unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art47d
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Biographische Nachhaltigkeit politischer Jugendbildung im Spannungsfeld gesellschaftlicher Transformationsprozesse
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Nadine Balzter
Welche Bedeutung kommt der außerschulischen politischen Jugendbildung vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse zu und welche Möglichkeiten bietet diese für die Politisierung von Jugendlichen? Dabei stellt sich auch die Frage, inwiefern Bildungserfahrungen eine biographisch nachhaltige Bedeutung einnehmen.
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306 unsere jugend, 70. Jg., S. 306 - 315 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art47d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Biographische Nachhaltigkeit politischer Jugendbildung im Spannungsfeld gesellschaftlicher Transformationsprozesse Welche Bedeutung kommt der außerschulischen politischen Jugendbildung vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse zu und welche Möglichkeiten bietet diese für die Politisierung von Jugendlichen? Dabei stellt sich auch die Frage, inwiefern Bildungserfahrungen eine biographisch nachhaltige Bedeutung einnehmen. von Nadine Balzter Jg. 1975; M. A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik der TU Darmstadt Die Frage nach der Wirkung führt ins Zentrum jeder pädagogischen Debatte (Ahlheim 2003) und stellt sich gerade für die außerschulische politische Jugendbildung in besonderem Maße, da die Teilnehmenden überwiegend kurzzeitpädagogische Angebote wahrnehmen und nicht unweigerlich über einen längeren Zeitraum mit der Einrichtung bzw. den pädagogisch Tätigen in Kontakt stehen. Besonders interessant erscheint dabei, inwiefern die Impulse und Erfahrungen eine nachhaltige Wirkung in den Biographien entfalten. Diesen Fragestellungen soll in dem vorliegenden Beitrag auf der Basis der bundesweiten Evaluation der politischen Jugendbildung „Politische Jugendbildung auf dem Prüfstand“ (Schröder/ Schroedter/ Balzter 2004) und der veranstaltungs- und trägerübergreifenden Wirkungsstudie „Politische Bildung wirkt“ (Balzter/ Ristau/ Schröder 2014) nachgegangen werden. Auf der einen Seite kann politische Bildung von jeher als Bedingung von Demokratie betrachtet werden. Mit den Worten Negts gesprochen: „Kein Mensch wird als politisches Lebewesen geboren; deshalb ist politische Bildung eine Existenzvoraussetzung jeder friedensfähigen Gesellschaft. (…) Und vor allem, Demokratie ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss - immer wieder, tagtäglich und bis ins hohe Alter hinein“ (Negt 2010, 13). Politische Bildung wird hier als fortwährender Prozess verstanden, der sich über die gesamte Lebensspanne erstreckt, und sie gilt als Allianz für eine friedensfähige Gesellschaft. Vor dem Hintergrund, allen Menschen - unabhängig von ihrem sozialen Milieu und der oftmals damit einhergehenden Bildungsnähe oder -ferne - gleichermaßen Zugang zu politischer Bildung zu ermöglichen, kommt der schulischen und öffentlich geförderten außerschulischen politischen Bildung ein besonderer Stellenwert zu. Während politische Haltungen im Erwachsenenalter eine relative Stabilität 307 uj 7+8 | 2018 Nachhaltige politische Jugendbildung aufweisen, stellt die Jugendphase in diesem Prozess eine sensible Phase dar (Grob 2009). Hier setzt die außerschulische politische Jugendbildung an, die politisches Wissen vermitteln, Urteilsfähigkeit fördern und politisches Handeln anregen möchte (BMFSFJ 2012). Urteilsfähigkeit kommt vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse eine besondere Relevanz zu. Der zunehmende Rechtspopulismus, dem über die AfD nicht nur der Einzug in den Bundestag gelang, sondern der auch in der Mitte der Gesellschaft bemerkenswert salonfähig wurde - wenngleich auf der Ebene von Ressentiments, die wenig sachliche Argumente bietet - fordert politische Jugendbildung auf besondere