unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art45d
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Angezielt und doch daneben?
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Helle Becker
Die großen Ungerechtigkeiten im Bildungssystem und die bildungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diagnosen der letzten Jahre treiben die politische Bildung um. Die aktuellen politik- und demokratiefeindlichen Einstellungen in der Bevölkerung schrecken Politik und Öffentlichkeit auf. Als Folge wird neu befragt, wie politische Jugendbildung möglichst alle erreicht.
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290 unsere jugend, 70. Jg., S. 290 - 296 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art45d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Angezielt und doch daneben? Wenig erreichte Zielgruppen der politischen Bildung - ein kritischer Überblick über die Forschung Die großen Ungerechtigkeiten im Bildungssystem und die bildungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diagnosen der letzten Jahre treiben die politische Bildung um. Die aktuellen politik- und demokratiefeindlichen Einstellungen in der Bevölkerung schrecken Politik und Öffentlichkeit auf. Als Folge wird neu befragt, wie politische Jugendbildung möglichst alle erreicht. von Dr. Helle Becker Jg. 1959, Kultur- und Erziehungswissenschaftlerin, Leiterin von Expertise & Kommunikation für Bildung, Geschäftsführerin von Transfer für Bildung e.V. Ausgangslage Die Transferstelle politische Bildung, ein Fachbereich von Transfer für Bildung e.V., hat 2016 insgesamt 160 empirische Forschungsarbeiten analysiert, um Anregungen für eine politische Bildung zu geben, die sich bisher wenig erreichten Zielgruppen öffnen und politische Bildung für alle sein will (Transferstelle politische Bildung 2016). Schon bei den Vorüberlegungen zu diesem Vorhaben wurde die Rede von „Zielgruppen“ problematisiert. Daher wurden nicht diese zum Gegenstand der Analysen gemacht, sondern stattdessen der Frage nachgegangen, welche erprobten und erforschten Möglichkeiten es gibt, Menschen zu erreichen, die bisher nicht oder wenig an politischen Bildungsangeboten partizipieren. Neben alltagsbezogenen Wissens- und Erfahrungsbeständen der Praxis liefert die Sozialwissenschaft Konstruktionen, d. h. Kategorien und Merkmale, mit denen Gruppen von Menschen als „(Ziel-)Gruppen“ kategorisiert werden. Meistens spielen Merkmale wie Geschlecht, Alter, Bildungsgrad und Herkunft eine Rolle. Eine Erweiterung und Differenzierung erfahren diese Modelle in der Konstruktion von sozialen Milieus, die anhand von Lebensführung, Geschmack, Freizeit- und Kommunikationsverhalten, Vorlieben und auch Haltung zur Politik charakterisiert werden. Bremer ergänzt diese Konstruktionen im Rekurs auf Bourdieu um den Begriff des Habitus. Er weist darauf hin, dass Milieu und Habitus auch für Bildungsverhalten berücksichtigt werden müssen: „Ein soziales Milieu repräsentiert […] zugleich einen bestimmten Habitustypus und damit verbunden einen bestimmten Zugang zu und Umgang mit Bildung und Lernen“ (Bremer 2010, 4 - 6). 291 uj 7+8 | 2018 Wenig erreichte Zielgruppen politischer Bildung Mit der Charakterisierung von Gruppen werden Zusammenhänge konstruiert, um Unterschiede beschreibbar, messbar und operationalisierbar zu machen. Die Reichweiten der Aussagekraft dieser Zusammenhänge sind allerdings begrenzt. Denn tatsächlich wird eine fortschreitende gesellschaftliche Differenzierung beobachtet - Anlass für die Wissenschaft, die gebräuchlichen Milieukategorien immer wieder zu ändern. Noch schwieriger wird es, wenn es um Kinder und Jugendliche geht: „Bei Jugendlichen können wir nicht von ,Milieus‘ im eigentlichen, engen Sinn sprechen, denn die Entwicklung und