eJournals unsere jugend 70/7+8

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art52d
71
2018
707+8

Zwischenruf: Was bedeuten die Forderungen nach mehr Qualität in der Krippenbetreuung und wie können sie erfüllt werden?

71
2018
Vera Birtsch
Die Qualität in Kitas sei in Deutschland nicht ausreichend, so wird von verschiedenen Seiten behauptet. Es fehle aufgrund zu niedriger Personalschlüssel an Personal, zudem seien bestehende Stellen oft vakant. Forderungen nach entsprechenden Veränderungen werden zahlreich erhoben und ihre schnelle Erfüllung angemahnt. Selbstverständlich ist eine Verbesserung der Qualität in der Kinderbetreuung unbedingt zu begrüßen – aber kann dies tatsächlich nur durch mehr Personal erreicht werden? Oder handelt es sich dabei um komplexere Problemlagen, die bei allem Engagement keine schnellen Lösungen erwarten lassen? Mit sechs Punkten soll beleuchtet werden, was vor allem in der Krippenbetreuung zu berücksichtigen wäre.
4_070_2018_7+8_0010
344 unsere jugend, 70. Jg., S. 344 - 347 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art52d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die Qualität in Kitas sei in Deutschland nicht ausreichend, so wird von verschiedenen Seiten behauptet. Es fehle aufgrund zu niedriger Personalschlüssel an Personal, zudem seien bestehende Stellen oft vakant. Forderungen nach entsprechenden Veränderungen werden zahlreich erhoben und ihre schnelle Erfüllung angemahnt. Selbstverständlich ist eine Verbesserung der Qualität in der Kinderbetreuung unbedingt zu begrüßen - aber kann dies tatsächlich nur durch mehr Personal erreicht werden? Oder handelt es sich dabei um komplexere Problemlagen, die bei allem Engagement keine schnellen Lösungen erwarten lassen? Mit sechs Punkten soll beleuchtet werden, was vor allem in der Krippenbetreuung zu berücksichtigen wäre. 1. Mit dem Ausbau der Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren ist die Betreuungsquote deutschlandweit erheblich gestiegen. Die neueste Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (Geis 2018, 1) zeigt, dass allein im Jahr 2017 42.000 Kinder unter 3 Jahren mehr betreut wurden als im Jahr zuvor. Und in den Jahren 2015 bis 2017 wurde das pädagogische Personal um 44.748 auf knapp 600.000 Personen aufgestockt (AKJstat 2017, 9). Da aber immer mehr Eltern die Betreuung ihrer Kleinsten wünschen, die Geburtenraten steigen und die Zuwanderung anhält, besteht weiterhin eine Betreuungslücke von ca. 300.000 Plätzen im Krippenbereich. So ist der Ausbau der Kinderbetreuung in diesem Segment noch lange nicht beendet. Bei allen Personalforderungen zur Qualitätsverbesserung ist also auch der Aufwand für die Schaffung weiterer Betreuungsplätze zu beachten. 2. Mit dem erheblichen Anstieg der Inanspruchnahme-Quote der Kindertagesbetreuung hat sich für die Lebensphase der frühen Kindheit in Deutschland ein dramatischer Wandel vollzogen. Frühkindliches Leben wird nunmehr zu großen Teilen in Institutionen und nicht mehr allein in der Familie verbracht, so dass sich Qualitätsfragen mit neuer Dringlichkeit stellen (Rauschenbach 2016). Qualitätsverbesserungen - z. B. in der Förderung der Sprachentwickvon Dr. Vera Birtsch Jg. 1948; Dipl.-Psychologin, freiberuflich tätig als Mediatorin Zwischenruf: Was bedeuten die Forderungen nach mehr Qualität in der Krippenbetreuung und wie können sie erfüllt werden? 345 uj 7+8 | 2018 Qualität in der Krippenbetreuung lung oder des Verhaltens in der Gruppe - werden aber nur dann spürbar erreicht, wenn das Personal entsprechend qualifiziert ist und die Trias von Bildung, Betreuung und Erziehung erfolgreich umsetzen und soziale Benachteiligung messbar ausgleichen kann. 3. Immerhin, so zeigt der Blick in die Kinder- und Jugendhilfestatistik, haben sich die durchschnittlichen Personalschlüssel trotz des erheblichen Platzausbaus der vergangenen Jahre nicht verschlechtert, was vielfach befürchtet worden war (Bock-Famulla u. a. 2017, 8). Die Strukturqualität der Einrichtungen, zu welcher der Personalschlüssel beiträgt, konnte also gehalten werden - sie weiter zu verbessern, wird das Ziel bleiben. Um aber auch auf die Prozessqualität Einfluss zu nehmen, die sich aus den Interaktionen von Erzieherinnen und Erziehern mit den Kindern ergibt, also von Qualifikations- und Tätigkeitsprofilen abhängt, sind weitere Aspekte