unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art58d
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Zwischenruf: Alles Leben - Kinderschutz ist keine Randaufgabe
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Maria Kurz-Adam
In Hanya Yanagiharas wunderbarem Roman "Ein wenig Leben" erfahren wir etwas von den Folgen einer in gänzliches Schwarz getauchten Kindheit - den Zerstörungen, den unheilbaren körperlichen und seelischen Verletzungen, die ein Kind bis tief hinein in seine weitere Lebensgeschichte mitnehmen muss, wir erfahren etwas von den Hoffnungen, die trotz dieser Schwärze bestehen bleiben, den Möglichkeiten, den Freundschaften, der unzerstörbaren Möglichkeit zu lieben, zu trauern, sich den Menschen zuzuwenden. Ein wenig Leben bleibt also noch für das Kind, nach den Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch, auch wenn die Wunde bis zum Ende offen bleibt. Alles ist erzählt in diesem Buch, alles ist aufgeschrieben, alles Wissen über Hilfe und Nicht-Hilfe in der Kindheit könnte darin versammelt sein.
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386 unsere jugend, 70. Jg., S. 386 - 390 (2018) DOI 10.2378/ uj2018.art58d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zwischenruf: Alles Leben - Kinderschutz ist keine Randaufgabe (Ein Plädoyer für den Kinderschutz) von Maria Kurz-Adam Jg. 1961; Diplompsychologin und Autorin, ehemalige Leiterin des Stadtjugendamtes München In Hanya Yanagiharas wunderbarem Roman „Ein wenig Leben“ erfahren wir etwas von den Folgen einer in gänzliches Schwarz getauchten Kindheit - den Zerstörungen, den unheilbaren körperlichen und seelischen Verletzungen, die ein Kind bis tief hinein in seine weitere Lebensgeschichte mitnehmen muss, wir erfahren etwas von den Hoffnungen, die trotz dieser Schwärze bestehen bleiben, den Möglichkeiten, den Freundschaften, der unzerstörbaren Möglichkeit zu lieben, zu trauern, sich den Menschen zuzuwenden. Ein wenig Leben bleibt also noch für das Kind, nach den Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch, auch wenn die Wunde bis zum Ende offen bleibt. Alles ist erzählt in diesem Buch, alles ist aufgeschrieben, alles Wissen über Hilfe und Nicht-Hilfe in der Kindheit könnte darin versammelt sein. Aus der Sicht der Kinder- und Jugendhilfe, aus der Sicht der Medizin und Psychologie, aus der Sicht der Justiz muss darüber eigentlich nicht mehr geschrieben werden. Über die Geschichten schwarzer Kindheiten, die tausendseitige Akten, Bücher und Zeitungsartikel füllen. Die vielen Expertinnen und Experten, die in den Systemen des Kinderschutzes arbeiten, haben die Geschichten voller Leid und Elend, voller Monster und Nachtmahren, sie haben Gespenstergeschichten der Gewalt auf ihre Weise aufgeschrieben. Sie haben die Knochenbrüche, die Beschimpfungen, die nächtliche Angst, die sexuelle Gewalt, die sexuelle Verwahrlosung der Erwachsenen, die Demütigungen in ihren Akten verwahrt. Wissen ist genug da. Eigentlich wissen wir schon alles über die tägliche Gewalt. Wir kennen die Zahlen. 