eJournals unsere jugend 70/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2018.art59d
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Rezension: Thomas Trenczek/Brigitta Goldberg (2016): Jugendkriminalität, Jugendhilfe und Strafjustiz. Mitwirkung der Jugendhilfe im strafrechtlichen Verfahren

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Annemarie Schmoll
Diana Willems
Thomas Trenczek/Brigitta Goldberg (2016): Jugendkriminalität, Jugendhilfe und Strafjustiz. Mitwirkung der Jugendhilfe im strafrechtlichen Verfahren Richard Boorberg Verlag, München, 560 Seiten, € 68,-
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uj 9 | 2018 391 Rezensionen Ausgangspunkt des 2016 erschienenen Handbuchs und Kommentars „Jugendkriminalität, Jugendhilfe und Strafjustiz. Mitwirkung der Jugendhilfe im strafrechtlichen Verfahren“ von Thomas Trenczek und Brigitta Goldberg ist das Verhältnis von Jugendhilfe und Strafjustiz, das - so das Autorenteam in seinem Einführungskapitel (1) - zumeist als Spannungsverhältnis beschrieben wird. Trotz der 1991 in Kraft getretenen Regelungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes mit dem Achten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB VIII) und der Novellierung des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) wurde den AutorInnen zufolge das Spannungsverhältnis nicht im Sinne eines einheitlichen Jugendrechts aufgelöst. So sei für diejenigen, die im Kooperationsfeld von Jugendhilfe und Strafjustiz tätig sind, davon auszugehen, dass sie ihre Aufgaben und Funktionen aufgrund der einerseits im Sozialrecht und andererseits im Strafrecht normierten Regelungen zu erfüllen hätten. Als explizit genannte Grundlage für das sehr sorgfältig erarbeitete Handbuch wird von den AutorInnen die - auch unseres Erachtens richtige - Überzeugung genannt, dass eine rationale Sozial-, Rechts- und auch Kriminalpolitik unabdingbar auf interdisziplinäre Erkenntnisse verschiedener Wissenschaftsdisziplinen fußen muss. Dementsprechend gliedert sich das Handbuch in zwei Teile: „Jugend und Delinquenz - Sozialwissenschaftliche Grundlagen“ (S. 25 - 154) und daran anschließend, als Schwerpunkt des Werkes, „Rechtliche Grundlagen der Mitwirkung der Jugendhilfe im gerichtlichen Verfahren“ (S. 155 - 478). Kapitel 2 befasst sich mit der Lebensphase Jugend, den besonderen Entwicklungserfordernissen, und den damit einhergehenden Herausforderungen im Hinblick auf „Jugend und Delinquenz“. Als Problemlagen werden innerfamiliäre Gewalterfahrungen, Schulabsentismus, mangelnde Bildungs- und Teilhabechancen, Armutsrisiko sowie intensiver Alkohol- und Drogenkonsum thematisiert. Auch dass riskantes, deviantes Verhalten als eine zu bewältigende generationstypische Entwicklungsaufgabe im Rahmen des Heranwachsens gesehen werden kann, wird ausführlich dargestellt und dient als Hinführung zum Schwerpunkt des ersten Teils „Jugendkriminalität - Fakten und Hintergründe“. Hier werden zunächst Grundzüge zu Jugenddelinquenz und Begriffsbestimmungen vorgestellt. Anschließend werden aktuelle Entwicklungen der Jugenddelinquenz im Hellfeld, auch differenziert nach Alter und Geschlecht, der Struktur und Qualität der Straftaten, sowie jugendtypische Motivationen dargestellt. Ein weiteres Augenmerk wird auf die Jugenddelinquenz im Dunkelfeld gelegt. Sodann befassen sich die AutorInnen mit ausgewählten Zielgruppen der Devianzpädagogik wie Kindern, Mädchen und jungen Frauen, mehrfach auffälligen und mehrfach belasteten jungen Menschen sowie jungen Menschen mit Migrationshintergrund - dem Publikationszeitpunkt geschuldet noch nicht mit jungen Geflüchteten, was allerdings in einer hoffentlich geplanten Fortschreibung sicher vorgesehen sein wird. Es folgt ein sehr gut verständlicher Überblick über Ursachen und Bedingungen der Jugenddelinquenz. Daran anschließend wenden sich die AutorInnen mit der Frage „What works, what doesn’t? “ den (strafrechtlichen) Sanktionen und anderen Interventionen zu, deren kriminalitätspräventiven (Nicht-)Wirkungen und welche unter ihnen als vielversprechend gelten. Es folgt ein Exkurs zur Kriminalitätsprävention, der sich u. a. kritisch mit diesem schillernden und gleichzeitig vagen Begriff auseinandersetzt. Thomas Trenczek/ Brigitta Goldberg (2016): Jugendkriminalität, Jugendhilfe und Strafjustiz. Mitwirkung der Jugendhilfe im strafrechtlichen Verfahren Richard Boorberg Verlag, München, 560 Seiten, € 68,- 392 uj 9 | 2018 Rezensionen Kapitel 3 mit dem Titel „Rechtliche Grundlagen der Mitwirkung der Jugendhilfe im gerichtlichen Verfahren“ beginnt mit der Darstellung der Zweispurigkeit der jugendrechtlichen Kontrolle: Dem Jugendhilferecht und dem Jugendstrafrecht. Die Divergenzen zwischen diesen beiden Rechtsbereichen und deren unterschiedliche Logiken und Grundsätze, aber auch die wechselseitigen Bezüge werden leicht verständlich dargestellt. Dies gibt auch den Weg für den weiteren Verlauf dieses Kapitels vor: So werden zuerst die sozialrechtlichen Grundlagen der Mitwirkung des Jugendamtes dargestellt (S. 164 - 298) und anschließend die jugendstrafrechtlichen Grundlagen (S. 299 - 442). Zunächst werden Ziele und Grundsätze des Jugendhilferechts erläutert und es wird der Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe beschrieben, bei dem es sich um eine originäre Aufgabe der Jugendhilfe handelt, die mit sozialpädagogischen Mitteln zu bewältigen ist. In diesem Zusammenhang wird richtigerweise konstatiert, dass weder die erstmalige noch die wiederholte Delinquenz zwangsläufig auf ein Erziehungsversagen der Eltern oder die Erfolglosigkeit einer sozialpädagogischen Intervention hinweist. Auch die wiederholte Begehung von nicht nur jugendtypischen Delikten kann zwar ein gewichtiger Anhaltspunkt für einen erzieherischen Hilfebedarf oder gar Anzeichen für eine Gefährdung des Kindeswohls sein, sie muss es jedoch nicht. Im Anschluss werden die wesentlichen sozialrechtlichen Verfahrensregeln und -grundsätze, insbesondere der Sozialdatenschutz, gut verständlich erläutert. Einen Schwerpunkt bilden anschließend die Inhalte der Mitwirkungsaufgaben der Jugendhilfe im Strafverfahren: Zunächst werden die leitungsorientierten Aufgaben in den Blick genommen und ausführlich dargestellt und sodann die verfahrensbegleitenden Aufgaben, auch mittels eines Abdrucks einer Arbeits- und Orientierungshilfe, verständlich erläutert. Der Abschnitt wird durch eine anschauliche Systemübersicht der Mitwirkung des Jugendamts im jugendstrafrechtlichen Verfahren abgerundet. Anschließend widmen sich die AutorInnen den „Jugendstrafrechtlichen Grundlagen der Mitwirkung der Jugendhilfe im Strafverfahren“. Im Abschnitt über den Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts wird im Rahmen des persönlichen Anwendungsbereichs sowohl auf die strafrechtlich verantwortlichen Jugendlichen als auch auf die nach Jugendstrafrecht behandelten Heranwachsenden eingegangen. Es folgen Ausführungen zu Zielen und Grundsätzen des Jugendstrafrechts (dabei ausführlich zum Erziehungs- und Subsidiaritätsgedanken). Daran anschließend wird das formelle Jugendstrafrecht dargestellt: Zuerst werden die unterschiedlichen Akteure sowie Beteiligten im Jugendstrafverfahren mit ihren jeweiligen Rechten, Aufgaben und Rollen erläutert. Es folgt ein Überblick über den Ablauf des Jugendstrafverfahrens, über die Verfahrensgrundsätze sowie die im JGG geregelten Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens. Auch hier arbeiten die AutorInnen zur besseren Verständlichkeit mit anschaulichen Schaubildern zum Erkenntnisverfahren, zur Sitzordnung, zum Ablauf der Hauptverhandlung und zum Aufbau der Jugendgerichtsbarkeit sowie dem Instanzenzug. Schließlich wird auf die jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgen eingegangen. Nach einer kurzen sortierenden Übersicht über die Sanktionen nach dem JGG werden die Möglichkeiten der Diversion, allerdings begrenzt auf solche nach §§ 45, 47 JGG, vorgestellt. Es schließen sich vertiefte Ausführungen zu den nicht freiheitsentziehenden, zumeist ambulanten Maßnahmen sowie zu den Folgen von deren Nichterfüllung an. Der Abschnitt zu den freiheitsentziehenden Sanktionen beginnt mit den verschiedenen Formen des Jugendarrests und beleuchtet diesen, auch angesichts der hohen Rückfallraten, kritisch. Im Abschnitt zur Jugendstrafe setzen sich die AutorInnen - ebenfalls zu Recht - kritisch mit den Begriffen der „schädlichen Neigungen“ und der „Schwere der Schuld“ auseinander. Auch der Vollzug der Jugendstrafe sowie die Grundsätze der Vollzugsgestaltung werden gut verständlich erläutert. Erfreulicherweise geht das AutorInnenteam anschließend auch auf die registeruj 9 | 2018 393 Rezensionen rechtlichen Folgen für junge Menschen und auf die sich aus den Verurteilungen möglicherweise ergebenden aufenthaltsrechtlichen Folgen für ausländische junge Menschen ein. Der darauffolgende Abschnitt befasst sich mit den Konsequenzen der Zweispurigkeit der jugendrechtlichen Sozialkontrolle für die Kooperation von Jugendhilfe und Strafjustiz und zeigt Wege einer professionellen Zusammenarbeit auf. Gerade hier wird deutlich, in welchen Spannungsverhältnissen sich die Jugendhilfe im Strafverfahren befindet. Das Handbuch endet mit dem Abschnitt „Strafe, Erziehung oder Hilfe - Resümee und Ausblick“ eher kritisch und nachdenklich und betont erneut die Notwendigkeit der Kooperation der Disziplinen, insbesondere die von Strafjustiz und Jugendhilfe. Besonders hervorzuheben sind bei diesem Handbuch und Kommentar die sehr umfangreich herangezogene Literatur sowie explizite Hinweise auf weiterführende Quellen. Auch der gut lesbare Stil sowie die Schaubilder und Grafiken machen es zu einem gelungenen Werk. Das im Vorwort genannte Ziel des Handbuchs - die sozialwissenschaftliche und juristische Perspektive transdisziplinär zu verknüpfen - wird vollumfänglich durch dieses Werk, das bei keinem in diesem Bereich Tätigen in der Handbibliothek fehlen sollte, erfüllt. Annemarie Schmoll E-Mail: schmoll@dji.de Dr. Diana Willems E-Mail: willems@dji.de DOI 10.2378/ uj2018.art59d