Ausformung der soziokulturellen (Kern-) Identität ist in diesem Alter noch nicht abgeschlossen“ (Wippermann/ Calmbach 2007, 12). Auch aus Sicht des Marketings, aus dem der Begriff der „Zielgruppen“ ursprünglich stammt, wird längst deren Ende ausgerufen. Dies gilt v. a. für Jugendliche: „Jugendliche passen sich den jeweiligen Umfeldern so konsequent an, dass konstante individuelle Profile kaum mehr auszumachen sind. […] Entscheidend für ihr Verhalten […] ist der Rahmen, in dem sie sich aufhalten: Schule, Abhängen, Seventies-Parties, Abschlussbälle, Samstagseinkauf, Sportverein“ (Rheingold-Institut 2005). Derlei Feststellungen relativieren die Ergebnisse der Zielgruppenwie der Milieuforschung zum Teil erheblich. Sie sind für eine Operationalisierung für die Bildungspraxis wenig hilfreich, wenn sie komplexen und individuellen Lagen nicht gerecht werden oder nur temporär oder situativ gültig sind. Beispiele für die Differenziertheit von NutzerInnen- und Zielgruppen sind die Studien, die die Transferstelle politische Bildung 2016 für das Thema „Politische Bildung und Neue Medien“ analysierte (Transferstelle politische Bildung 2015). So hängt es von einem äußerst komplexen Bedingungsgefüge ab, ob sich z. B. junge Menschen mit Migrationshintergrund - eine häufig einheitlich benannte Gruppe - über digitale Medien politisch einmischen oder nicht. Othering Obwohl wir täglich von Zielgruppen sprechen und Menschen mit bestimmten Merkmalen als „zielgruppenspezifisch“ wahrnehmen, ist dies weder besonders präzise noch wirklich operationalisierbar. Es ist aus einem weiteren Grund nicht unproblematisch. Gruppeneinteilungen sind notwendig diskriminierend im Sinne von discriminare „trennen, absondern, abgrenzen, unterscheiden“. Dieses zentrale Problem einer Zielgruppendefinition kann als „Othering“ bezeichnet werden. Es geht immer darum, eine Gruppe gegenüber „anderen“ abzugrenzen. Dafür stellt man Gemeinsamkeiten einer Gruppe in den Mittelpunkt und vernachlässigt das (untereinander) Trennende. Und es ist, auch in wissenschaftlichen Kontexten, eine Gruppe von Menschen (nämlich WissenschaftlerInnen), die durch bestimmte Praxen festlegt, wer die „Anderen“ sind und die Sichtweisen der Betroffenen, auch ggf. deren Widersprüche, in der Regel unberücksichtigt lässt. Politik, Medien und Gesellschaft schreiben diese Kategorien fort. Aber auch die gute Absicht - soziale Ungerechtigkeiten oder besondere Förderbedarfe erkennbar zu machen - gerät in einen Widerspruch, wenn die Konstruktion, zum Beispiel im Rahmen von Förderprogrammen, zu Schließungen, Segmentierungen oder Stigmatisierungen führt. In der Fachliteratur gibt es daher den kritischen Einwurf, auch gut gemeinte zielgruppenspezifische Angebote und „Sonderpädagogiken“ mit „Sonderzielgruppen“ seien Ausdruck eines latenten „strukturellen Rassismus“ (Weiß 2001). Eine Zielgruppeneinteilung kann zur Fremdausschließung und diese wiederum zur Selbstausschließung führen. Die Erfahrung, von Angeboten politischer Bildung nicht angesprochen zu werden, kann die Überzeugung festigen, dass politische Bildung generell „nichts für Leute wie mich ist“, und damit von deren Nutzung abhalten. 292 uj 7+8 | 2018 Wenig erreichte Zielgruppen politischer Bildung Kategorisierungen werden als Fremdbestimmung auch oft zurückgewiesen: „Im Selbstverständnis der Praxis und Fachdebatte in der Jugendarbeit wird aus gutem Grund abgelehnt, Jugendliche mit Migrationshintergrund zu ,zählen‘, da es sich aus der Lebenswelt der Jugendlichen nicht um eine feststehende, relevante Kategorie handelt, sondern die ,betroffenen‘ Jugendlichen selbst entscheiden, ob und bei welchen Gelegenheiten sie sich als zu dieser Kategorie zugehörig fühlen“ (Chehata u. a. 2011, 158). Vereinfachungen Die (notwendige) Vereinfachung birgt