4.200 Kinder haben in Deutschland im Jahr 2017 schwere körperliche Gewalt erlebt, 13.539 Kinder waren im selben Jahr Opfer von sexueller Gewalt. Das sind die aktuellen Zahlen der Kriminalstatistik. Wir wissen, oft genug, auch etwas über den Mut, das Überleben, das Weiterleben der Kinder, die diese Schwärze erlebt haben. Muss darüber noch geschrieben werden, wie es ist, jenseits aller Worte einem Jungen oder einem Mädchen zu begegnen, der oder die das alles erlebt hat? Ihre eigentümliche Stärke, der unbändige Wille zu leben, die irgendwo in allen Verschüttungen noch gebliebene Freude am Spiel, an einem freundlichen Wort, diese kleine Weisheit, die entsteht, wenn du nicht völlig zerstört worden bist, etwas in dir weiterlebt? 387 uj 9 | 2018 Ein Plädoyer für den Kinderschutz In Deutschland ist in den letzten Jahren viel geschehen für den Schutz der Kinder. Gesetze wurden geändert oder neu geschaffen, Kooperationen wurden aufgebaut, Fachkräfte wurden eingesetzt, die für den Kinderschutz in den Kommunen zuständig sind, tragfähige Konzepte wurden entwickelt, Kriterien und Standards wurden gesetzt, um eine qualitätsvolle Kinderschutzarbeit zu leisten. Workshops und Fallwerkstätten sind mittlerweile an der Tagesordnung in den Fortbildungen der Jugendämter, der Familiengerichte, der Rechtsmedizin, der Verbände, der Kindertagesstätten und der Schulen. Kontrollen und Qualitätsentwicklungsprozesse sind institutionalisiert, es gibt Leitfäden, schriftliche Vereinbarungen, ganze Ordner füllen die Regale der Fachkräfte in den Allgemeinen Sozialen Diensten, in den Jugendämtern, an allen institutionalisierten Orten, an denen Kinder aufwachsen. Eine Fehler- und Lernkultur ist vielerorts gewachsen. Es ist viel geschehen im Kinderschutz, viel auf den Weg gebracht. Und weil so viel geschehen ist, scheint es nicht mehr notwendig, für diese Aufgabe des Kinderschutzes wieder und wieder einzutreten. Das Thema des Kinderschutzes scheint ausreichend bearbeitet zu sein, gut aufgehoben, zwischen den Deckeln der Aktenordner, der Handbücher und Leitfäden gut aufbewahrt. Aber etwas stört, immer noch, wie ein kleiner unablässiger Schmerz. Etwas quält ein wenig weiter, trotz all dieses Engagements, dieser Mühe. Würde sonst die Geschichte des Kindes in Hanya Yanagiharas Buch so berühren, so entsetzen, würde sie uns sonst so traurig und verstört zurücklassen? In Staufen in der Nähe von Freiburg hat die Polizei im vergangenen Jahr eine Verbrecherbande festgenommen, mehrere Männer, die Kindsmutter, die sich jahrelang an einem Kind, einem jetzt 9-jährigen Jungen, sexuell bedient haben, sie haben es verkauft, im Darknet angeboten, vergewaltigt, psychisch - vielleicht, wenn das gänzlich möglich ist - zerstört. In den Zeitungsberichten über die Gerichtsverhandlungen lese ich das Grauen, die Herabsetzungen, die Entwürdigungen des Kindes, den unfassbaren Sadismus der Erwachsenen, die Selbstverständlichkeit, mit der das alles geschehen ist im Kreis dieser Verbrecher. Als wäre der Missbrauch etwas, das zum Leben dazugehört. Und ich lese, dass die schwarze Geschichte dieser Kindheit eine Geschichte ist, die - vielleicht - jederzeit von den Behörden hätte beendet werden können. Viele Faktoren haben das verhindert - Fehler sind geschehen, der Missbrauch war gut versteckt hinter den Täuschungen der Erwachsenen, unterschiedliche Einschätzungen wurden getroffen, die Gerichte und Jugendämter waren sich nicht einig, auch wenn ein Verdacht immer da war, haben sie sich am Ende doch getäuscht und täuschen lassen. Wenn es eine Erklärung gäbe für die