eJournals unsere jugend 70/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art46d
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Zuversichtlich, privat, vertrauensvoll und passiv

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Daniel Deimel
Hermann Josef Abs
Politisches Handeln in Demokratien lässt sich als eine Verarbeitung von Komplexität unter Berücksichtigung von Normen begreifen. Dabei müssen die Multiperspektivität heterogener Akteure und die Multikausalität von kritischen Phänomenen in Diskussion und Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Eine aktuelle Studie hat den Kompetenzaufbau dazu in Klasse 8 untersucht.
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297 unsere jugend, 70. Jg., S. 297 - 305 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art46d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Daniel Deimel Jg. 1984; Diplom-Rehabilitationspädagoge, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Educational Research and Schooling, Universität Duisburg-Essen Zuversichtlich, privat, vertrauensvoll und passiv Das politische Mindset von Jugendlichen im internationalen Vergleich Politisches Handeln in Demokratien lässt sich als eine Verarbeitung von Komplexität unter Berücksichtigung von Normen begreifen. Dabei müssen die Multiperspektivität heterogener Akteure und die Multikausalität von kritischen Phänomenen in Diskussion und Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Eine aktuelle Studie hat den Kompetenzaufbau dazu in Klasse 8 untersucht. Die International Civic and Citizenship Education Study (ICCS 2016) geht der Frage nach, inwiefern 14-jährige SchülerInnen auf ihre Rolle als Bürgerinnen und Bürger in Demokratien vorbereitet sind (Schulz et al. 2016). Die Studie betrachtet weltweit 24 Bildungssysteme, darunter 15 Bildungssysteme innerhalb Europas und als einziges deutschsprachiges Bildungssystem Nordrhein-Westfalen (Ziemes et al. 2017, 55). Die Erfassung des politischen Mindsets gerade von 14-Jährigen erweist sich aus zwei Gründen als besonders relevant für politische BildnerInnen: Einerseits werden politische Identitäten von 14-Jährigen als sich in einem frühen Entwicklungsstadium befindlich beschrieben (Flanagan/ Sherrod 1998), insofern erscheinen hier noch vielfältige Bildungsprozesse möglich; andererseits gelten über die Kindheit und Jugend erworbene politische Orientierungen als über die Lebensspanne relativ stabil (Jennings et al. 2009). Die Ergebnisse der ICCS 2016 beschreiben die Ausgangslage für politisch bildende Arbeit mit Jugendlichen (Abs et al. 2017, 9). Der repräsentative, international vergleichende Ansatz von ICCS 2016 erlaubt es, die Ergebnisse in einen größeren Kontext einzubetten. Letztlich lässt sich so für einzelne Bildungssysteme beurteilen, welche Chancen und Risiken diese Ausgangslage für die weitere politische Sozialisation gewährt. Im Folgenden werden zunächst das Konzept sowie das methodische Vorgehen von ICCS 2016 umrissen, bevor ausgewählte Studienbefunde erläutert werden. In Hermann Josef Abs Jg. 1968; Dr. phil., Professor für Erziehungswissenschaft, Vorsitzender des Interdisziplinären Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen 298 uj 7+8 | 2018 Das politische Mindset Jugendlicher einem letzten Schritt werden sich hieraus ergebende mögliche Potenziale für die außerunterrichtliche politische Bildung skizziert. Studienkonzept, Stichprobe und Methodik Mit ICCS 2016 führte die International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) bereits zum vierten Mal eine internationale Schülervergleichsstudie in der Domäne der