zusätzlich die Gefahr einerVerkürzung von Zusammenhängen. So kann man aus der Erkenntnis, dass viele der regelmäßig Teilnehmenden in der politischen Bildung ein vergleichsweise großes Interesse an Politik haben, nicht notwendig den Umkehrschluss ziehen, dass dies Voraussetzung für das Interesse an politischer Bildung ist. Genauso gut kann es ein Hinweis darauf sein, dass Maßnahmen politischer Bildung (mehr) politisches Interesse und mehr Interesse an politischen Bildungsangeboten anregen. Wer linear von der Einstellung von Teilnehmenden und AdressatInnen zur Politik auf deren (mangelndes) Interesse an politischer Bildung schließt, verkürzt nicht nur komplexe Beziehungen zwischen Erfahrung, Einstellung und Handeln, sondern läuft ganz praktisch Gefahr, die Chance zu verpassen, neue TeilnehmerInnenkreise zu erschließen (Becker 2011). Die Gefahr solcher verpasster Chancen birgt beispielsweise die Kategorisierung vermeintlich „politikferner Jugendlicher“. Untersuchungen kommen immer dann, wenn als Indikatoren für Politiknähe der Begriff („Interessierst du dich für Politik? “, „Informierst du dich über politische Themen in Medien? “), eine Mitgliedschaft in Vereinen oder eine Ämterübernahme in Organisationen herangezogen werden, zu dem Schluss, dass eine große Gruppe Jugendlicher „politikfern“ sei. Sie verkennen damit die eigenen Konnotationen der Jugendlichen von „Politik“ und „Politikinteresse“, die sich - das war schon das Ergebnis der letzten Shell-Studien - beispielsweise vom gleichzeitigen Interesse an (hochpolitischen) Themenbereichen wie Umweltschutz, Friedenssicherung oder Entwicklungspolitik absetzen. Scheinbar widersprüchliche Aussagen über das Politikinteresse junger Menschen lassen sich nicht nur mit jeweils anderen Begriffskonnotationen erklären, sondern auch mit deren realer Lebenssituation. Jugendliche erfahren eine Gemengelage von objektiven und subjektiv empfundenen politischen Partizipationshindernissen, die sich gegenseitig verstärken. Das Alter wird als Grund für die objektive Situation und für das subjektive Erleben angesehen, in politischen Diskussionen und bei politischen Entscheidungen nicht ernst genommen zu werden. Deshalb sehen junge Menschen bei PolitikerInnen und politischen Parteien ihre Anliegen nicht gut aufgehoben, die anderer Menschen dagegen schon (Becker 2013). Diese Befunde wären weniger ein Grund, Jugendliche als„politikfern“ zu markieren, als vielmehr dafür, die Möglichkeitsräume politischen Handelns junger Menschen genauer zu betrachten. Dies empfahl auch der 15. Kinder- und Jugendbericht des Bundes: „Erweitert man […] den Fokus und bezieht in das Verständnis von politischen Aktivitäten und Ausdrucksformen alle Handlungen ein, in denen sich Jugendliche auf das Gemeinwesen in kritischer, verändernder oder gestaltender Absicht beziehen, dann eröffnet sich ein breiteres Spektrum vielfältiger Formen öffentlicher Interessenartikulationen und politischer Partizipation, die Jugendlichen zur Verfügung stehen und von ihnen genutzt bzw. von ihnen selbst hervorgebracht werden [können]“ (BMFSFJ 2017, 230). Politische Bildung, die Bezug nimmt auf die „innovativeren und kreativeren Formen des Politischen“ (ebd.) junger Menschen, dürfte damit wichtige Zugänge erschließen. 