Täuschung, so war es vielleicht die Hoffnung der Fachkräfte, dass die Hilfeangebote und die Auflagen an die Kindsmutter irgendetwas bewirkten. Aber vielleicht gibt es auch, immer wieder aufs Neue, eine Anfälligkeit, eine systematische Deformation des professionellen Blicks in den Jugendämtern und den Gerichten, die gar nichts mit diesem besonderen Geschehen in Staufen zu tun hat, sondern wohl damit, dass wir einer bestimmten Vorstellung, einer sehr mächtigen Utopie von Kindheit immer wieder erliegen. Das Leid der Kinder droht auch dort, wo wir ihm wirklich begegnen, hinter unseren Vorstellungen moderner Kindheit zu verschwinden. Diese Kindheit besteht aus Freiheit und Bildung, aus Förderung, aus Stützung der Elternkompetenz, aus Netzwerken, aus komplexen Lebenswelten, die sich alle dem Ziel einer Utopie gelingenden Lebens unterordnen. In der Komplexität dieser modernen Kindheitsvorstellung verschwindet die Klarheit fachlichen Handelns. Es verstrickt sich in der Verworrenheit von Kindheitskonzepten, die das System der Gesetze, der Standards und der Checklisten im Kinderschutz immer noch bereithält. Alles wird bräsig, wie eine Reporterin des STERN schreibt. Am Ende war es ein anonymer Hinweis, mehr bedurfte es nicht, 388 uj 9 | 2018 Ein Plädoyer für den Kinderschutz der die wirkliche, die quälende schwarze Geschichte dieses Kindes hervorgebracht und beendet hat. Als wäre dieser Hinweis notwendig gewesen, etwas zu sehen, das wir nicht sehen wollen. Wir haben heute, immer noch, keinen Begriff einer Kindheit, in der diese Geschichten voller Schwärze einen wirklichen Raum finden. Immer noch gibt es etwas in unseren Kindheitsbildern, das wir nicht sehen wollen. Wir kapseln diese Geschichten schwarzer Kindheiten ab, in einen unberührbaren Bereich, der sich Einzelfall nennt. Wir ordnen diese Geschichten ein in Zahlenwerke - 250 missbrauchte Kinder pro Woche titelt die Süddeutsche Zeitung vom 5. Juni 2018. Wir inszenieren sie als Skandale, wir zäunen sie in der professionellen Arbeit ein in die Kategorie des „Falles“. Wir nennen solche Geschichten „den tragischen Einzelfall“, wir nennen sie, im Fachjargon der Expertinnen und Experten „Significant Cases“, vielleicht werden sie zu Lehrbeispielen an den Hochschulen, wie Kinderschutz gelingt, wie er misslingt, was daraus zu lernen wäre. Unser Bild von Kindheit ist kaum getrübt von diesen Erfahrungen der Schwärze. Unsere Bilder von Kindheit werden von einer Utopie getragen, einem Rousseauschen Entwurf einer freien und offenen Lebenszeit, der im Begriff der „eigenständigen Kindheit“ mündet. Diese Utopie einer eigenständigen Lebensphase, von der Soziologie mit großer wissenschaftlicher Gewissheit immer wieder vorgetragen, zeichnet ein Bild von Kindheit, die - unter dem Schutz der Erwachsenen-Gesellschaft - sich selbst zu entwickeln vermag, sie hat eigene Aufgaben, eigene Formen des Zugangs zur Welt, ihr eigenes Zeitverständnis, ihre eigenen Möglichkeiten, sich die Welt und alles, was darin geschieht, in diesem Kosmos der Kindheit anzueignen. Kindheit heute ist vielfältig, komplex, ein offenes Gebiet, auf eine Weise oft ein so schöner utopischer Raum der Freiheit, dass selbst die nüchterne Wissenschaft diesem Ideal zuweilen erliegt. Begleitet wird dieses Bild, diese Utopie einer eigenständigen Kindheit, von