zivilgesellschaftlichen und politischen Bildung durch. Während andere international vergleichende Studien einen Schwerpunkt auf kognitive Leistungen legen, berücksichtigt ICCS neben kognitiven auch gleichwertig affektive und verhaltensbezogene Aspekte, die sich als gleichermaßen relevant für die politische Sozialisation erweisen (Schulz et al. 2016, 11). Der Analyserahmen, welchen der deutschsprachige Bericht von ICCS 2016 anlegt, berücksichtigt Ergebnisse (Outcomes) des bisherigen formellen und informellen politischen Lernens sowie die schulischen und außerschulischen Kontexte, in denen dieses Lernen eingebettet ist (Abs et al. 2017, 21). Es werden vier Ergebnisdimensionen benannt: „Demokratiebezogenes Wissen, unterschiedliche Einstellungen, Identitäten sowie die Partizipationsbereitschaft von Schüler*innen stehen nicht unabhängig nebeneinander, sondern bilden eine Struktur, die wir Mindset nennen. Das Mindset spiegelt wider, wie sich die untersuchten Schüler*innen zu politischen Fragen und im politischen System positionieren, welche Ziele sie haben und wie sie diese erreichen wollen“ (Abs et al. 2017, 22; vgl. Abb. 1). Abb. 1: Nationaler Analyserahmen für ICCS 2016 (Abs et al. 2017, 22) Kommunale Lebenswelt Sozioökonomisches Umfeld Organisationen Gruppen Peers Herkunft Eltern Bildungssystem Klassenkomposition Mitschüler*innen Lehrkräfte Umgebung der Schule Schule Outcomes außerschulischer Kontext Prozesse schulischer Kontext Wissen und Argumentieren Identität Einstellungen und Werte Partizipation 299 uj 7+8 | 2018 Das politische Mindset Jugendlicher Die Zielpopulation von ICCS 2016 umfasst SchülerInnen in der achten Jahrgangsstufe, Lehrpersonen, die in dieser Jahrgangsstufe unterrichten sowie Schulleitungen der beteiligten Schulen. In einem mehrstufigen Zufallsverfahren wurde pro Schule eine Schulklasse zur Befragung ausgewählt. Die ausgewählten Schulen konnten in Nordrhein-Westfalen freiwillig über eine Beteiligung an ICCS 2016 entscheiden. Die Datenerhebung fand in Nordrhein-Westfalen zwischen dem 26. Februar und dem 1. Juli 2016 statt. Die ausgewählten Klassenverbände nahmen geschlossen an ICCS 2016 teil. Die Datenerhebung erfolgte während der Unterrichtszeit und beanspruchte drei Schulstunden. Die Stichprobe umfasst in Nordrhein-Westfalen 1.451 SchülerInnen in der achten Jahrgangsstufe in 59 Regelschulen. Die Stichprobe wurde gewichtet, um die Grundgesamtheit der SchülerInnen repräsentativ abbilden zu können (Schulz et al. 2018; Ziemes et al. 2017, 56 - 60). Für etwa 40 % der SchülerInnen in Nordrhein-Westfalen wird ein Migrationshintergrund in einem weiten Verständnis angenommen: Sie selber oder/ und mindestens ein Elternteil wurden außerhalb Deutschlands geboren (Ziemes et al. 2017, 58). Zur Erfassung der vier Ergebnisdimensionen sowie der Sozialisationskontexte wurden in ICCS 2016 mehrere Instrumente eingesetzt: ➤ Wissenstest: Die Ergebnisdimension „Wissen und Argumentieren“ wurde mit einem international standardisierten Wissenstest erfasst. Dieser enthielt sowohl Multiple-Choice-Fragen als auch offene Fragen. Der Wissenstest deckt die kognitiven Dimensionen des konzeptuellen politischen Wissens (knowing) sowie die des Argumentierens und der Anwendung politischen Wissens (reasoning and applying) ab (Hahn- Laudenberg/ Abs 2017; Schulz et al. 2016). ➤ Internationaler Schülerfragebogen: Der Schülerfragebogen umfasste 35 Fragenkomplexe zu den Ergebnisdimensionen Identität, Einstellungen und Werte sowie Partizipation. Weiter wurden als Sozialisationskontexte der individuelle und familiäre Hintergrund sowie Aktivitäten mit politischem oder