293 uj 7+8 | 2018 Wenig erreichte Zielgruppen politischer Bildung Hol- oder Bringschuld? Damit kommt allerdings eine weitere Problematik ins Spiel: Die Rede von Zielgruppen spiegelt ein einseitiges Bild von „AbnehmerInnen“ auf der einen und „Anbietenden“ auf der anderen Seite. In einem Verständnis von Bildung als Selbstbildung und Ko-Produktion, wie es die Jugendarbeit hat, werden Bildungsgelegenheiten aber partizipativ und dialogisch gestaltet. Damit hat politische Bildung eine Bringschuld. Neben dem Anspruch, für alle jungen Menschen politische Bildung zu ermöglichen und dafür Bildungsangebote bereitzuhalten, gilt auch, sie darin zu unterstützen, einschränkende Zuschreibungen, die sie von einer Nutzung dieser Angebote abhalten, zu überwinden. Das schließt ein, dass der Blick von der Zielgruppe auf die Bildungsangebote genauso wichtig wird wie die umgekehrte Perspektive. Auch Anbieter werden aus Sicht der Zielgruppen unterschiedlich wahrgenommen, da die Träger und die politischen BildnerInnen selbst eine Nähe bzw. Ferne zu bestimmten Gruppen(merkmalen) und damit eine Milieuorientierung aufweisen. Vor diesem Hintergrund reagieren Menschen unter Umständen ablehnend auf (milieubedingte) Kommunikationsschranken von Anbietern. Eine selbstreflexive Haltung wäre angebracht: weg von der Vorstellung „segensreicher“ Angebote politischer Bildung, hin zu der Vorstellung einer kollaborativen Bildungsproduktion, die Unterschiede und Differenzlinien beachtet, die Ausschluss bedeuten oder Anschluss bieten können. Vergleichbar ist die Interaktion zwischen Bildungsanbietern und Zielgruppen dann mit einem interkulturellen Zusammentreffen, das „als Interaktion zwischen Individuen aus unterschiedlichen Kollektiven aufgefasst werden [kann], die aufgrund mangelnder Bekanntheit des jeweiligen Differenzspektrums Fremdheitserfahrungen machen“ (Rathje 2006, 17). Gelungene interkulturelle Interaktion führt dazu, „dass aus unbekannten Differenzen bekannte werden“ (ebd.; weiter ausführend Becker 2008). Politische Bildung müsste dafür „ihre eigenen fachlichen Grenzen durchlässig machen, sich öffnen für die beim Verändern von Verhältnissen gemachten neuen Erfahrungen, sich bilden lassen von ihren Adressaten. Wenn es […] um Teilhabe geht, dann muss sich das auch in den partizipativen Formen wiederfinden, in denen sie angegangen wird" (Besand/ Jugel 2015, 45). Dekonstruktion ist nötig Die Konstruktion von Zielgruppen dient einerseits dazu, besondere Merkmale, Bedürfnisse und Interessen von Gruppen zu identifizieren, um geeignete Bildungsgelegenheiten zu arrangieren und Bildungsprozesse unterstützen zu können. Andererseits wird eine Zielgruppenkonstruktion, selbst wenn sie sehr differenziert ist, komplexen individuellen Lagen nicht gerecht. Dieser Widerspruch lässt sich nur praktisch auflösen. Theoretische Konstrukte von Zielgruppen sollten in der pädagogischen Situation und anhand der jeweiligen Praxis(erfahrung) „dekonstruiert“ werden. Dafür müssen politische BildnerInnen in der Lage sein, den Blickwinkel der Individuen auf die Welt mit der eigenen Wahrnehmung empathisch abzugleichen, für Bremer ein zentrales Element von Professionalität: Eine„milieubezogene pädagogische Reflexivität, d. h., ein Sich-Selbst-in-Beziehung-Setzen zu den Lernenden [sollte] als Teil pädagogischer Professionalität begriffen werden“. Man müsse „ein Sensorium und eine Diagnostik […] entwickeln, um etwa Lernmotive und Stile, Widerständigkeiten, Kompetenzen, Dispositionen als praktischen Ausdruck sozial verschlüsselter Ungleichheitsmuster zu dechiffrieren und daraus Handlungsformen zu entwickeln“ (Bremer 2007, 284). Politische Bildung unterläge damit einer permanenten Selbstreflexion in einem Handlungsraum, der durch die Begegnung mit dem Anderen als „Raum andauernder Ambivalenz“ gekennzeichnet ist (Reuter 2002). 