eJournals unsere jugend 70/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2018
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Frühe politische Bildung

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2018
Fee Brinkmann et al.
Was muss Politische Bildung ausmachen, die auf eine lebendige Beziehung zur Demokratie abzielt? Kann sie in einer Zeit, die von Politikverdrossenheit und scharfen Tönen geprägt ist, unter den Bedingungen von Populismus, grassierender Menschenfeindlichkeit und instabilen Mehrheiten, zu einer friedlichen Gesellschaft beitragen? Inwiefern gehört sie in die Kindertagesbetreuung?
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328 unsere jugend, 70. Jg., S. 328 - 335 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art50d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Frühe politische Bildung Beteiligung von Kindern in der Kindertagesbetreuung Was muss Politische Bildung ausmachen, die auf eine lebendige Beziehung zur Demokratie abzielt? Kann sie in einer Zeit, die von Politikverdrossenheit und scharfen Tönen geprägt ist, unter den Bedingungen von Populismus, grassierender Menschenfeindlichkeit und instabilen Mehrheiten, zu einer friedlichen Gesellschaft beitragen? Inwiefern gehört sie in die Kindertagesbetreuung? Der folgende Beitrag beleuchtet Politische Bildung im Kontext der Kindertagesbetreuung, also der Kindertagespflege und Kindertageseinrichtungen. Kinder haben das Recht, selbstbestimmt zu handeln und sich an den Entscheidungen zu beteiligen, die sie betreffen. Mitbestimmung in der Kindertagesbetreuung ist daher Selbstzweck. Der Erfolg von Strukturen, die sie ermöglichen, ist am Grad der Beteiligung zu messen. Doch darüber hinaus gilt: Wer in einem Umfeld aufwächst, in dem ➤ Vielfalt bejaht wird, ➤ Selbstwirksamkeit erfahrbar ist, ➤ Empathie geübt wird, ➤ bei Interessenkonflikten friedlich Lösungen gesucht werden, ➤ Ungerechtigkeiten auch von denen abgebaut werden, die nicht darunter leiden, und ➤ sich auch die an legitime Beschlüsse binden, die nichts von ihnen haben, kann sich mit den zugrunde liegenden Werten in die Gesellschaft und das politische System einbringen (Bundesjugendkuratorium 2017). Demokratiebildung in den ersten Lebensjahren eröffnet Kindern Entwicklungschancen und vermittelt demokratiebezogene Handlungskompetenzen. Fee Brinkmann, Matthias Colloseus, Meike Geppert, Jannes Hesterberg, Vera Katona, Teresa Lehmann, Ramona Sikora, Nicole Tappert Die am vorliegenden Beitrag beteiligten Personen setzen bei bundesweit tätigen Verbänden das vom BMFSFJ geförderte Kooperationsprojekt „Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung“ um. Hintere Reihe, v. l. n. r.: Jannes Hesterberg, Matthias Colloseus. Zweite Reihe, v. l. n. r.: Ramona Sikora, Fee Brinkmann, Meike Geppert. Vordere Reihe, v. l. n. r.: Vera Katona, Nicole Tappert, Teresa Lehmann. 329 uj 7+8 | 2018 Frühe politische Bildung Demokratiebildung und Beteiligung Sprechen wir heute von Demokratie, meinen wir damit oft zunächst die gegenwärtige Regierungsform der Bundesrepublik; also die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die darin formulierten Prinzipien und Grundwerte. Ein im historischen Vergleich friedliches Miteinander bei großer persönlicher Freiheit und tatsächlich gelebter Vielfalt wird durch diese Regierungsform möglich. Sie setzt Teilhabechancen aller Menschen am politischen Leben voraus. Demokratie lässt sich jedoch auch in einer Weise fassen, die über die Regierungsform - also politische Institutionen und Gesetze - hinausgeht. Denn deren weitere Voraussetzungen sind eine aktive Zivilgesellschaft und eine freie und vielfältige Öffentlichkeit, die wiederum eine demokratische Kultur des Zusammenlebens im Alltag erfordern. Damit Demokratie im Großen funktioniert, muss also auch im Kleinsten, im alltäglichen