zahlreichen Diskursen, die diese Lebensphase noch zugänglicher, verständlicher, schöner, gelingender, erfolgreicher machen sollen. Erziehungsratgeber füllen die Wände der Buchhandlungen und der Bibliotheken und beschreiben die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, zwischen Erwachsenenleben und Kindheitsleben immer wieder neu, immer wieder unter einem anderen Aspekt. Grenzen, Aushandlung, Konzentration, Beteiligung, Förderung, Nähe, Respekt, Kompetenz sind die Begriffe, um die die Ratgeber kreisen. Was sollen wir tun für diese schöne Kindheit, was können wir besser machen? Wie werden wir, wie werden unsere Kinder noch glücklicher, noch kompetenter, noch gelungener? Die Schule läuft nicht so, das Mädchen mag nicht essen, immerzu zappelt der Junge herum, Einschlafen ist nicht leicht, beim Rechnen hat er große Probleme, vielleicht Dyskalkulie? Oder Hochbegabung? Warum nicht? Es gibt doch so viele Erklärungen, so viele Diagnosen, Möglichkeiten der Einordnung, der Entlastung, der Zuständigkeiten, der Hilfe. In der wissenschaftlichen Welt beherrscht heute vor allem das Thema der Bildung den Diskurs über Kindheit. Bildung ist das Thema der Moderne, das Versprechen einer Weiterentwicklung, einer Verbesserung der Lebensbedingungen. Bildung ist immerzu Aufbruch und Zukunft, sie ist zum Schlüsselbegriff geworden, der die Lebensphase der Kindheit durchzieht. Wie müssen Konzepte früher Förderung aussehen, damit Kinder erfolgreich im Schulsystem bestehen können? Wie soll Bildung organisiert sein, in der Kommune, bundesweit, damit Kinder und Jugendliche in den Bildungsinstitutionen wachsen können und sich zurechtfinden können, ohne auf dem Weg ins Erwachsenenleben verloren zu gehen? Bildung ist Chance, Erfolg, aufgeklärte Moderne, politische Bühne, Wahlkampfthema. Im Bildungsdiskurs hat die Schwärze der Erfahrungen von Kindern heute keinen Platz. Sie stört das Bild der Aufklärung. Das Leid wird zur Ausnahme, zum Einzelfall, 389 uj 9 | 2018 Ein Plädoyer für den Kinderschutz zum tragischen, furchtbaren Geschehen, ein Roman vielleicht, eine kurze öffentliche Empörung, eine vorübergehende Verstörung, die bald wieder gut eingekapselt wird in den einen, den entdeckten Fall, für den andere Zuständigkeiten gelten. Kinderschutzfälle, ob sie nun in den Romanen erzählt werden, in den Zeitungen ausgebreitet werden, in den Akten der Jugendämter und Familiengerichte aufgeschrieben werden, sind Randgeschichten unserer Gesellschaft. Sie sind selten zu sehen. Sie sind Randgeschichten von Kindheit, die wenig mit dem zu tun haben, was wir heute über Kindheit denken und wissen wollen, zu extrem, zu spezifisch, zu einzigartig, zu abgeschlossen. Vorherrschend ist die Utopie einer gelingenden Kindheit, die wir uns alle doch so sehr wünschen. Und dieser Utopie folgt die gängige Argumentation der Wissenschaft und der Politik, wenn wieder ein „Fall“ an die Oberfläche gespült wird. Wie ein großer, nie zu erfüllender Wunsch wird diese Argumentation vorgetragen. Der großen Mehrheit der Kinder in Deutschland gehe es gut, sie würden behütet aufwachsen, sie würden Zugang zu Bildung haben. Die meisten Kinder, so ist zu lesen in einem jüngst erschienenen Buch von Klaus Hurrelmann über Kindheit heute, hätten Freundschaften zu Gleichaltrigen, die meisten von ihnen müssten nicht