zivilgesellschaftlichem Bezug innerhalb und außerhalb der Schule erfragt. Der Fragebogen enthielt international standardisierte, geschlossene Frageformate. ➤ Europäischer Schülerfragebogen: Dieser umfasste 19 Fragenkomplexe, vorrangig zu spezifischen Fragestellungen aus europäischer Perspektive, und konzentrierte sich auf die Dimensionen der Einstellungen und Werte sowie Identität. Das Instrument wurde in an der Studie teilnehmenden EU-Mitgliedsstaaten sowie Norwegen eingesetzt. Die Testung und Befragung der SchülerInnen wurde durch Fragebögen für Lehrkräfte und SchulleiterInnen ergänzt. Während für eine detaillierte Darstellung aller eingesetzten Instrumente und ihrer Befunde auf den internationalen (Schulz et al. 2017) bzw. nationalen (Abs/ Hahn-Laudenberg 2017) Bericht verwiesen werden muss, werden im Folgenden ausgewählte Ergebnisse aus allen vier Ergebnisdimensionen wiedergegeben. Ausgewählte Ergebnisse Im politischen Wissen erzielen SchülerInnen in Nordrhein-Westfalen durchschnittlich signifikant niedrigere Werte als SchülerInnen in den europäischen Vergleichsländern. Etwa 93 % der SchülerInnen in Nordrhein-Westfalen erreichen mindestens die Kompetenzstufe I, welche auf ein grundlegendes Verständnis demokratischer Grundsätze und Prinzipien schließen lässt. SchülerInnen können diese Prinzipien vor allem in Hinblick auf alltägliche Situationen anwenden und erkennen individuelle Verantwortlichkeiten und Einflussmöglichkeiten. Etwa 70 % der SchülerInnen in NRW erreichen die Kompetenzstufe II, welche ein tiefergehendes Verständnis der repräsentativen Demokratie als politisches System beschreibt. In Abgrenzung zu SchülerIn- 300 uj 7+8 | 2018 Das politische Mindset Jugendlicher nen, die höchstens die niedrigere erste Kompetenzstufe erreichen, können sie Grundsätze und Werte auf konkrete Beispiele der praktischen Politik anwenden sowie individuelles Handeln hinsichtlich gesamtgesellschaftlicher Kontexte generalisieren. Die Kompetenzstufe III erreichen SchülerInnen, die darüber hinaus befähigt sind, institutionelles und individuelles politisches Handeln hinsichtlich von Motiven, Funktionalität und Ergebnissen zu beurteilen. Dabei integrieren sie vorliegende Standpunkte, Konzepte und Gesetze in ihre Begründungen und Bewertungen und zeigen darüber hinaus weiterreichende Kenntnisse über politische Zusammenhänge. In Nordrhein-Westfalen erreichen etwa 31 % der SchülerInnen diese höchste Kompetenzstufe. Während der prozentuale Anteil der SchülerInnen in Nordrhein-Westfalen, welche die Kompetenzstufen I und II erreichen, etwa dem Mittelwert der europäischen Vergleichsgruppe entspricht, ist der Anteil der SchülerInnen in Kompetenzstufe III als unterdurchschnittlich zu beschreiben. SchülerInnen in Dänemark und Finnland erreichen etwa doppelt so häufig Kompetenzstufe III (Hahn-Laudenberg/ Abs 2017, 80 - 97). Unterschiede im politischen Wissen zeigen sich nicht nur zwischen den verschiedenen Ländern, sondern auch gruppenspezifisch innerhalb einer Schülerschaft eines Landes. In NRW zeigen Mädchen im Durchschnitt etwas bessere Leistungen im Wissenstest als Jungen, dieser Abstand ist jedoch kleiner als in anderen europäischen Ländern (ebd., 98). SchülerInnen ohne Migrationshintergrund erzielen im Wissenstest durchschnittlich höhere Leistungen - nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch in den meisten anderen nord- und westeuropäischen Ländern (ebd., 100). Besonders große Unterschiede im politischen Wissen zeigen sich hinsichtlich des kulturellen Kapitals der Familie, welches in ICCS 2016 über die Selbsteinschätzung der Bücher im Haushalt