zu berücksichtigen: ➤ Da ist zunächst die Zeit, welche die Fachkräfte für pädagogische Arbeit mit Kindern aufwenden. Bei der Berechnung des Personalschlüssels wird in der Regel die gesamte Arbeitszeit zugrunde gelegt, obwohl Fachkräfte nur einen Teil davon mit den Kindern verbringen. Die restliche Zeit geht in die Vor- und Nachbereitung der Angebote, in Teambesprechungen, Fortbildung und Krankheitstage. Der Anteil hierfür kann 30 bis 40 % der Arbeitszeit ausmachen (Textor 2016, 25ff ) und steht, wenn er nicht gesondert vergütet wird, auch für pädagogische Prozesse nicht zur Verfügung. Dies geschieht jedoch keineswegs überall, ein Ausgleich wäre deshalb flächendeckend anzustreben. ➤ Die Qualifikation des Erzieherpersonals gilt als wesentliche Voraussetzung für gute Kita- Arbeit im Sinne des Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsansatzes. Wie aber sieht diese Qualifikation aus? Aus empirischen Studien ist bekannt, dass gerade kleine Kinder dann am besten vom Kita-Aufenthalt profitieren, wenn das Verhalten der Erzieherinnen zugleich gruppenwie kindzentriert ausgerichtet ist, die Gruppen nicht zu groß sind und der Betreuerinnenwechsel nicht zu häufig stattfindet (Rosenkranz 2010, 490). Vor allem dieses Erzieherverhalten muss also in der Ausbildung eingeübt und durch Fort- und Weiterbildung unterstützt werden. Bereiten die gegenwärtigen Ausbildungsgänge und Fortbildungsangebote aber tatsächlich auf die vielseitigen Anforderungen pädagogischer Arbeit in Kitas vor? Sind pädagogisch Tätige tatsächlich in der Lage, die Gruppe und das einzelne Kind im Blick zu haben und zu fördern, aber auch z. B. Elterngespräche zu führen? ➤ Auf Gruppengrößen und Dienstpläne wirken maßgeblich die Einrichtungsleitungen ein. Sie sorgen für einen effizienten Personaleinsatz, für die Weiterqualifizierung der pädagogischen Fachkräfte und die Realisierung wirksamen pädagogischen Verhaltens. Hat die Einrichtungsleitung also genügend Zeit für die Gestaltung der inhaltlich-pädagogischen Arbeit sowie für Arbeitszeitgestaltung, Personalpflege und Personalentwicklung, können pädagogische Prozesse genauer vorbereitet und begleitet werden? Vor allem die Bertelsmann Stiftung (2017) hat sich ausführlich mit der Leitungsaufgabe in Kitas als Beitrag zum Qualitätsausbau beschäftigt und auch darauf hingewiesen, dass die Personalkapazitäten für Leitungsaufgaben von Bundesland zu Bundesland höchst unterschiedlich seien. 11 % aller Kitas verfügten sogar über gar keine Leitungskapazität, wovon vor allem kleine Einrichtungen betroffen seien. Eine angemessene Leitungsausstattung aber wäre als wichtige Voraussetzung für gute Kita-Qualität einzustufen, so die Stiftung. 4. Betrachtet man den Status quo, wie er sich im „Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2017“ abbildet (Bock-Famulla u. a. 2017, 7ff ), zeigt sich noch eine ganz andere Auffälligkeit: nämlich erhebliche Unterschiede in den Personalschlüsseln der Bundesländer. So wurden im Jahr 2016 für Baden-Württemberg und Bremen Personalschlüssel von 1 : 3,0 und 1 : 3,1 festgestellt - also dicht am von der Bertelsmann Stiftung für Krippengruppen geforderten 346 uj 7+8 | 2018 Qualität in der Krippenbetreuung Standard von 1 : 3,0. Unter den westlichen Bundesländern sind Hamburg mit 1 : 5,1 und unter den östlichen Sachsen mit 1 : 6,5 am weitesten von der Empfehlung entfernt. Das Mittel liegt für Gesamtdeutschland bei 1 : 4,3. Wenn zudem, wie im Länderreport erstmalig berechnet, von diesen Personalschlüsseln der Anteil abgerechnet wird, der für nicht-pädagogische Tätigkeiten anzusetzen ist, ergeben sich Personal-Kind-Relationen, so der Begriff der Bertelsmann Stiftung hierfür, von ganz anderer Dimension: für Baden-Württemberg z. B. von 1 : 5,1 - im Ergebnis also für alle Bundesländer noch längst nicht befriedigend. Das Vorhandensein großer Disparitäten unter den Ländern weist auf sehr unterschiedliche Strukturqualitäten und damit auf ungleiche Lebensbedingungen hin. 5. Aber auch innerhalb der Länder gibt es erhebliche Spannweiten. So zeigt sich für das Beispiel Schleswig-Holstein (Bock-Famulla u. a. 2017, 238ff ), dass zwar der durchschnittliche Personalschlüssel (ohne Leitungsressourcen) für das Land bei 1 : 3,8 und damit im Mittel der Bundesländer liegt. Auf Kreisebene allerdings variieren die Schlüssel von 1 : 3,4 (Landkreis