Weise heraus. Aber auch die als postfaktisch bezeichneten Zeiten, in denen Fake News über die neuen Medien in Windeseile ihre Verbreitung finden, setzen bereits eine kritische Urteilsfähigkeit bei der Auswahl der Informationen und deren Träger voraus, die sich nicht allein auf Medienkompetenz reduzieren lässt. Es wären weitere aktuelle Phänomene zu nennen, wie die globale Fluchtbewegung und deren Auswirkungen oder der Brexit und die Frage um die Zukunft Europas, die einen Bedeutungszuwachs politischer Jugendbildung evozieren. Auf der anderen Seite spiegelt sich dieser Bedeutungszuwachs nicht in den notwendigen strukturellen Bedingungen für Forschung, Professionalisierung und Bildungspraxis der außerschulischen politischen Jugendbildung wider. Vielmehr ist diese gefordert, sich in neoliberalen Verhältnissen zu behaupten. So führt die außerschulische politische (Jugend-)bildung „als wissenschaftliches Arbeitsfeld an den deutschen Hochschulen ein Schattendasein“ (Bürgin/ Lösch 2013, 40), und auch die „bestehenden Studienangebote verfehlen die spezifischen Berufswege der hier Beschäftigten weitgehend“ (Bürgin/ Lösch 2013, 40). Gleichsam wird ein hoher Forschungsbedarf im Feld der politischen Jugendbildung konstatiert (Becker 2011), dessen Desiderate wiederum auf Grund unzureichender Ressourcen und Strukturen nur bedingt bearbeitet werden können. Eine weitere Herausforderung für die Praxis politischer Jugendbildung stellt die Angewiesenheit auf die öffentliche Förderung und die damit verbundene Steuerung dar. Hierzu bezieht etwa der „Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten“ in einem Diskussionspapier zu den „Gelingensbedingungen für die außerschulische politische Jugendbildung“ auf seiner Homepage Stellung: „Förderbedingungen (…) erfordern: eine Öffnung für innovative unkonventionelle Methoden und Konzepte, die Vereinfachung der Fördermodalitäten durch die einzelnen Zuwendungsgeber/ innen, die Angleichung der Abrechnungsmodalitäten zwischen den einzelnen Fördergebern, das prozesshafte Gestalten des Programms durch die Seminarleitung und die Einbeziehung der thematischen und methodischen Gestaltungswünsche der Teilnehmenden. Der Innovationsdruck immer neuer und kurzfristiger Förderprogramme darf nicht zu Lasten einer langfristigen kontinuierlichen Förderung bewährter Konzepte und erfolgreich erprobter Modellprojekte gehen.“ Kritisiert wird die Einschränkung eigener Schwerpunktsetzungen und eine damit einhergehende unzulängliche Berücksichtigung der Bedarfe oder Interessen der Teilnehmenden sowie ein vergleichsweise hoher Verwaltungs- und Arbeitsaufwand, der sich durch unterschiedliche Fördermodalitäten verstärkt. Die Diskrepanz zwischen der Bedeutung bzw. dem Bedeutungszuwachs politischer Bildung vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Transformationsprozesse und den prekären strukturellen Bedingungen erfordert ein Umdenken in Politik und Wissenschaft und demzufolge konzeptionelle Überlegungen zur Professionalisierung von Jugendbildungsreferentinnen und Jugendbildungsreferenten. Eine strukturelle Verankerung Politischer Jugendbildung an den Universitäten und Hochschulen sowie die langfristige Sicherstellung der finanziellen Ressourcen politischer Bildungspraxis mit den notwendigen Freiräumen bei den Fördermodalitäten stellen die Voraussetzungen hierfür dar. 308 uj 7+8 | 2018 Nachhaltige politische Jugendbildung Zum Feld der politischen Jugendbildung Wie gestaltet sich nun das Feld der außerschulischen politischen Jugendbildung? Zunächst charakterisiert sich dieses durch eine große Heterogenität auf mehreren Ebenen. Diese erschwert zwar den Überblick über das Feld, trägt jedoch einer pluralen und demokratischen Gesellschaft mit verschiedenen politischen Positionen Rechnung. Die Heterogenität beginnt bei einer vielfältigen Trägerlandschaft, die politische Jugendbildung anbietet, über eine daraus folgende heterogene Angebotsstruktur, aus der unterschiedliche Formate und