in Armut aufwachsen, sie bekämen Wünsche erfüllt und dürften Wünsche äußern. Kinder seien in der Mehrzahl sozial kompetent, sie könnten teilhaben, mitsprechen, mitgestalten, zumindest ihre nächste Umgebung. Diese Kindheit, gefüllt mit Kompetenz, Ratgebern, Bildungschancen, ist es, die wir als Maßstab nehmen, um Kindheit heute zu bebildern und zu beschreiben. Aber diese Kindheit ist völlig verschieden und abgetrennt von der des missbrauchten 9-jährigen Jungen, von der der missbrauchten Schüler in einem vielgelobten Reforminternat, von der eines verhungerten Mädchens in einer Großstadt. Diese Kindheit hat mit der Kindheit der aufgeklärten Moderne nichts zu tun. Sie ist wie ein lebendes Fossil, etwas, das es gibt und doch nicht mehr zu uns hochentwickelten Wissenden gehört. Wir Hochentwickelten können differenzieren, einordnen, abgrenzen, ausschließen. Wir bilden Mehrheiten und Minderheiten, Ränder und Zentren. Wir wissen, nehmen zur Kenntnis, teilen die Aufgaben auf, ordnen zu, wir trennen die Probleme ab und isolieren sie, um sie zu bearbeiten. Aber diese Isolation schwarzer Kindheiten in Fälle, die es in so großer Zahl immer noch, immer wieder, unablässig unter uns gibt, von denen wir hören, lesen, manchmal sogar in unmittelbarer Nähe betroffen sind (vielleicht haben wir sie sogar selbst erlebt? ), bewirkt etwas. Diese Isolation in die Kategorie des Falles, des einen tragischen Geschehens, trennt nicht nur die Welten von Kindheit, sondern sie trennt auch diejenigen, die diese Geschichten erleben, von den anderen Welten der Kindheitsdiskurse, den Bildungs- und Ratgeberdiskursen ab. Sie trennt auch diejenigen, die in ihrem professionellen Alltag diesen Geschichten von Missbrauch und Gewalt begegnen und sie sehen und beenden müssen, von all den anderen mächtigen Ideen von Kindheit ab. Sie verweist den Kinderschutz an den Rand, dort, wo wir die Geschichten des Missbrauchs und der Gewalt hin verweisen. In der Welt des Kinderschutzes ist das Arbeiten, auch wenn es als Kooperation organisiert ist, ein Randgeschäft. Es ist ein einsames Geschäft, umgeben von Urteilen, Täuschungen, hohem Gestrüpp von Unsicherheiten. Im Schatten der gesellschaftlichen und der wissenschaftlichen Utopie von Kindheit arbeiten die Erzieherinnen und Erzieher, die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die Juristinnen und Juristen, die Ärztinnen und Ärzte an den Rändern dessen, was die Gesellschaft von Kindern verstehen will, wie sie ihre Kinder sehen will, was sie ihnen zubilligen möchte. Die Rechtsprechung tut ihr Übriges, um die Unsicherheiten bestehen zu lassen - in der Frage dessen, was das Kindeswohl heute zu bedeuten hat, bleibt fast alles im Vagen, 390 uj 9 | 2018 Ein Plädoyer für den Kinderschutz manchmal nahezu grotesk unbestimmt, der Vielzahl und der Macht vorherrschender Definitionen ausgesetzt. Und so vergeht die Zeit, dort, an den Rändern, an denen die Begriffe für das fehlen, was den Kindern dort geschieht. Die Hilfe im Kinderschutz ist Hilfe für Überlebende, die die Narben ihr Leben lang tragen. Der Weg zurück ins Leben ist lang, und auf diesem Weg bleibt die Grenze zwischen den Lebenden und den Überlebenden unsichtbar und schmerzhaft bestehen. Das wissen die Fachkräfte, die an den Rändern der Kindheit arbeiten und den Kindern in der Wirklichkeit