Sozialamt. Als ich achtzehn Jahre alt wurde, musste ich eine Woh- 273 uj 6 | 2018 Integration und Care Leaving von UMF nung finden, aber zum Beispiel entscheidet gar nicht das Jugendamt, sondern nur das Sozialamt entscheidet, und das war sehr schwierig.“ (Interviewter I) Fazit Insgesamt zeigt sich bei den befragten Jugendlichen ein hoher Wunsch nach dem Erwerb der deutschen Sprache und nach Bildung. Gerade Bildung ist ein elementarer Schlüssel zur Erwerbsarbeit und zum Aufbau einer eigenständigen Existenz (Toprak/ Weitzel 2017). Im Hinblick auf eine gelungene Integration der jungen Menschen mit Fluchtgeschichte, unter Berücksichtigung der hohen Bildungsaffinität einerseits und des bestehenden Fachkräftemangels in Deutschland andererseits, scheint eine kontinuierliche Unterstützung durch die Jugendhilfe, auch über das achtzehnte Lebensjahr hinaus, als sinnvoll. Hier ist insbesondere die Politik gefragt, um einen Einstieg der Jugendlichen in das deutsche Bildungssystem zu erleichtern. Aufgrund der Aussagen der interviewten UMF ist die Akzeptanz der gesetzgebenden Struktur in Deutschland hoch und der Wunsch nach Spracherwerb und Kontakt zu deutschen Jugendlichen wird stark wertgeschätzt. Damit scheinen neben der strukturellen Integration auch die kulturelle, soziale und emotionale Integration angestrebt zu werden (Esser 2000). Für den Prozess des Übergangs zwischen der Betreuung durch die Jugendhilfe zur Selbstständigkeit sind soziale Bezüge für die Kinder und Jugendlichen besonders wichtig (Kalverboer u. a. 2016; Thomas 2017). Die Betreuungspersonen in stationären Heimeinrichtungen fungieren teilweise als Familienersatz (Remiorz/ Nowacki 2018), insbesondere, wenn keine Familienmitglieder zur Verfügung stehen. Dies wird in einigen Aussagen der Jugendlichen sehr deutlich, die betonen, dass die BetreuerInnen teilweise in der Funktion der Eltern für sie agieren. Damit sind die UMF, teilweise noch stärker als einheimische Jugendliche, auf die Anbindung an die bestehenden Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe angewiesen. Hier scheint die Weitergewährung von Hilfen für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII sinnvoll zu sein mit der Sicherstellung der Kostenübernahme durch die zuständigen öffentlichen Träger, sodass nicht ausschließlich ein ehrenamtliches Engagement der Fachkräfte notwendig wird. Hierbei ist es dringend erforderlich, dass eine Weitergewährung von Hilfen auch nach dem 18. Lebensjahr nicht restriktiv erfolgt (Wiesinger 2018) und über die großen regionalen Unterschiede in der Gewährung von Hilfen nach § 41 SGB VIII (Nüsken 2008) diskutiert wird. Gerade bei den UMF wirkt sich die unterschiedliche kommunale Praxis bei der Gewährung von Hilfen für junge Volljährige besonders drastisch aus (Wiesner 2016). Insgesamt bedarf es einer inhaltlichen Konzeption für die Gestaltung des Übergangs der Jugendlichen in die Eigenständigkeit (González Méndez de Vigo u. a. 2017). Hierbei ist zu beachten, dass die Hilfen für die jungen Menschen passgenau entwickelt werden. Im Hinblick auf das u. U. entwickelte Vertrauen zu den Fachkräften der stationären Hilfe und auch im Hinblick auf die Unterstützungsbedarfe können in höherem Umfang stationäre Hilfen über einen längeren Zeitraum noch notwendig sein oder ggf. längere Weiterbetreuungen durch bekannte Fachkräfte im ambulanten Setting. Bei den Hilfen sollte auch berücksichtigt werden, dass die unbegleitet auf die Flucht gegangenen Kinder und Jugendlichen signifikant mehr traumatische Erfahrungen erlebt haben als Kinder und Jugendliche, die mit ihren Familien fliehen mussten. Die Prävalenz für das Auftreten einer Posttraumatischen Belastungsstörung bei den UMF ist relativ hoch (Kleefeldt/ Dienemann 2017). Bei den Hilfen sollte eine verbesserte Verbindung zwischen einer möglichst 274 uj 6 | 2018 Integration und Care Leaving von UMF muttersprachlichen psychologischen Betreuung und traumapädagogischen Konzepten in der Kinder- und Jugendhilfe hergestellt werden. Hierdurch wird zum einen die Aufarbeitung erleichtert und zum anderen das notwendige Vertrauen zum Betreuungspersonal und damit positive Interaktionserfahrungen für eine persönliche Integration gefördert. Auch dafür können Hilfen für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII sinnvoll und notwendig sein, auch, um aufgebautes Vertrauen zu nutzen und die Aufarbeitung von Traumata zu erleichtern. Selbstverständlich muss auch hier auf Passgenauigkeit der Hilfen geachtet werden und junge Menschen, die ohne weitere Unterstützung durch die Jugendhilfe auskommen wollen und können, in die Eigenständigkeit überführt werden. Hierbei können, wie auch bei anderen „Care Leavern“ der stationären Kinder- und Jugendhilfe, noch Anlaufstellen und Treffpunkte zur Verfügung gestellt werden. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die jungen Menschen mit Fluchtgeschichte in den Interviews eine Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft anstreben, was sich unter anderem durch ihre hohe Bildungsaffinität, aber auch durch das erworbene Vertrauen in die Betreuungspersonen zeigt, weshalb eine Investition in die Betreuung und Förderung der jungen Menschen mit Fluchtgeschichte auch unter arbeitsmarktpolitischen Gründen, aber natürlich insbesondere unter humanitärer Intention als sinnvoll und lohnend erscheint. Prof. Dr. Katja Nowacki und Silke Remiorz Fachhochschule Dortmund Emil-Figge-Str. 44 44227 Dortmund Tel. (02 31) 7 55-49 84, -49 26 E-Mail: katja.nowacki@fh-dortmund.de silke.remiorz@fh-dortmund.de Hermann Muß Kinder- und Jugendhilfe FLOW gGmbH Gerichtsstr. 1 46236 Bottrop Tel. (0 20 41) 3 72 91 00 E-Mail: h.muss@kjh-flow.de Literatur Betscher, S., Szylowicki, A. (2017): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Gastfamilien. In: Brinks, S., Dittmann, E., Müller, H. (Hrsg.): Handbuch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. IGFH-Eigenverlag, Frankfurt am Main, 175 - 185 Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (2015): Inobhutnahmen von unbegleiteten Minderjährigen im Jahr 2014. Auswertung der Erhebung des Bundesfachverband UMF. Berlin. In: www.b-umf. de/ images/ inobhutnahmen-2015-web.pdf, 5. 3. 2018 Esser, H. (2000): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Die Konstruktion der Gesellschaft. Band 2. Campus, Frankfurt am Main Gilliéron, G., Jurt, L. (2017): Ein Übergang mit Herausforderungen: Erfahrungen ehemaliger, unbegleiteter, minderjähriger Asylsuchenden. Soziale Passagen 9, 135-151, https: / / doi.org/ 10.1007/ s12592-017-0253-6 González Méndez de Vigo, N., Karpenstein, J., Schmidt, F. (2017): Junge Geflüchtete auf dem Weg in ein eigenverantwortliches Leben begleiten - ein Leitfaden für Fachkräfte. Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. (Hrsg.). Berlin. In: https: / / www. google.de/ url? sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web &cd=1&ved=0ahUKEwiojs_Lx9XZAhWB16QKHUobC r4QFgguMAA&url=https%3A%2F%2Fwww.medbox. org%2Fjunge-gefluchtete-auf-dem-weg-in-eineigenverantwortliches-leben-begleiten%2Fdown load.pdf&usg=AOvVaw2NM3aau6ADoYToN1MPG 3V7, 5. 3. 2018 Gravelmann, R. (2016): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Kinder- und Jugendhilfe. Orientierung für die praktische Arbeit. Ernst Reinhardt, München/ Basel Hansbauer, P., Alt, F. (2017): Heimerziehung und betreutes Wohnen. In: Brinks, S., Dittmann, E., Müller, H. (Hrsg.): Handbuch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. IGFH-Eigenverlag, Frankfurt am Main, 186 - 203, PMid: 28984440 275 uj 6 | 2018 Integration und Care Leaving von UMF Herrmann, T., Macsenaere, M., Wennmann, O. (2018): Ergebnisse. In: Macsenaere, M., Köck T., Hiller, S. (Hrsg.): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Jugendhilfe. Ergebnisse aus der Evaluation von Hilfeprozessen. Lambertus, Freiburg i. B., 25 - 85 Kalverboer, M., Zijlstra, E., van Os, C., Zevulun, D., ten Brummelaar, M., Beltman, D. (2016): Unaccompanied minors in the Netherlands and the care facility in which they flourish best. Child and Family Social Work 22, 587 - 596, https: / / doi.org/ 10.1111/ cfs.12272 Kleefeld, E., Dienemann, A. (2017): Unbegleitete Kinder und Jugendliche. In: Borcsa, M., Nikendei, C. (Hrsg.): Psychotherapie nach Flucht und Vertreibung. Eine praxisorientierte und interprofessionelle Perspektive auf die Hilfe für Flüchtlinge. 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