Miteinander, demokratisches Verhalten gelebt werden. Demokratie wird damit zur Lebensform. Auch diese will gelernt sein - und zwar in jeder Generation von jedem Menschen neu. Dieser Lernprozess kann und darf nicht erst mit dem 18. Lebensjahr beginnen. Politische Bildung in demokratischen Verhältnissen kann auch nicht auf die abstrakte Vermittlung von Kenntnissen der Institutionen und ihrer Entscheidungsfindung beschränkt werden. Vielmehr findet Demokratiebildung durch Beteiligung statt, die so früh wie möglich ansetzen muss. Exemplarisch zeigt die deutsche Geschichte, wie stark Erziehung und Bildung die Wertvorstellungen von Menschen beeinflussen. Pädagogische Institutionen müssen daher den ihnen möglichen Beitrag zur Demokratieerziehung und -bildung leisten. Dies gilt auch für Orte frühkindlicher Bildung als entscheidende Sozialisationsräume. Denn hier lernen viele Kinder erstmals gesellschaftliche Strukturen, Normen, Werte und Haltungen außerhalb der eigenen Familie kennen und bilden ihren Umgang damit aus (Sturzenhecker/ Knauer 2016). Auch diese Institutionen richten sich dabei vornehmlich auf die Demokratie als Lebensform aus, um an das Weltwissen von jungen Kindern anknüpfen zu können. Die Kinder können demokratisches Miteinander erlernen und erleben. Demokratiebildung mit jungen Kindern bedeutet daher vor allem, ihnen demokratisches Handeln und konkretes Erleben von demokratischer Mitbestimmung im unmittelbaren Umfeld zu ermöglichen. Dafür müssen Kinder in Entscheidungen, von denen sie betroffen sind oder sein können, einbezogen werden. Ziel ist, dass sie ihre Umwelt mitgestalten, sich so mit dieser identifizieren und Verantwortung für sich selbst und andere übernehmen. Beteiligung - von Anfang an Immer wieder fragen Erwachsene: „Können (so junge) Kinder überhaupt schon mitentscheiden? “ Darin zeigt sich die Befürchtung, Kinder könnten durch Beteiligung überfordert werden, weil der dazu nötige Entwicklungsstand noch nicht gegeben sei. Doch Kinder sind bereits mit ihrer Geburt Träger von Rechten, und zwar nicht nur von Förder- und Schutzrechten, sondern auch von Beteiligungsrechten (UN-Kinderrechtskonvention). Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII § 8) legt fest, dass Kinder ihrem Entwicklungsstand entsprechend an Entscheidungen zu beteiligen sind. Aus sozialpädagogischer Perspektive ist die Beteiligung von Kindern ohnehin nicht unter einen Altersvorbehalt zu stellen. Ihre einzige Voraussetzung sollte Betroffenheit von einer möglichen oder tatsächlichen Entscheidung sein (Richter u. a. 2017). Darüber hinaus stärkt 330 uj 7+8 | 2018 Frühe politische Bildung praktische Erfahrung mit demokratischen Bildungs-, Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen auch entsprechende Kompetenzen. Statt zu fragen, ob oder ab wann Kinder partizipieren können, müsste also gefragt werden, wie Kinder partizipieren können. Erfahrungen mit dem Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ (Hansen u. a. 2011) zeigen, dass die Demokratiebildung von Kindern, auch sehr jungen Kindern, am besten über eine echte Beteiligung an konkreten Entscheidungen funktioniert: Was gibt es zu essen und zu trinken? Wer darf mich wickeln? Was machen wir heute? Aber auch: Wie soll die nächste Person sein, die bei uns ein Praktikum macht? Echte Beteiligung heißt: Der Ausgang eines Bildungs- und Entscheidungsprozesses ist nicht schon durch die Erwachsenen vorbestimmt, sondern offen. Das gilt für Dialoge über angemessene Kleidung ebenso wie für die Diskussion neuer Regeln für das Fahrradfahren im Garten (Richter u. a. 2017). Je jünger die Kinder, desto mehr Unterstützung brauchen sie von Erwachsenen, um ihre Beteiligungsrechte wahrnehmen zu können. Für eine Kindertagespflegestelle oder Krippe bedeutet dies, dass zunächst einmal die Interaktionen zwischen den Erwachsenen