ihrer Kindheit helfen. Sie kennen das Gefühl, wie es ist, mit den Kindern, die so knapp davongekommen sind mit ihrem Leben, mit den Kindern, die sich - vermeintlich - gegen alles und jeden wehren, den Alltag zu verbringen. Sie wissen, wie es sich anfühlt, dieses mühevolle, zähe, geduldige Arbeiten mit den Kindern an der Grenze dessen, was gerade noch so zu ertragen ist - ihre Erfahrung von Gewalt, von Demütigung, von Nichtgesehenwerden. Ein einziges Mal weint die Sozialarbeiterin, die dem missbrauchten Kind in Hanya Yanagiharas Buch begegnet, und ihre Trauer ist die Wurzel ihrer Hilfe, weil sie sich dem lautlosen Verschwinden dieses Kindes in unserer schön gedachten Welt entgegenstellt und eine leise schimmernde Zukunft, ein wenig Leben, entwerfen kann. In einer Kolumne in einer Frauenzeitschrift lese ich etwas über Ratgeberliteratur zu Erziehungsfragen. Das ist sehr lustig geschrieben, die Autorin baut Erfahrungen mit ihren Kindern in die Geschichte ein und es endet mit dem tröstlichen Verweis darauf, dass Eltern nicht perfekt sein müssen, um gute Eltern zu sein, und Kinder nicht perfekt sein müssen, um eigenständige Kinder zu sein. Ich sehe förmlich die schöne Wohnung der Autorin vor mir, den Blick in den Garten, die Schaukel, die beiden Autos, mit denen der Alltag organisiert wird, das Herumfahren zu Sportvereinen, zum Tanzen, zu Geburtstagsfeiern. Dieses Versprechen für die Zukunft: Euch geht es gut, euch wird es gut gehen, eure Zeit ist sicher. Das lesen wir, wir freuen uns, es passt in unser Bild, unser Konzept von dem, wie wir Kindheit ausmalen. Gibt es Verbindungen zwischen diesen Welten - den Elendsgeschichten und den guten Geschichten über Kinder und ihre Kindheit? Und wenn es sie gibt, wie könnten sie aussehen, wie beschrieben werden? Die Geschichte des Kindes in der Nähe von Freiburg hat es verdient, mehr zu sein als nur eine weitere Fallgeschichte. Alle Geschichten schwarzer Kindheiten heute haben es verdient, mehr zu sein als bloße Fälle, Fälle des Scheiterns, der Fehler, der Täuschungen, der Unsicherheiten, der Risiken, des Misslingens und des Gelingens von Hilfe. Denn an diesen Geschichten ist zu lernen, dass es in unserem Bild von Kindheit keine getrennten Welten, keine getrennten Diskurse geben darf. Die Geschichten dieser Kinder, die wir „Kinderschutzfälle“ nennen, sind keine Fälle. Sie sind auch die Wirklichkeit, heute, jetzt. Und sie erzählen uns etwas darüber, wie wir Kindheit sehen wollen und wie wir mit diesem Bild von Kindheit Trennungen und Ausgrenzungen vornehmen. Aber Kindheit ist Wirklichkeit, darin ist alles Leben. Und jedes verlorene Leben darin, jede verschwendete Sekunde, Minute, Stunde, jedes verlorene Jahr an die Schwärze von Erfahrungen ist es wert, unendlich betrauert zu werden. Ohne diese Trauer sehen wir nichts, ohne diese Trauer entsteht kein Wille und kein Weg, sich der Schwärze von Kindheiten entgegenzustellen. Wenn wir alles Leben haben wollen, dann ist Kinderschutz mehr als nur ein professioneller, sauber abgetrennter Diskurs an den Rändern des Aufwachsens. Kinderschutzarbeit muss mehr sein als ein in Fälle isoliertes Geschäft. Die Menschen, die dafür arbeiten, verdienen Achtung und Wertschätzung. Sie sind dafür da, alles Leben zu ermöglichen. Maria Kurz-Adam E-Mail: kurz.adam@t-online.de