294 uj 7+8 | 2018 Wenig erreichte Zielgruppen politischer Bildung Zugänge Eine Schlussfolgerung liegt auf der Hand: „Die“ Zugänge zu wenig erreichten Zielgruppen gibt es nicht. Aus den analysierten Studien können jedoch Möglichkeiten und Anforderungen abgeleitet werden. Lebenswelten berücksichtigen: Die Herausforderung besteht darin, lebensweltlich angebundene Themen und Formen der politischen Bildung zu finden, die für die AdressatInnen anschlussfähig sind, bzw. in denjenigen Fragen, die junge Menschen bewegen, Anknüpfungspunkte für politische Themen zu finden. Dafür sollte die politische Bildung das jeweilige Politikverständnis der Jugendlichen ebenso wie das eigene hinterfragen (Becker 2011). Dies würde auch die Fachdiskussion um eine vermeintlich problematische „Entgrenzung“ politischer Bildung konkretisieren und qualifizieren. Selbstbildung voraussetzen: Die zu bevorzugende Auskunftsstelle, an der sich die Praxis ausrichten sollte, sind die Betroffenen selbst. Sie sollten die Themen bestimmen, um die es gehen soll. Für die Jugendbildungsarbeit verlangt dies eine „subjektnahe Ansprache und vielfältige Angebote, die über spezielle Lernorte sowie ambitionierte Professionelle Neues aufschließen und den Bogen zwischen dem Einzelnen und dem Gemeinwesen exemplarisch herstellen können und auf diese Weise zum Nachdenken und Nachfühlen anregen“ (Balzter u. a. 2014, 214). Selbstwirksamkeit ermöglichen: Die Erfahrung und die Erkenntnis von Selbstwirksamkeit gelten als Faktoren, die sowohl für einen Zugang zu politischer Bildung als auch für politische Bildungsprozesse wichtig sind. Das größte Hindernis besteht, wenn Jugendliche sich selbst keine politischen Kompetenzen zutrauen. Etliche Praxisforschungsprojekte zeigen, dass dieses Selbstbild durch lebensweltlich verankerte, kompetenzanregende und aktivierende Konzepte revidiert werden kann. Partizipation anregen: Partizipation, gemeint als selbstbestimmtes Handeln und als Gelegenheit für Selbstwirksamkeitserfahrungen, wird von der Forschung als Bedingung gelungener politischer Jugendbildung hervorgehoben. Voraussetzung ist eine akzeptierende Haltung der politischen BildnerInnen und die konsequente Intention, Partizipationschancen zu eröffnen, die einen realen Einfluss der Jugendlichen auf politische Entscheidungen bieten können. Ein erfolgreicher Weg scheinen Projekte wie der „Demokratieführerschein“ zu sein, bei denen Jugendliche bei der Durchsetzung ihrer Interessen begleitet werden und dabei Wege politischer Einflussnahme kennen und zu nutzen lernen (Becker 2010). Darüber hinaus ist die politische Jugendbildung/ Jugendarbeit selbst aufgerufen, durch eine konsequente Partizipationskultur in ihren Einrichtungen und Organisationen dauerhafte oder zumindest wiederkehrende Möglichkeiten einer demokratischen Auseinandersetzung, Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu schaffen. Rausgehen: Neue Forschungsprojekte bringen die Erkenntnis, dass und wie „bildungsferne“ Zielgruppen erreicht werden können, wenn die „Komm-Struktur“ der Einrichtungen durch eine „Geh-Struktur“ aufsuchender Bildungsarbeit ergänzt wird. Angebote der politischen Bildung sollten an Orten, an denen die bis dahin wenig erreichten Zielgruppen zusammenkommen, gemacht werden. Hier ist vor allem die Offene Kinder- und Jugendarbeit - mit eigenen Angeboten oder als Kooperationspartner - gefragt. Aufsuchende Bildungsarbeit lässt sich im doppelten Sinn verstehen - als Aufsuchen geeigneter Orte und als Einsatz von Personen mit Nähe zur Zielgruppe (Becker 2011). Den Ansatz, sogenannte Brückenmenschen und Vertrauenspersonen einzusetzen, verfolgte das Projekt „Dialog macht Schule“. Fuhrmann, die das Projekt evaluiert hat, zog den Schluss, dass es „symbolisch zunächst von höchster Relevanz [ist], dass das Personal des Projekts über ähnliche Herkunftserfahrungen verfügt wie die Schülerinnen und Schüler. Über dieses Merkmal 295 uj 7+8 | 2018 Wenig erreichte Zielgruppen politischer Bildung wurde zunächst Nähe zur Zielgruppe aufgebaut. Diese Nähe wirkte als Türöffner und Katalysator“ (Fuhrmann 2016, 110). Rausholen: Eine andere Strategie ist es, wenig erreichte Zielgruppen „abzuholen“, um sie „rauszuholen“, d. h., um spezifische Lernumgebungen