erfasst wird. SchülerInnen in NRW mit mehr als 25 Büchern im Haushalt schneiden signifikant besser im Leistungstest ab als SchülerInnen mit weniger Büchern im Haushalt. Dies lässt sich zwar in allen Vergleichsländern so beobachten, in NRW zeigt sich dieser Unterschied aber mit am größten - lediglich in Bulgarien ist der Abstand von SchülerInnen mit geringerem und höherem kulturellen Kapital noch stärker ausgeprägt als in Nordrhein-Westfalen (ebd., 102 - 104). Für alle Gruppen mit geringeren Leistungen gelingt es der Schule offensichtlich nicht, Chancenungleichheit aufzulösen, oder Schule trägt selbst zu Disparitäten bei. Dabei erweist sich im Vergleich mit anderen Sozialisationsinstanzen der sozio-ökonomische Hintergrund der Familie als dominanter Einfluss für Leistungsunterschiede im politischen Wissen (Baykara- Krumme/ Deimel 2017, 317). SchülerInnen in Nordrhein-Westfalen zeigen im Durchschnitt eine im europäischen Vergleich weniger stark ausgeprägte nationale Identität. Dabei geht eine stärker ausgeprägte nationale Identität mit einer stärker ausgeprägten europäischen Identität einher. Etwa 90 % der SchülerInnen in NRW geben an, Deutschland zu respektieren, auch wenn ihnen die Landesflagge seltener wichtig ist als Jugendlichen in anderen europäischen Ländern. In NRW sind Fragen der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gemeinschaften SchülerInnen mit Migrationshintergrund wichtiger als SchülerInnen ohne Migrationshintergrund. Dies zeigt sich vor allem hinsichtlich der Zugehörigkeit zu einer Religion (70 % zu 50 %) und zu einem Land (85 % zu 77 %). SchülerInnen mit Migrationshintergrund zeigen in allen europäischen Vergleichsländern eine geringere Identifikation mit dem jeweiligen Land, in dem sie eine Schule besuchen (Jasper et al. 2017). Gruppenbezogene Einstellungen werden in ICCS 2016 vor allem hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie unterschiedlicher Herkunftsgruppen erfasst (Ziemes/ Jasper 2017). Innerhalb der europäischen Vergleichsländer wird von fast allen SchülerInnen die juristische Gleichstellung von Frauen und Männern befürwortet. Der Aussage, dass Kinder- 301 uj 7+8 | 2018 Das politische Mindset Jugendlicher erziehung das Wichtigste für Frauen sein sollte (als Aspekt kultureller Gleichstellung), wird von SchülerInnen in NRW seltener zugestimmt als in anderen europäischen Ländern. Insgesamt erscheinen in dieser Hinsicht lediglich SchülerInnen in den skandinavischen Ländern progressiver als SchülerInnen in NRW. Weiter befürworten SchülerInnen in NRW gleiche Rechte von unterschiedlichen Herkunftsgruppen signifikant häufiger als in anderen europäischen Ländern. Die Befürwortung von beiden Aspekten der Gleichstellung zeigt sich in fast allen Ländern in Abhängigkeit vom politischen Wissen (ebd., 142 und 153). Eine stärker ausgeprägte nationale Identität steht bei SchülerInnen in NRW jedoch in keinem statistischen Zusammenhang mit der Befürwortung von Rechten von MigrantInnen (ebd., 155). Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zeigen sich SchülerInnen in NRW zudem häufiger für die Diskriminierung von MigrantInnen und homosexuellen Menschen sensibilisiert (Ziemes et al. 2017, 193 - 198). Häufiger als in anderen europäischen Ländern vertrauen Jugendliche in NRW politischen und gesellschaftlichen Institutionen - dies gilt sowohl für die kommunale, regionale, nationale als auch supranationale Ebene der Politik und erstreckt sich auf Vertreter der Legislative, Exekutive und Judikative. Auch zeigen sie ein im europäischen Vergleich höheres Vertrauen in alte sowie neue Medien (Ziemes et al. 2017, 