und den Kindern daraufhin untersucht werden müssen, wie Beteiligung dort verwirklicht werden kann. Punktuell und mit geeigneten Methoden können aber auch Kinder bis drei Jahre schon an Gruppenentscheidungen beteiligt werden (Rehmann 2016). Wenn Beteiligung konsequent umgesetzt wird, verändert sie schließlich auch den Blick von Erwachsenen auf Kinder. So reflektiert eine pädagogische Fachkraft ihren eigenen Bildungsprozess: „Auf die Überlegung, dass Kinder unter drei Jahren ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht erkennen und nicht äußern können, […] würde ich heute natürlich nicht noch einmal kommen“ (Richter u. a. 2016, 216). Partizipative Ansätze in der Frühpädagogik Beteiligung von Kindern in Kindertageseinrichtungen oder Kindertagespflege bedeutet also: Kinder entscheiden mit, wie der Alltag ausgestaltet wird, der sie betrifft. Dabei hilft, dass Kinder sich von Anfang an beteiligen wollen. Sie wollen sich engagieren, und vor allem wollen sie Dinge selbstständig ausprobieren. Die Bildungspläne der Länder versuchen auf unterschiedliche Weise, dies umzusetzen. Während einige Bundesländer Kindertageseinrichtungen als Lernfeld für politische Bildung und Demokratie begreifen, wo Beteiligungsrechte strukturell (z. B. in Kita-Verfassungen) verankert sind, greifen andernorts Bildungspläne das Thema nicht auf oder treffen nur sehr vage Aussagen über Form und Umfang von Beteiligung (Danner 2012). Konkrete Anlässe und Gelegenheiten zur Beteiligung sind in der Frühpädagogik vielfältig. Modellhaft lassen sich drei Ansätze unterscheiden: offene, projektbezogene und strukturell verankerte Beteiligung. Bei offenen Beteiligungsformen wird allen Kindern die Möglichkeit geboten, ihre Anliegen und Meinungen einzubringen und dadurch den Alltag mitzugestalten. Zu den offenen Formaten gehören etwa Morgen- und Erzählkreise sowie andere Formen der Versammlung, bei denen die Meinung der Kinder gefragt ist, ohne dass ihr Gewicht bei der Entscheidung vorab feststeht. Die zweite Beteiligungsform ist die projektbezogene Beteiligung. Hier werden Kinder aktiv an der Planung und Durchführung eines zeitlich, räumlich und thematisch definierten Projektes beteiligt. Bekannte Beispiele projektbezogener Beteiligung sind etwa die Auswahl des Essens, die Planung eines gemeinsamen Ausflugs sowie die Gestaltung von Spielflä- 331 uj 7+8 | 2018 Frühe politische Bildung chen (Danner 2012; Der Paritätische Brandenburg 2013). Diese nicht-institutionalisierten Formate bieten für Kindertagespflegepersonen, Fachkräfte und ihre Einrichtungen die Möglichkeit, sich dem Thema Kinderbeteiligung anzunähern. Ihr Nachteil ist, dass weiterhin Erwachsene über die Häufigkeit und Reichweite der Mitbestimmungsmöglichkeiten von Kindern entscheiden. Die Erwachsenen legen von Fall zu Fall fest, ob und wie weit sie Kinder beteiligen und inwieweit sie die Äußerungen der Kinder tatsächlich berücksichtigen. Das kann den pädagogischen Alltag noch anspruchsvoller machen, wenn zusätzlich zu anderen Anforderungen auch die Möglichkeit und das Maß von Beteiligung bedacht, festgelegt und umgesetzt werden sollen. Durch die Erziehungsbedürftigkeit der Kinder entsteht ein Machtungleichgewicht zwischen Erwachsenen und Kindern, bezeichnet als Adultismus. Es muss verantwortungsbewusst und kritisch reflektiert werden, wenn Erwachsene ihre Macht so einsetzen wollen, dass sie „Kindern die Möglichkeit für demokratische Bildungsprozesse eröffnen“ (Knauer u. a. 2012, 47). Ein Weg ist, die Beteiligung der Kinder von vornherein mit Verbindlichkeit auszustatten. Wenn sich die Erwachsenen in institutionalisierter Form selbst dazu verpflichten, die kindliche Mitbestimmung zu achten, und in der Folge rechtfertigen müssen, wenn sie davon abweichen wollen, hängt die Demokratiebildung nicht mehr von den Kapazitäten der Erwachsenen in der