Themensetzungen hervorgehen, bis hin zu einer angestrebten heterogenen Zusammensetzung der Teilnehmenden. Letzteres ist seit den 90er-Jahren verstärkt Thema, als spezielle Programme für bisher wenig erreichte Teilnehmende aufgesetzt wurden. Die Evaluation der politischen Jugendbildung (Schröder et al. 2004) bestätigt diese Heterogenität und gibt erstmalig Einblick in die Struktur der Teilnehmenden der durch den Kinder- und Jugendplan geförderten Einrichtungen. Im Rahmen des multimethodisch angelegten Forschungsdesigns wurden neben einer Fragebogenerhebung bei den durch den Kinder- und Jugendplan geförderten Einrichtungen problemzentrierte Interviews (Witzel 2000) und Gruppendiskussionen mit Jugendbildungsreferentinnen und Jugendbildungsreferenten, eine Gruppendiskussion mit Verantwortlichen der Zentralstellen und eine Auswertung von Trägermaterialien durchgeführt. Laut der Auswertung der Fragebogenerhebung (n = 109) haben in 2002 108.471 Teilnehmende an Veranstaltungen der durch den Kinder- und Jugendplan geförderten politischen Jugendbildung teilgenommen. Als genuine Zielgruppe politischer Jugendbildung stellen Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren (45 %) die größte Gruppe dar (vgl. Abb. 1). Ausgehend von einer entgrenzten Jugendphase (Böhnisch 2008), die mit längeren Ausbildungsphasen, ökonomischen Abhängigkeiten vom Elternhaus, biographischen Brüchen und späteren Reproduktionszeiten etc. einhergeht, erklärt sich das Phänomen, dass junge 14 - 18 Jahre 19 - 27 Jahre > 27 Jahre 21 % 34 % 45 % Abb. 1: Teilnehmende der öffentlich geförderten außerschulischen politischen Jugendbildung nach Altersgruppen in 2001 (n = 99 Einrichtungen) (eigene Darstellung nach Schröder et al. 2004) 309 uj 7+8 | 2018 Nachhaltige politische Jugendbildung Erwachsene im Alter von 19 bis 27 Jahren mit 34 % die zweitgrößte Gruppe ausmachen. Die 21 % derjenigen über 27 Jahren verweisen auf die Weiterbildungs- und Qualifizierungsarbeit von in der Bildungsarbeit Tätigen, die vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen Ausbildungslage eine hohe Relevanz für die Professionalisierung einnimmt. Unterstrichen wird dies von dem Ergebnis, dass knapp ein Fünftel der Teilnehmenden Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sind. Dies kann als weitere Besonderheit der außerschulischen politischen Jugendbildung gelten. Der Anteil der Jugendlichen, ebenfalls gut ein Fünftel, die im Klassenverband teilgenommen haben, lässt auf zwei weitere Charakteristika außerschulischer politischer Jugendbildung schließen. Im Gegensatz zur verpflichtenden schulischen Bildung, die an Lehrpläne, Notengebung und die Taktung von Schulstunden gebunden ist, stehen der außerschulischen politischen Jugendbildung unter dem Prinzip der Freiwilligkeit größere Spielräume in der Gestaltung ihrer Angebote zu. Lebensweltbezug der Themen, handlungsorientierte Methoden, Möglichkeitsräume, um sich im politischen Feld auszuprobieren, Selbstwirksamkeitserfahrungen und Diskussionen auf Augenhöhe ermöglichen erweiterte und andere Zugänge zum Politischen. Dies stellt eine wichtige Ergänzung zur schulischen politischen Bildung dar. Gleichzeitig ist die Gewinnung der Teilnehmenden - gerade der bildungsfernen, die sich oftmals in einer großen Distanz zur Politik sehen und sich im Sinne eines Selbstausschlusses auch nicht berechtigt fühlen, im politischen Feld zu agieren (Bourdieu 1987; Bremer 2010) - erschwert. Die Kooperation mit der Schule im Kontext von Projektwochen oder der Ganztagsschule als weiteres Merkmal außerschulischer Bildung stellt somit eine Win-win-Situation beider Parteien dar und führt im besten Fall zu einer bereichernden Wechselbeziehung. Zudem nimmt die Schule, indem sie auf Angebote der außerschulischen politischen Jugendbildung aufmerksam macht, einzelne Schülerinnen und 4 % 8 % 14 % 24 % 19 % 16 % 15 % Gymnasiasten HauptschülerInnen RealschülerInnen Berufstätige Auszubildende Studierende Arbeitslose Abb. 2: Teilnehmende der