173 - 182). SchülerInnen in NRW, die im Wissenstest mindestens die Kompetenzstufe II erreichen, zeigen ein tendenziell höheres institutionelles Vertrauen als SchülerInnen, welche höchstens Kompetenzstufe I erreichen. Dieser Unterschied ist jedoch nicht signifikant. Beide Gruppen zeigen im europäischen Vergleich deutlich überdurchschnittliches Vertrauen in politische Institutionen (ebd., 183). Werden normative Vorstellungen zum Handeln von BürgerInnen betrachtet, zeigt sich, dass eine große Mehrheit der SchülerInnen in NRW ein Bürgerideal vertritt, das auf den privaten Raum bezogen ist. Gute BürgerInnen zeichnen sich demnach vor allem dadurch aus, dass sie die Meinungsfreiheit anderer respektieren, das wirtschaftliche Wohlergehen der Familie sichern, sich für Menschenrechte einsetzen sowie schlechter gestellte Menschen unterstützen. Seltener werden jedoch gemeinschaftliches politisches und zivilgesellschaftliches Handeln als Aspekte guter Bürgerschaft identifiziert (ebd., 163 - 173). Ziemes und Hahn-Laudenberg et al. (2017) vermuten hier einen Zusammenhang zu dem hohen Vertrauen in staatliche Institutionen - das Konzept der Bürgerschaft würde durch SchülerInnen in NRW „auf Themen hin konzipiert, von denen sie glauben, dass der Staat diese nicht wahrnimmt, wahrnehmen kann oder sollte“ (ebd., 200). In ICCS 2016 wurde beabsichtigte politische Partizipation in der Zukunft bzw. im Erwachsenenalter mit zwei Itembatterien erfasst. Die SchülerInnen sollten hinsichtlich 23 verschiedener Partizipationsakte bewerten, für wie wahrscheinlich sie es halten, diese zukünftig auszuüben. In Anlehnung an Uehlinger (1988) werden vier Dimensionen politischer Partizipation formuliert (Deimel/ Hahn-Laudenberg 2017): staatsbürgerliche Partizipation (Wahlteilnahme und Informationsbeschaffung), institutionenbezogene Partizipation (z. B. Mitgliedschaft und Mitarbeit in politischen Organisationen), problembezogene Partizipation (z. B. Teilnahme an Demonstrationen oder online-basierten Aktivitäten) sowie zivilungehorsame Partizipation (z. B. Teilnahme an einer Verkehrsblockade). Abbildung 2 führt exemplarisch mehrere Beteiligungsakte auf, welche durch die SchülerInnen bewertet wurden. Für jedes Item wird der prozentuale Anteil der SchülerInnen aufgeführt, welche angegeben haben, die Beteiligungsakte als Erwachsene bzw. in Zukunft „sicher“ oder „wahrscheinlich“ ausüben zu wollen. Der Übersichtlichkeit halber werden die Länder der europäischen Vergleichsgruppe nicht namentlich gekennzeichnet, sondern gleichwertig abgebildet, um die Streuung der Antwortausprägungen abzubilden. Alle Werte sind im entsprechenden Kapitel des nationalen ICCS-Berichts dokumentiert (Deimel/ Hahn-Laudenberg 2017). 302 uj 7+8 | 2018 Das politische Mindset Jugendlicher Über alle Dimensionen hinweg zeigt sich, dass SchülerInnen in Nordrhein-Westfalen signifikant seltener angeben, sich zukünftig politisch beteiligen zu wollen als in anderen europäischen Ländern. Hinsichtlich staatsbürgerlicher als auch problembezogener Partizipation werden die im europäischen Vergleich niedrigsten Werte erzielt. Während die Absicht zu institutionenbezogener und zivil ungehorsamer Partizipation auch unterdurchschnittlich zeigt, muss festgehalten werden, dass diese in allen europäischen Vergleichsländern ebenfalls nur für einen geringeren Teil der Jugendlichen in Frage kommt. Auch internetbasierte Partizipationsformen erweisen sich für die wenigsten Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen als relevant (Deimel/ Hahn-Laudenberg 2017, 219 - 221). Als Ressource werten lässt sich vor allem die Bereitschaft, mit