konkreten Situation ab. Daher nehmen in Abgrenzung zu dieser anlassbezogenen Beteiligung bei strukturell verankerter Beteiligung (in der Regel gewählte) Kinder die Mitbestimmungsrechte der Kinder verbindlich in Gremien wahr, etwa im Kinderparlament oder im Kinderrat. Zusammen mit den pädagogischen Fachkräften (und gegebenenfalls Elternvertretungen) können Kinder in diesen Gremien ihre Anliegen diskutieren und gemeinsam mit den Erwachsenen Lösungen aushandeln (Danner 2012). Ein Beispiel für solche politischen Entscheidungsverfahren entlehnten Modelle ist der friedenspädagogische Ansatz Demokratielernen von Anfang an, der Kindern demokratische Orientierungsmöglichkeiten in dialogischer Form vermitteln soll. Auch in sogenannten Demokratiewerkstätten werden grundlegende Fähigkeiten der Kommunikation wie Moderieren und Argumentieren eingeübt (Prengel 2016). Intensiv erprobt und ausführlich dokumentiert ist das bereits erwähnte Konzept Kinderstube der Demokratie, bei dem sich Institutionen der Kindertagesbetreuung an Prinzipien demokratischer Praxis, allen voran der öffentlichen Beratung aller überindividuellen Themen, ausrichten. Aktives, selbstbestimmtes (Mit-)Gestalten und (Mit-)Handeln wird durch ein Ämtersystem fest im Alltag integriert. Pädagogische Fachkräfte nehmen den Kindern die vielfältigen Alltagsaufgaben und -probleme nicht ab, sondern bieten diese in Form von Ämtern an. Zum Beispiel sind die „Maltisch-Chefs“ für Themen rund um das Malen verantwortlich (Knauer u. a. 2012). In diesem Ansatz müssen sich pädagogische Fachkräfte nicht erst anlassbezogen, sondern bereits im Vorfeld die Frage stellen, an welchen täglichen Aufgaben und Fragen sie Kinder beteiligen können. Das kann die Fachkräfte im Alltag entlasten und macht die Mitbestimmung dann selbstverständlicher, weil sie bereits fest vorgesehen ist. Die Herausforderung, Kindern ihr Recht auf Beteiligung möglichst weitgehend zu gewähren, wird so geringer. Die verschiedenen Ansätze schließen sich dabei nicht gegenseitig aus. Auch die Kinderstube der Demokratie kennt offene und projektbezogene Beteiligung. 332 uj 7+8 | 2018 Frühe politische Bildung Inklusion und Vorurteilsbewusstsein als Vorbedingung demokratischer Beteiligung Bisher sind wir selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Beteiligung gleichberechtigt für alle Kinder möglich sein muss. Allerdings bringen bereits junge Kinder unterschiedliche Beteiligungsvoraussetzungen mit. Dazu gehört, dass sie mit Erwartungen, Normierungen und Vorurteilen aufwachsen, die wir alle durch unbewusste Interpretationen und Zuschreibungen im alltäglichen zwischenmenschlichen Miteinander reproduzieren. Wir schreiben diesen Erwartungen ihren Wahrheitsgehalt, ihre Legitimation und ihre Macht oft aufgrund angeblich natürlicher, in Wirklichkeit aber gesellschaftlicher Verfasstheit zu. Dieser Mechanismus ist aller menschlichen Interaktion zu eigen. Wir können keine Vorurteilsfreiheit herstellen. Es ist aber möglich, eine inklusive und vorurteilsbewusste Grundhaltung auszubilden, in der individuelle Vorurteile, Vorannahmen sowie Normsetzungen und Erwartungen sichtbar gemacht und in Frage gestellt werden. Bei vorurteilsbewusster Arbeit werden wir uns unserer eigenen Befangenheiten bewusst, benennen offen, in welche Schubladen wir kategorisieren und zuordnen, und berücksichtigen dies in Arbeitsprozessen und Entscheidungen. Inklusion bedeutet, dass alle Personen einzig aufgrund ihrer Existenz das Recht haben, gleichberechtigt an gesellschaftlichen Prozessen partizipieren zu dürfen. Wenn Beteiligung in der Kindertagesbetreuung tatsächlich demokratisch sein soll, muss sie sich auch auf dieses Leitbild einer inklusiven und vorurteilsbewussten Gesellschaft beziehen. Diese ist so strukturiert, dass keine Person mehr oder weniger Privilegien genießt. Geschlechtliche