öffentlich geförderten außerschulischen Jugendbildung nach Ausbildungsstatus in 2001 (n = 108 Einrichtungen) (eigene Darstellung nach Schröder et al. 2004) 310 uj 7+8 | 2018 Nachhaltige politische Jugendbildung Schüler anspricht und zur Teilnahme ermutigt, eine wichtige Funktion als Türöffnerin ein. Bisweilen werden die außerschulischen Angebote allerdings auch als Kontrasterfahrung wahrgenommen. So berichtet ein ehemaliger Teilnehmer von seiner damaligen Frustration über die starren bürokratischen Strukturen und die Art der Unterrichtsvermittlung. Im Sozialkundeunterricht erlebt er die Herangehensweise Gesellschaft zu lernen anstatt über Gesellschaft nachzudenken (Z. 217 - 219). Die Erfahrung, auf Augenhöhe mit anderen Teilnehmenden und der Seminarleitung in einem Seminar der außerschulischen politischen Jugendbildung zu diskutieren, veranlasste ihn, sich weiter im außerschulischen Kontext mit Politik zu befassen (Balzter et al. 2014). Die Übersicht zu den Teilnehmenden nach Ausbildungsstatus weist ebenfalls darauf hin, dass die politische Jugendbildung eine heterogene Zielgruppe erreicht (vgl. Abb. 2). Dennoch zeigt die Jahrestagung der Transferstelle politischer Bildung 2016 auf, dass dieses Thema auf Grund bestehender Selbst- und Fremdausschlüsse für Praxis und Forschung weiterhin relevant bleibt und zu bearbeiten ist. Von besonderer Bedeutung erscheint dabei zum einen die Ermutigung der Jugendlichen, um sich für die Befassung mit dem Politischen berechtigt zu fühlen. Zum anderen muss die Ferne der Bildungsinstitutionen zu den Teilnehmenden in den Blick genommen und zum Gegenstand der Reflexion werden. Schließlich sind subjektorientierte Angebote zu konzipieren, die an der Lebenswelt der Jugendlichen anknüpfen und den besonderen Anforderungen der Arbeit mit dieser Zielgruppe gerecht werden (siehe hierzu auch Kohl/ Calmbach 2012; Schuster 2012). Zur biographischen Nachhaltigkeit politischer Jugendbildung Angesichts der im Kinder- und Jugendplan formulierten Ziele der politischen Jugendbildung stellt sich nicht nur für die Forschung, sondern auch für die dort Tätigen die Frage, inwieweit diese in der Bildungspraxis erreicht werden: „Politische Bildung soll jungen Menschen Kenntnisse über Gesellschaft und Staat, europäische und internationale Politik einschließlich der politisch und sozial bedeutsamen Entwicklungen in Kultur, Wirtschaft, Technik und Wissenschaft vermitteln. Sie soll die Urteilsfähigkeit über gesellschaftliche und politische Vorgänge und Konflikte ermöglichen, zur Wahrnehmung eigener Rechte und Interessen ebenso wie der Pflichten und der Verantwortlichkeiten gegenüber Mitmenschen, Gesellschaft und Umwelt befähigen sowie zur Mitwirkung an der Gestaltung einer freiheitlich-demokratischen Gesellschafts- und Staatsordnung anregen“ (BMFSFJ 2012, 145). Inwiefern sich Impulse und Erfahrungen aus Veranstaltungen der politischen Jugendbildung längerfristig in den Biographien niederschlagen, stand im Fokus der Wirkungsstudie zur biographischen Nachhaltigkeit politischer Jugendbildung (Balzter et al. 2014). Da hierüber nur eine retrospektive Perspektive Aufschluss geben kann, wurden junge Erwachsene fünf Jahre nach der Teilnahme mittels biographisch-narrativer Interviews nach ihrer Lebensgeschichte gefragt. Dieser offene Zugang ebenso wie die vergleichsweise lang zurückliegende Teilnahme und die damit erschwerte Gewinnung der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner stellten sowohl eine Chance als auch eine besondere Herausforderung bei der Realisierung der Studie dar. Letzteres konnte durch die Unterstützung der Einrichtungen und einzelner engagierter Jugendbildungsreferentinnen und Jugendbildungsreferenten bewältigt werden, sodass insgesamt 23 biographisch-narrative Einzelinterviews und vier Gruppendiskussionen mit jungen Erwachsenen durchgeführt werden konnten. Während Erstere dazu dienen, die Genese, also den Prozess der Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung zu rekonstruieren (Rosenthal 2011), eignen sich Letz- 311 uj 7+8 | 2018 Nachhaltige politische Jugendbildung tere dazu, kollektive Erfahrungsräume zu erschließen. Die Erhebung und Auswertung orientierte sich an der Biographieforschung nach Rosenthal (2011). Im Folgenden werden zentrale Ergebnisse der Studie anhand der erarbeiteten Typologie zur biographischen Nachhaltigkeit politischer Jugendbildung dargestellt. Dem folgend, wurden vier Typen biographischer Nachhaltigkeit politischer Bildung und drei Funktionsweisen von politischer Bildung erarbeitet (vgl. Abb. 3; Balzter et al. 2014). Der erste Typus politisches Engagement zeichnet sich dadurch aus, dass die Jugendlichen sich infolge der im Seminar gemachten Erfahrungen und der dort erhaltenen Impulse politisch engagieren. Ausgehend von den Zielen der außerschulischen politischen Jugendbildung - Wissen zu vermitteln, Urteilsfähigkeit zu ermöglichen und zur Partizipation anzuregen -, haben sich diese Jugendlichen hierbei in hohem Maße politisiert. Dieser angestoßene Politisierungsprozess ist naheliegend und erwartbar, da er ein klares Ziel der politischen Jugendbildung darstellt. Die Entdeckung des zweiten Typus, der beruflichen Orientierung durch außerschulische politische Jugendbildung, erweist sich als überraschend, da die berufliche Orientierung weder zu den Kernzielen politischer Jugendbildung gehört, noch auf den ersten Blick naheliegend ist. Sie kann gleichsam als bislang weitestgehend unbeachtete Nebenwirkung gelten (siehe auch Balzter 2016). Der Typus zeichnet sich dadurch aus, dass die politische Jugendbildung zu einer beruflichen Orientierung zumeist innerhalb des politischen Feldes führt. Der dritte Typus, die politisch aufgeklärte Haltung, kann wieder den immanent politischen Wirkungen im engeren Sinne zugeschrieben werden. Politische Bildung führt in diesem Fall durch die Anregung zu gemeinsamer kritischer Auseinandersetzung im Spannungsfeld von Gesellschaft und Individuum vorrangig dazu, das bisherige Denken und Handeln in Frage zu stellen und sich zu einem politisch aufgeklärten und zum Teil auch dementsprechend handelnden Bürger weiterzuentwickeln. Dies umfasst beispielsweise das Informieren über politische Prozesse und Entwicklungen, die kritische Be- Abb. 3: Typologie der biographischen Nachhaltigkeit und Funktionen politischer Jugendbildung Politisches Engagement Berufliche Orientierung Politisch aufgeklärte Haltung Erwerb politisch aktivierbarer Grundfähigkeiten Politische Jugendbildung verstärkend unterstützend impulsgebend das Andere aufzeigend 312 uj 7+8 | 2018 Nachhaltige politische Jugendbildung trachtung derselben im Sinne der Urteilsfähigkeit, die Verständigung darüber im sozialen Umfeld und schließlich das Inanspruchnehmen des persönlichen Wahlrechts. Der vierte Typus, der Erwerb politisch aktivierbarer Grundfähigkeiten, ist durch den Erwerb bestimmter Fähigkeiten gekennzeichnet, die die Grundlage für politisches Handeln darstellen. Dazu gehören vor allem die Stärkung des Selbstbewusstseins, Selbstwirksamkeitserfahrungen, der Erwerb sozialer Kompetenzen, wie Kommunikation, Interaktion, Konfliktbzw. Konsensfähigkeit, sowie Fähigkeiten zur Präsentation und Rhetorik. Die in der politischen Bildung erlernten Fähigkeiten werden dabei bisher primär im privaten und arbeitsgesellschaftlichen Raum eingesetzt. Zwischen den ersten beiden Typen politisches Engagement und berufliche Orientierung ist eine große Nähe festzustellen. In vielen Erzählungen der jungen Erwachsenen spielen beide Wirkungsrichtungen biographisch eine bedeutende Rolle bzw. gehen oftmals Hand in Hand. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass der politisch Engagierte ebenso wie der im politischen Feld beruflich Orientierte sowohl entsprechende politische Grundfähigkeiten erworben als auch eine politisch aufgeklärte Haltung haben. Im Anschluss an die Skizzierung der vier Wirkungsrichtungen stellt sich die Frage, ob ausschließlich die Erfahrungen in der politischen Jugendbildung für die beschriebenen Wirkungen verantwortlich sind, bzw. inwiefern diese im Zusammenspiel mit anderen sozialisatorischen Faktoren wirken. In der weiteren Analyse der Interviews wurde herausgearbeitet, dass die vier Typen sich, bezogen auf die Funktion politischer Bildung, auf drei unterschiedliche Weisen konkretisieren. Die so bezeichnete funktionale Differenzierung gibt Aufschluss darüber, ob und wie politische Jugendbildung an politische Vorerfahrungen anknüpft oder die Jugendlichen mit gänzlich neuen Perspektiven konfrontiert. Dabei kann politische Bildung bereits initiierte Entwicklungen unterstützen, entscheidende Impulse geben oder überhaupt erst einen Zugang zum politischen Feld eröffnen. Die funktionale Differenzierung der Wirkungsrichtungen lässt sich konkret in drei Kategorien fassen: Die Interviews zeigen, dass Veranstaltungen der außerschulischen politischen Bildung als impulsgebend für die weitere Auseinandersetzung mit Politik dienen können. Politische Bildung wird hierbei oftmals als Schlüsselerlebnis, als Kontrasterfahrung zu dem Bisherigen beschrieben. Die verstärkende oder unterstützende Funktion hingegen knüpft an zuvor gemachte - außerhalb der politischen Jugendbildung liegende - biographische Erfahrungen mit dem Politischen an. Diese können entweder bereits zu einem Handlungsentschluss bzw. einer Einstellungsänderung geführt oder aber zunächst das Interesse und die Motivation zur weiteren Auseinandersetzung geweckt haben. Politische Bildung wird dann oftmals gezielt in Anspruch genommen und das bereits Vorhandene durch die Teilnahme an Veranstaltungen vertieft und differenziert. Die dritte funktionale Differenzierung - das Andere aufzeigend - rückt die familiäre Sozialisation noch stärker ins Blickfeld und zeigt Gegensätzliches auf. Sie verweist auf eine Diskontinuität in der Entwicklung. Die Veranstaltungen der politischen Jugendbildung ermöglichen den Jugendlichen dabei eine grundlegende Erweiterung des bisherigen Erfahrungshorizontes. In den Seminaren kommen sie, in Differenz zu ihrem sozialen Umfeld und Hintergrund, in Kontakt mit politischen Fragestellungen und kritischen Sichtweisen. Sie können ihr Wissen über politische Zusammenhänge erweitern, ihre Urteilsfähigkeit schärfen und sie erhalten Einblick in potenzielle (politische) Berufsfelder und in Formen von Engagement. Den Jugendlichen wird ein Erfahrungsraum eröffnet, in dem sie sich ausprobieren und einen Zugang zum politischen Feld finden können. 313 uj 7+8 | 2018 Nachhaltige politische Jugendbildung Essenzen aus den Studien für eine gelingende politische Bildungsarbeit Im Folgenden werden ausgewählte Schlussfolgerungen, die für eine gelingende politische Bildungsarbeit bedeutsam erscheinen, aus den beiden Studien von Schröder et al. (2004) und Balzter et al. (2014) zusammengeführt. Politische Bildung wirkt: In den Interviews findet sich eine Vielzahl von Belegen für die langfristige Wirkung der außerschulischen politischen Jugendbildung. Über die Bestätigung der Arbeit hinaus geben die Forschungsergebnisse Aufschluss über die politischen Bildungsprozesse und deren biographische Verknüpfung sowie über die Gelingensbedingungen politischer Bildung. Jugendliche brauchen politische Möglichkeitsräume: Durch die breite Angebotsstruktur der politischen Jugendbildung wird eine Vielzahl von Themen zu gesellschaftspolitisch relevanten Fragestellungen und Konflikten offeriert. Diese werden in der Regel in kurzzeitpädagogischen Angeboten unterschiedlichster Formate - u. a. Gedenkstättenarbeit, Kinder- und Jugendparlamente, Seminare oder Projekte - an lebensweltnahen und -fernen Orten (wie zumeist außerhalb liegende Bildungsstätten) bearbeitet. Hierzu wird eine Methodenvielfalt herangezogen, die sich durch Subjekt- und Handlungsorientierung, Selbstwirksamkeitserfahrungen, Lebensweltbezug und Innovation kennzeichnet; denn will man die Jugendlichen für das Politische gewinnen, braucht es diese, und nicht