anderen über eigene politische Ansichten zu sprechen, denn es kann davon ausgegangen werden, dass das Äußern eines Standpunktes voraussetzt, über einen Standpunkt zu verfügen (ebd., 222). Gruppenspezifische Unterschiede zeigen sich vor allem hinsichtlich staatsbürgerlicher Partizipation: SchülerInnen in NRW mit Migrationshintergrund wollen signifikant seltener durch Wahlen und wahlbezogene Informationsbeschaffung partizipieren (ebd., 227). Ähnlich wie bereits hinsichtlich des politischen Wissens beobachtet, zeigt sich staatsbürgerliche Partizipationsbereitschaft maßgeblich durch den familiären Sozialisationskontext beeinflusst (Baykara-Krumme/ Deimel 2017, 317). Als große Bedrohung für die Zukunft identifizieren Jugendliche in NRW vor allem Umweltverschmutzung, Terrorismus sowie den Klimawandel - letzteren deutlich häufiger als SchülerInnen in den europäischen Vergleichsländern (Deimel/ Buhl 2017, 238). Ökonomische Bedrohungsszenarien, etwa eine globale Finanzkrise oder Arbeitslosigkeit, werden von ihnen hingegen signifikant seltener als große Bedrohung beschrieben (ebd., 239). Auf ihre eigene Zukunft blicken fast alle Jugendlichen sowohl in NRW als auch in den europäischen Vergleichsländern optimistisch (ebd., 247), was Teilnahme an nationalen Wahlen Teilnahme an kommunalen Wahlen Parteibeitritt Sprechen über polit. Ansichten Teilnahme friedliche Demo Teilnahme Online-Petition Verkehr blockieren 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % 100 % europäischer Mittelwert (ohne NRW) Länder der europ. Vergleichsgruppe Nordrhein-Westfalen Abb. 2: Beabsichtigte zukünftige Beteiligung an verschiedenen Formen politischer Partizipation. Prozentualer Anteil der Antwortkategorien „Ich werde das sicher“ bzw. „wahrscheinlich tun“. 303 uj 7+8 | 2018 Das politische Mindset Jugendlicher jedoch auch als Kohorteneffekt interpretiert werden kann (Blanchflower/ Oswald 2017). In NRW befürchten vor allem Jugendliche ohne Migrationshintergrund sowie Jugendliche, bei denen mindestens ein Elternteil über eine Hochschulzugangsberechtigung verfügt, in Zukunft finanziell schlechter gestellt zu sein als ihre Eltern (Deimel/ Buhl 2017, 247 - 248). Implikationen für Jugendbildung & Fazit Insgesamt zeigt sich im europäischen Vergleich eine schwierige Ausgangslage für die politische Bildung mit Jugendlichen. Ein überwiegender Anteil der 14-Jährigen in NRW verfügt zwar über grundlegendes Wissen zu demokratischen Prinzipien und staatlichem Handeln, jedoch scheint Wissen über komplexes Zusammenwirken verschiedener politischer Strukturen bei einem relativ geringeren Anteil der SchülerInnen in NRW ausgebildet. Weniger als ein Drittel von ihnen verfügt über die Kompetenzen, komplexes politisches Handeln zu beurteilen. Allerdings vertrauen sie staatlichem Handeln in einem hohen Ausmaß, zeigen sich sensibilisiert für Minderheiten und befürworten Werte der Gleichstellung. Weiter verfügen sie über ein großes Problembewusstsein für Fragen der Umwelt. Eine Identifikation mit dem Land, in dem sie leben, zeigen sie jedoch im europäischen Vergleich seltener. Diese Distanziertheit zeigt sich auch hinsichtlich ihrer Handlungsbereitschaft: Seltener als Jugendliche in anderen europäischen Ländern berichten sie, zukünftig bzw. als Erwachsene politisch partizipieren zu wollen. Das Handeln von BürgerInnen verorten sie eher im privaten als im öffentlichen Raum. Der starke Effekt des familiären Kontextes auf politisches Wissen und staatsbürgerliche Partizipationsbereitschaft begründet die Fortsetzung zielgruppenspezifischer Arbeit. Besonders profitieren könnten Jugendliche mit