Identitäten, Herkunft, Alter, Körperformen, Bildung, sozio-ökonomischer Status, Behinderungen und ähnliche Unterschiede werden in einer inklusiven Gesellschaft nicht mit einem Sonderstatus verknüpft, der in Machtverlust oder Machtzunahme resultieren könnte. Dadurch können keine Personengruppen definiert werden, die der Mehrheitsgesellschaft angepasst werden müssten. Bereits benannt wurde, dass jüngere Kinder möglicherweise mehr Unterstützung von Erwachsenen brauchen, um ihre Beteiligungsmöglichkeiten gleichberechtigt wahrnehmen zu können. Ähnlich gilt im Blick auf Kinder mit Behinderungen (auch mit sogenannten Schwerstmehrfachbehinderungen), dass der Erfolg der Arbeit von deren Niedrigschwelligkeit und Barrierefreiheit abhängt. Nur aus einer inklusiven und vorurteilsbewussten Grundhaltung heraus kann eine demokratische Interaktion und Beteiligung auch für Kinder gelingen, die hierfür Hürden zu nehmen haben. Nur wenn alle Kinder sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten einbringen können und die Handhabe bekommen, ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse darzulegen, ist Beteiligung umfassend und gleichberechtigt. Mithin sind Inklusion und Vorurteilsbewusstsein Vorbedingung demokratischer Teilhabe in der Kindertagesbetreuung. Beteiligung und Familie Kinder können Demokratie als Lebensform und eine positive Haltung zum demokratischen Gemeinwesen dann am leichtesten als Normalität erfahren, wenn sie auch außerhalb von Kindertageseinrichtungen oder Kindertagespflegestellen Demokratiebildung erleben. Familien tragen nach wie vor die Hauptverantwortung für die Erziehung der Kinder, auch wenn Betreuungsquote und Aufenthaltsdauer in der Kindertagesbetreuung wachsen. Familien sollten daher über den dort verfolgten Ansatz informiert sein. Im Idealfall ist Demokratiebildung in die Erziehungspartnerschaft eingebettet und sind die Familien in Initiativen zur Demokratiebildung von Anfang an einbezogen. 333 uj 7+8 | 2018 Frühe politische Bildung Auch in der Familie können Kinder erleben, dass sie Entscheidungen beeinflussen, von denen sie betroffen sein werden; auch dort können sie einüben, sich gewaltlos auf die Suche nach Kompromissen in Interessenkonflikten zu machen - oder eben nicht. Autoritäre Erziehungsstile zu Hause können den beteiligungsorientierten Alltag in der Kindertagesbetreuung daher in Frage stellen. Denn auch, wenn Kinder grundsätzlich schnell in der Lage sind, mit unterschiedlichen Regeln an verschiedenen Lebensorten kompetent umzugehen, lebt Demokratiebildung doch letztlich von einer Vielzahl handlungskompetenter Vorbilder. Wie in allen anderen relevanten Fragen sind Familienkulturen in hohem Maß individuell. Im Blick auf Demokratiebildung ist ein breites Spektrum denkbar, auf dem viele Ansichten nicht von vornherein mit Demokratie als Lebensform kompatibel sind. So können Familien dieser etwa indifferent gegenüberstehen, bisher wenig Erfahrung mit Teilhabe gemacht haben, das Kinderrecht auf Beteiligung zugunsten von Gehorsam und Disziplin ablehnen oder gar selbst die Abwertung einzelner Kinder und ihrer Familie betreiben (Institut für den Situationsansatz/ Fachstelle Kinderwelten 2016). Im Sinne des Kinderrechts sollten pädagogische Fachkräfte und Kindertagespflegepersonen die Familien daher nicht nur in die Ent- und Weiterentwicklung des Teilhabekonzepts einbinden, sondern auch auf Möglichkeiten aufmerksam machen, Demokratiebildung im Familienalltag fortzusetzen, und dafür werben. Im Bedarfsfall muss deutlich gemacht werden, dass die vorurteilsbewusste Gleichberechtigung der Kinder in der Einrichtung oder Kindertagespflegestelle außer Frage steht und anderweitige Äußerungen keinesfalls hingenommen werden (für einige Wohlfahrtsverbände vgl. AWO u. a. 2017). Kindertagesbetreuung kann so sozialräumlich gerade denjenigen Familien