Rendsburg-Eckernförde) bis 1 : 4,2 (Kreisfreie Stadt Neumünster). Bundesweit hat Schleswig-Holstein also einen vergleichsweise mittelguten Standard erreicht und doch irritieren die Unterschiede. Die Debatte um die Strukturqualität der Einrichtungen muss also auch regionale Unterschiede in den Blick nehmen. Auch diese verstoßen, wie die zwischen den Bundesländern, gegen den im Grundgesetz festgelegten Gleichheitsgrundsatz. Sie wären in gleicher Weise abzubauen, wie das Ziel eines Personalstandards von 1 : 3,0 im Krippenbereich anzustreben ist. 6. Ein weiteres und wahrscheinlich noch viel größeres Problem aber zeigt der Blick in die Zukunft auf: Der bereits jetzt spürbare Fachkräftemangel wird weiter zunehmen. Die Forderungen nach mehr Personal könnten also in der Zukunft immer mehr ins Leere laufen. Was ist hier zu tun? Eine gute Personalfürsorge und Personalentwicklung, geleistet durch Einrichtungsleitungen und Trägervertreter, wird die pädagogisch Tätigen nicht nur ausreichend qualifizieren, sondern sie auch langfristig an ihre Einrichtungen binden. Denn es gilt, die jetzt arbeitenden Fachkräfte so lange wie möglich an ihren Arbeitsplätzen zu halten und für zukünftige attraktiv zu sein. Zufriedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten nicht nur besser, sie bleiben auch bei ihren Arbeitgebern. Gleichzeitig sind die Ausbildungsanstrengungen an den Fach- und Fachhochschulen zu intensivieren. Ausbildungsgänge sollten dahingehend überprüft werden, ob mit ihnen die in der Praxis benötigten Qualifikationen wirklich vermittelt werden. In diesem Zusammenhang ist auch an ein duales Ausbildungsmodell zu denken, wie es bereits in einigen Bundesländern praktiziert wird (z. B. Fachhochschule Hamm, Studiengang Soziale Arbeit). Allerdings sollte auch die tarifliche Bewertung der Tätigkeiten von Erzieherinnen und Erziehern überprüft werden - insbesondere vor dem Hintergrund des gesetzlich verankerten Bildungsauftrags. Zum Schluss soll aber auch darauf verwiesen werden, dass die angesprochenen Aktivitäten bereits unternommen werden. Auch hier lohnt der Blick nach Schleswig-Holstein. Dort hat der Landesjugendhilfeausschuss (2017) das zuständige Ministerium aufgefordert, ein Modellprojekt zur praxisintegrierten Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern auf den Weg zu bringen, das zusätzliche Ausbildungsplätze schafft und gleichzeitig erweiterte Zielgruppen für die Ausbildung gewinnen soll. Bereits vor Jahren hat das Bundesministerium eine Arbeitsgruppe zur Fachkräftegewinnung eingesetzt (BMFSFJ 2014) und 2017 sollen sich nach Pressemeldungen Länderministerien und Bundesebene bereits auf Eckpunkte eines Qualitätsgesetzes für die Kindertagesbetreuung verständigt haben. Dr. Vera Birtsch E-Mail: vbirtsch@t-online.de 347 uj 7+8 | 2018 Qualität in der Krippenbetreuung Literatur AKJstat (2017): Ungebremster Bedeutungszuwachs der Kindertagesbetreuung. In: KomStat 20 (2 - 3), 5 - 10 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2017): Qualitätsausbau in KiTas 2017. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh BMFSFJ (2014): Arbeitsgruppe Fachkräftegewinnung für die Kindertagesbetreuung. In: www.bmfsfj.de/ bmfsfj/ themen/ familie/ kinderbetreuung/ fachkraefte/ fachkraefte/ 86374, 29. 3. 2018 Bock-Famulla, K., Strunz, E., Löhle, A. (2017): Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2017, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Geis, W. (2018): IW-Kurzbericht 14/ 2018. Kinderbetreuung: Es fehlen immer noch fast 300.000 U3-Plätze. Institut der deutschen Wirtschaft. In: https: / / www. iwkoeln.de/ studien/ iw-kurzberichte/ beitrag/ widogeis-es-fehlen-immer-noch-fast-300000-u3-plaetze- 380184.html, 29. 3. 2018 Landesjugendhilfeausschuss SH (2017). In: www.schles wig-holstein.de/ DE/ Fachinhalte/ K/ kinderJugendhilfe/ Landesjugendamt_Landesjugendhilfeausschuss. html, 29. 3. 2018 Rauschenbach, T. (2016): Qualität in der Kindertagesbetreuung - ein Zwischenzeugnis. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 47, Editorial Rosenkranz, J. (2010): Frühkindliche Bindung und Kindertagesbetreuung. In: unsere jugend 62, 479 - 492, https: / / doi.org/ 10.2378/ uj2010.art48d Textor, M. R. (2016): Die Umsetzung des Rechts auf frühkindliche Bildung in den Bundesländern. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 47, 16 - 37