Migrationshintergrund sowie Jugendliche aus Haushalten mit geringem kulturellen Kapital. Da höheres Wissen auch mit positiveren Einstellungen zur Gleichstellung einhergeht, kann dies auch langfristig für gesellschaftliche Kohäsion bedeutsam sein. In diesem Zuge muss angemerkt werden, dass diese Kohäsion auch dadurch gefährdet sein kann, wenn benachteiligte Gruppen ihre Rechte auf Interessensvertretung zukünftig nicht ausüben oder ausüben wollen. Gerade für Jugendliche mit Migrationshintergrund könnte die durchschnittlich häufigere Wichtigkeit von Zugehörigkeit als Ressource genutzt werden. Als weitere Ressource erweisen sich das überdurchschnittliche Problembewusstsein für Themen der Umwelt, die Sensibilisierung für Diskriminierung von Minderheiten und die umfassende Befürwortung von Werten der Gleichstellung. In einer Entwicklung von thematisch vielfältigen und für die Jugendlichen interessanten Formaten, die (auch) auf die Entwicklung von Handlungsbereitschaft abzielen, können diese Themen als Ausgangspunkte begründet werden. Hier sollte es durchaus auch erlaubt sein, im Sinne der Komplexität global relevanter Fragen auch Zumutungen zu wagen - gerade im europäischen Vergleich zeigt sich, dass bereits 14-Jährige auch komplexere politische Handlungen beurteilen können, während dies in NRW nur für einen kleineren Teil der Jugendlichen gilt. Engagement, welches an privaten Interessen ansetzt und in öffentliche Handlung überführt wird, könnte zudem so begleitet werden, dass den Jugendlichen ein Erkenntnisgewinn über größere politische Zusammenhänge ermöglicht wird. Weiter scheint bisher nur ein kleinerer Teil der Jugendlichen in NRW das politische Potenzial neuer Medien zu erkennen - ein verstärkter Fokus darauf, wie bestehende Plattformen zur Meinungsbildung und zum politischen Handeln genutzt werden können, erscheint angesichts der weiten Verbreitung internetfähiger Geräte geboten. 304 uj 7+8 | 2018 Das politische Mindset Jugendlicher Die Grenzen der vorliegenden Befunde liegen in ihrer überwiegenden Deskriptivität, Wirkzusammenhänge sind noch nicht abgesichert. Fokussierte Auswertungen zu einzelnen Themenbereichen, etwa Kommunales, Umwelt oder Religion, sind noch nicht systematisch erfolgt. Die Befunde lassen sich zwar als repräsentativ für SchülerInnen in Nordrhein-Westfalen beschreiben, eine Generalisierung hinsichtlich anderer Bundesländer, in denen sich Schulsystem und Bevölkerungsstruktur unterscheiden, ist jedoch nur eingeschränkt möglich. Trotz dieser Grenzen bietet ICCS 2016 für die politische Bildung Chancen. Nicht nur implizieren die festgestellten Defizite einen deutlichen Handlungsauftrag, die umfangreiche Betrachtung des politischen Mindsets der Jugendlichen ist dazu geeignet, aktuelle Potenziale für diese Arbeit herzuleiten. Daniel Deimel Prof. Dr. Hermann Josef Abs Universität Duisburg-Essen Fakultät für Bildungswissenschaften Universitätsstraße 2 45141 Essen E-Mail: daniel.deimel@uni-due.de h.j.abs@uni-due.de Literatur Abs, H. J., Hahn-Laudenberg, K. (Hrsg.) (2017): Das politische Mindset von 14‐Jährigen. Ergebnisse der International Civic and Citizenship Education Study 2016. Waxmann, Münster Abs, H. J., Hahn-Laudenberg, K., Deimel, D., Ziemes, J. F. (2017): Einleitung. In: Abs, H. J., Hahn-Laudenberg, K. (Hrsg.): Das politische Mindset von 14‐Jährigen. Ergebnisse der International Civic and Citizenship Education Study 2016. Waxmann, Münster, 9 - 26 Baykara-Krumme, H., Deimel, D. (2017): Erfahrungen im familiären und räumlichen Umfeld. In: Abs, H. J., Hahn-Laudenberg, K. 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