Orientierung bieten, die bisher wenig Gelegenheit hatten, eine demokratische Familienkultur auszubilden. Diesen Austausch sensibel, wirksam und im Sinne der Kinder zu gestalten, erfordert, ➤ dass ein Konzept dafür, wie die Beteiligungsrechte der Kinder umgesetzt werden sollen, mit Familien gemeinsam entwickelt und dabei auch auf Teilhabehindernisse geachtet wird; ➤ dass dieses Konzept im ständigen Dialog miteinander überprüft und angepasst werden kann; ➤ dass pädagogische Fachkräfte und Kindertagespflegepersonen in der Folge über dieses Konzept einig sind, darüber aufklären und es auch bei Kritik vertreten können; ➤ dass Fachkräfte Kenntnisse über die familiale Lebenswelt der Kinder haben und dieser wertschätzend gegenüberstehen; ➤ dass diese auch einschätzen können, wie beteiligungsorientiert Familien ihren Kindern begegnen, und mit diesem Wissen auf Widersprüche der Familien und Fragen der Kinder antworten können; ➤ nicht zuletzt zeitliche und finanzielle Ressourcen, erstens zum fachlichen Austausch und gegebenenfalls der Fortbildung im Vorfeld, zweitens zur Ausarbeitung und Einrichtung von Beteiligungskonzepten und drittens für die erforderliche Arbeit mit den Eltern. Wege zu mehr Beteiligung Bereits jetzt machen es fehlende Ressourcen zu einer großen Herausforderung, den vielfältigen Anforderungen an die frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung gerecht zu werden. Auch bei bestehendem Willen, das Kinderrecht auf Mitbestimmung zu verwirklichen und Demokratiebildung zu ermöglichen, kann es als zusätzliche Herausforderung erscheinen, im vielerorts durchstrukturierten Alltag, den festen und ritualisierten Abläufen, Raum für Beteiligung zu schaffen. Es kommt auf die Bereitschaft der gesamten Kindertageseinrichtung (des Trägers, der Kita-Leitung und des Teams) 334 uj 7+8 | 2018 Frühe politische Bildung oder der Kindertagespflegeperson an, Grundsätze der Mitbestimmung in ihrer pädagogischen Arbeit umzusetzen. ➤ Der erste Schritt ist, dass diese gemeinsam entscheiden, die schon stattfindende Mitbestimmung von Kindern auszubauen. Praxisnahe Literatur bietet Hansen/ Knauer 2015. Insbesondere für die Wohlfahrtsverbände werden gute Beispiele und hilfreiche Informationen auch durch das vom Bundesfamilienministerium geförderte Projekt „Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung“ (Übersicht unter www.duvk.de) gesammelt. ➤ Darauf folgt die Selbstreflexion des Teams/ der Kindertagespflegeperson über diese stattfindende Beteiligung, die eigene Haltung dazu und bleibende Entwicklungsmöglichkeiten. Wie für alle (Team-)Entwicklungsprozesse empfiehlt sich auch hier eine externe Begleitung. So kann etwa bei Interesse am Konzept „Kinderstube der Demokratie“ eine Multiplikatorin oder ein Multiplikator kontaktiert werden, die auf der Website des Projekts benannt werden. ➤ Die Ergebnisse dienen als Grundlage für die Planung von Zielen und nächsten Schritten. ➤ Über diese geplanten Schritte werden die Kinder und ihre Familien informiert und es wird aufgezeigt, wie sie sich einbringen können. Unabhängig davon, welche Schritte genau beschlossen wurden, wird bei der Umsetzung sichtbar, an welcher Stelle im Alltag Raum für Mitbestimmung gefunden werden kann. Einzelne Maßnahmen, wie ein Mitspracherecht der Kinder beim nächsten Spielzeugkauf oder die Mitbestimmung bei der Raumgestaltung, können als erste Bausteine dienen. Sie erlauben den pädagogischen Fachkräften und Kindertagespflegepersonen, die Kinder dabei zu unterstützen, ihre Interessen und Bedürfnisse zu artikulieren. ➤ Ein vorläufiges Ziel in diesem Prozess kann sein, eine Beteiligungsstruktur (wie ein Kinderparlament) dauerhaft und mit verbindlichen Mitbestimmungsrechten einzurichten. Die Herausforderungen und Prozesse jeder Einrichtung und Kindertagespflegestelle sind dynamisch und verändern sich