zu nutzen. Die Authentizität oder die Andersheit von Orten, die besondere Differenzerfahrungen ermöglichen, werden in mehreren Praxisforschungsprojekten herausgestellt. Der Klassiker sind Jugendbildungsstätten, die es ermöglichen, ein eigenes, der Zielgruppe angemessenes Setting in Bezug auf Formate (auch Zeit-Formate) und Methoden zu schaffen. Im Projekt „young workers for europe“ nahmen Jugendliche und junge Erwachsene, die sich in berufsvorbereitenden Maßnahmen oder einer außerbetrieblichen Berufsausbildung befanden, an Handwerkseinsätzen im Ausland teil. Die Evaluationen des Projekts zeigen, welche Chancen in der Verknüpfung von internationaler, berufsbezogener und politischer Bildung stecken. Kinder als Zielgruppe (an-)erkennen: Zu den bisher wenig erreichten Zielgruppen zählen Kinder. Noch gibt es keine explizite außerschulische „politische Kinderbildung“ - ein nicht zu rechtfertigender Zustand, weisen doch Untersuchungen auf einen Zusammenhang zwischen früher Beteiligung und dem Engagement bis ins Erwachsenenalter hin. Richter u. a. (2017) begleiteten mehrere Jahre die Entwicklung des Konzepts „Die Kinderstube der Demokratie“, ein Projekt mit Kindertageseinrichtungen, an dem vor allem Vorschulkinder teilnahmen. Sie kamen zu dem Schluss, „dass die Kinder auf der kognitiven, der praktischen und der moralischen Ebene Demokratie nicht nur können, sondern dass sie demokratische Partizipation […] - trotz aller bürokratischer Begleiterscheinungen - auch wollen“ (ebd., 263). Für die politische Bildung stellt sich aufgrund dieser und weiterer Untersuchungen die Frage, ob sie nicht früher beginnen und damit auch jüngere Zielgruppen adressieren sollte. Professionalität schärfen Eine politische Kinder- und Jugendbildung „für alle“ stellt zumindest teilweise erhebliche Anforderungen an die professionellen, zuallererst pädagogischen Kompetenzen politischer BildnerInnen. Gefordert werden die intensive Beobachtung und Orientierung an den Wünschen und Interessen der Jugendlichen, eine akzeptierende Haltung, das Hinterfragen der eigenen Perspektive und des eigenen sowie des institutionellen Habitus und das systematische Erkennen und Eröffnen von Partizipationsmöglichkeiten. Verlangt wird „die Ausbildung einer Reflexions-, Deutungs- und Handlungskompetenz […], die sich auf einen didaktischen und pädagogischen Umgang mit Heterogenität bezieht. Diese muss für kulturelle und soziale Merkmale […] sensibel sein und sollte nicht nur auf die unterschiedlichen Vorstellungen zu Sachthemen Bezug nehmen“ (Gessner 2014, 313f ). Folgerichtig wird von vielen ForscherInnen darauf hingewiesen, dass die Aus- und Weiterbildung des pädagogischen Personals als Bedingungen für gelingende politische Bildung sichergestellt werden müsse. Nimmt man diese Ratschläge ernst, wird es wohl nicht nur darum gehen, um Ressourcen für eine Qualifizierung zu streiten, sondern auch um das Verständnis für die Notwendigkeit zu ringen, mehr allgemein- und sozialpädagogische Kompetenzen im Professionsverständnis zu verankern. Fazit: (Noch) unausgeschöpfte Möglichkeiten gibt es für die politische Bildung reichlich. Es gibt viel zu tun, um es ihr zu ermöglichen, diese auch zu nutzen. Dr. Helle Becker Rellinghauserstraße 181 45136 Essen Tel. (02 01) 26 13 37 E-Mail: becker@transferfuerbildung.de 296 uj 7+8 | 2018 Wenig erreichte Zielgruppen politischer Bildung Literatur Balzter, N., Ristau, Y., Schröder, A. (2014): Wie politische Bildung wirkt. Wirkungsstudie zur biographischen Nachhaltigkeit politischer Jugendbildung, Schwalbach/ Ts. Becker, H. (2013): Was darf ’s denn sein, Fremde? Politische Bildung für skeptische Jugendliche. Journal für politische Bildung, Schwalbach/ Ts., 54 - 60 Becker, H. 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