umsonst wird außerschulischer politischer Jugendbildung eine Vorreiterrolle in der Entwicklung innovativer Methoden zugeschrieben. Die in den Veranstaltungen verwendeten Methoden werden in den Interviews häufig erwähnt und entfalten Wirkungen, obgleich es weder eine Kausalität von Methode und Wirkung gibt, noch Aussagen darüber möglich sind, auf welche Weise und mit welchen Methoden die „beste Wirkung“ erzielt werden kann. Die individuelle Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft unterscheiden sich vielmehr und hängen von den jeweiligen Eigenarten, Vorerfahrungen und Handlungsmustern ab. Wichtig ist dabei der partizipative Einbezug der Teilnehmenden. Unter Berücksichtigung der Prozesshaftigkeit von Bildungsprozessen erscheint es relevant, nicht nur Zugänge zu eröffnen, sondern auch Anschlussmöglichkeiten mitzudenken und anzubieten. Denn mehrmalige und längerfristige Teilnahmen scheinen einen größeren Effekt im Hinblick auf die biographische Nachhaltigkeit politischer Jugendbildung zu erzielen. Ein solcher kontinuierlicher Möglichkeitsraum ist gerade auch für bildungsferne Jugendliche von großer Bedeutung. Politische Bildung braucht engagierte Jugendbildungsreferentinnen und Jugendbildungsreferenten: Für diese Bildungsprozesse braucht es ambitionierte Professionelle, die Neues aufschließen und den Bogen zwischen dem Einzelnen und dem Gemeinwesen exemplarisch herstellen können und auf diese Weise zum Nachdenken anregen. Diese haben nicht nur eine Schlüsselrolle im Hinblick auf die Bildungsprozesse, sondern auch in Bezug auf eine Vielzahl von ehrenamtlich oder auf Honorarbasis zu begleitenden Tätigen im Feld der politischen Bildung. Die Anforderungen an die in der politischen Bildung Tätigen sind vor dem zuvor aufgezeigten Tätigkeitsfeld anspruchsvoll. Die Evaluation (Schröder et al. 2004) unterstreicht dies sowohl in Bezug auf die Ausbildung(en) als auch auf das professionelle Handeln. Um die Professionalität zukünftig sicherzustellen, bedarf es statt eines Abbaus einen Ausbau universitärer Strukturen und konzeptionelle Überlegungen zu entsprechenden Ausbildungsgängen, die sowohl pädagogische als auch politikwissenschaftliche und soziologische Fragestellungen zum Inhalt haben (siehe hierzu auch Balzter 2013). Besonders relevant für die Weiterentwicklung der politischen Jugendbildung vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Transformationsprozesse ist die Reflexion der eigenen Arbeit sowie der Involviertheit der 314 uj 7+8 | 2018 Nachhaltige politische Jugendbildung politischen Bildung und der dort Tätigen in Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Vor dem Hintergrund der heterogenen Zielgruppe politischer Bildung erscheint eine vertiefende Auseinandersetzung mit gender- und differenzreflexiven Erkenntnissen notwendig, um die sozialen Lagen ihrer Teilnehmenden adressieren zu können (Balzter/ Klenk 2018). Hierzu braucht es Reflexionsräume und -angebote. Politische Bildung braucht Strukturen und Ressourcen: Schließlich müssen Rahmenbedingungen für politische Jugendbildung geschaffen werden, in denen sich der Einzelne entfalten und im politischen Raum verorten kann. Der besondere Wert der politischen Jugendbildung für die Demokratie kann nur am Einzelnen und damit exemplarisch wirklich ermessen werden. Zur Gewährleistung der Rahmenbedingungen bedarf politische Jugendbildung einer gesicherten Förderung des Personals, der Forschung und Theoriebildung, einer professionellen Aus- und Weiterbildung von Jugendbildungsreferentinnen und Jugendbildungsreferenten und der entsprechenden Lernorte, an denen Bildungsprozesse fruchtbar werden. Nadine Balzter Technische Universität Darmstadt Alexanderstraße 6 64283 Darmstadt Tel. (0 61 51) 1 62 39 76 Literatur Ahlheim, K. (2003): Vermessene Bildung. Wirkungsforschung in der politischen Erwachsenenbildung. Wochenschau Verlag, Schwalbach/ Ts. Balzter, N., Ristau, Y., Schröder, A. 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