täglich. Regelmäßige Abstimmungen und eine Möglichkeit der gemeinsamen Reflexion im Team oder mit anderen Kindertagespflegepersonen helfen, die Entwicklungsfortschritte und bleibende Herausforderungen für alle sichtbar zu machen. Auch im Rahmen der täglichen Arbeit können die Willensäußerungen der Kinder sensibel wahrgenommen und in der Interaktion berücksichtigt werden. Die Kinder erleben sich als selbstwirksam, wenn sie ihren Beitrag bei der Gestaltung der Gemeinschaft erkennen können. Demokratiebildung wird überall dort begünstigt, wo Erwachsene Handlungs- und Entscheidungsräume für Kinder didaktisch und methodisch eröffnen und begleiten. Ansprechpartnerin für die AutorInnengruppe: Nicole Tappert Koordinierungsstelle „Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung“ E-Mail: nicole.tappert@agj.de 335 uj 7+8 | 2018 Frühe politische Bildung Literatur AWO Bundesverband e.V., Deutscher Caritasverband e.V. Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e.V., Diakonie Deutschland - Evangelischer Bundesverband, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (Hrsg.) (2017): Miteinander gegen Hass, Diskriminierung und Ausgrenzung. Eine Handreichung der Wohlfahrtsverbände zum Umgang mit Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. 2. Aufl. In: https: / / www.caritas.de/ cms/ contents/ ca ritas.de/ medien/ dokumente/ fachthemen/ kinderund-jugendlic/ handreichung-miteina/ web_handrei chung_miteinander_gegen_hass.pdf? d=a&f=pdf, 1. 3. 2018 Bundesjugendkuratorium (2017): Demokratie braucht alle. Thesen zu aktuellen Herausforderungen und zur Notwendigkeit von Demokratiebildung, München. In: https: / / www.bundesjugendkuratorium.de/ as sets/ pdf/ press/ BJK_Thesenpapier_Demokratie.pdf, 1. 3. 2018 Danner, S. (2012): Partizipation von Kindern in Kindergärten. Hintergründe, Möglichkeiten und Wirkungen. Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (22 - 24), 40 - 45 Der Paritätische Brandenburg, LV (2013): Partizipation in Kindertagesstätten am Beispiel der Kita Sonnenschein Potsdam. In: http: / / www.kijubb.de/ Wissen.php, 6. 2. 2018 Hansen, R., Knauer, R. (2015): Das Praxisbuch: Mitentscheiden und Mithandeln in der Kita. Wie pädagogische Fachkräfte Partizipation und Engagement von Kindern fördern. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Hansen, R., Knauer, R., Sturzenhecker, B. (2011): Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern. das Netz, Berlin Institut für den Situationsansatz, Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2016): Die Zusammenarbeit mit Eltern vorurteilsbewusst gestalten. Was mit Kindern, Berlin Knauer, R., Sturzenhecker, B., Hansen, R. (2012): Mitentscheiden und Mithandeln in der Kita. Gesellschaftliches Engagement von Kindern fördern. 2. Aufl. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Prengel, A. (2016): Bildungsteilhabe und Partizipation in Kindertageseinrichtungen. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, WiFF Expertisen Band 47, München Rehmann, Y. (2016): Partizipation in der Krippe. In: Knauer, R., Sturzenhecker, B. (Hrsg.): Demokratische Partizipation von Kindern. Beltz Juventa, Weinheim, 132 - 156 Richter, E., Lehmann, T., Sturzenhecker, B. (2017): So machen Kitas Demokratiebildung. Empirische Erkenntnisse zur Umsetzung des Konzepts „Die Kinderstube der Demokratie“. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel Richter, E., Richter, H., Sturzenhecker, B., Lehmann, T., Schwerthelm, M. (2016): Bildung zur Demokratie. Operationalisierung des Demokratiebegriffs für pädagogische Institutionen. In: Knauer, R., Sturzenhecker, B. (Hrsg.): Demokratische Partizipation von Kindern. Beltz Juventa, Weinheim, 107 - 129 Sturzenhecker, B., Knauer, R. (2016): Bildung und demokratisches gesellschaftliches Engagement. Kita aktuell spezial 4: Partizipation in der Kita, 139 - 141