eJournals unsere jugend 71/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Unbegleitete Minderjährige in Deutschland

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2019
Julian Tangermann
Paula Hoffmeyer-Zlotnik
Im Rahmen der verstärkten Fluchtzuwanderung kamen in den Jahren 2015 und 2016 mehr unbegleitete Kinder und Jugendliche nach Deutschland als je zuvor. Der vorliegende Überblicksartikel beleuchtet die sie betreffenden rechtlichen Regelungen, stellt aktuelle Statistiken dar und geht auf Maßnahmen und Herausforderungen bei ihrer Unterbringung, Versorgung und Betreuung ein.
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20 unsere jugend, 71. Jg., S. 20 - 28 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art04d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Unbegleitete Minderjährige in Deutschland Statistische Daten, rechtliche Regelungen, Maßnahmen und Herausforderungen Im Rahmen der verstärkten Fluchtzuwanderung kamen in den Jahren 2015 und 2016 mehr unbegleitete Kinder und Jugendliche nach Deutschland als je zuvor. Der vorliegende Überblicksartikel beleuchtet die sie betreffenden rechtlichen Regelungen, stellt aktuelle Statistiken dar und geht auf Maßnahmen und Herausforderungen bei ihrer Unterbringung, Versorgung und Betreuung ein. von Julian Tangermann Jg. 1987; M A Research Migrationsgeschichte, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der deutschen nationalen Kontaktstelle des Europäischen Migrationsnetzwerks (EMN) In gesellschaftlichen und politischen Diskussionen zum Umgang mit Fluchtmigration steht die Gruppe der minderjährigen Geflüchteten, die unbegleitet nach Deutschland eingereist sind, häufig im Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese unbegleiteten Minderjährigen (UM) werden - im Unterschied zu minderjährigen Geflüchteten, die mit ihren Eltern einreisen - im Regelsystem der Jugendhilfe betreut, versorgt und untergebracht. Auch gelten für sie spezielle Garantien im Asylverfahren und bis zur Volljährigkeit sind die rechtlichen und praktischen Hürden für eine Abschiebung sehr hoch. In den Jahren 2015 bis 2016 kamen in kurzer Zeit so viele UM in die EU wie nie zuvor. Deutschland war dabei eines der Hauptzielländer. Dies stellte die Regelstrukturen der Unterbringung, Versorgung und Betreuung vor eine besondere Belastungsprobe. Gleichzeitig sind seit 2015 in diesem Bereich überall in Deutschland neue Konzepte entwickelt und Strukturen geschaffen worden. Dieser Artikel basiert auf der Studie „Unbegleitete Minderjährige in Deutschland - Herausforderungen und Maßnahmen nach der Klärung des aufenthaltsrechtlichen Status“, die im Rahmen der Arbeit der deutschen nationalen Kontaktstelle des Europäischen Migrationsnetzwerks (EMN) beim Forschungszentrum Migration, Integration, Asyl des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erstellt wurde. Analoge Studien wurden in 26 weiteren europäischen Staaten durchgeführt und die Ergebnisse in einem vergleichenden Synthesebericht zusammengefasst (EMN 2018). Paula Hoffmeyer-Zlotnik Jg. 1990; MSc EU Politics, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der deutschen nationalen Kontaktstelle des Europäischen Migrationsnetzwerks (EMN) 21 uj 1 | 2019 Unbegleitete Minderjährige Unbegleitete Minderjährige zwischen Aufenthaltssowie Kinder- und Jugendhilferecht Definitionen und Begriffe Der Begriff „Unbegleitete Minderjährige“ wird im Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) rechtlich definiert: Ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher ist grundsätzlich dann als unbegleitet zu betrachten, wenn die Einreise nicht in Begleitung eines oder einer Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten erfolgt (§ 42 a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Zur Bezeichnung der Gruppe der Minderjährigen, die ohne Eltern nach Deutschland einreisen, werden in der Literatur sowie der praktischen Arbeit mit UM verschiedene Begriffe verwendet: unbegleitete Minderjährige (UM), unbegleitete ausländische Minderjährige (UAM) oder auch unbegleitete minderjährige Ausländer (UMA). Der Begriff unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF) beschreibt im juristischen Sinne nur diejenigen unbegleiteten Minderjährigen, die die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) erfüllen, wird teilweise aber bewusst breiter verwendet (u. a. BumF 2015; Noske 2015). Zwei Rechtsbereiche sind für UM von zentraler Bedeutung: Das Aufenthaltsrecht und das Kinder- und Jugendhilferecht. Als Drittstaatsangehörige gelten für sie die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) und ggf. des Asylgesetzes (AsylG); als noch nicht volljährige Personen, die sich ohne Personensorgeberechtigte in Deutschland aufhalten, sind sie von den Regelungen des SGB VIII betroffen, das die Kinder- und Jugendhilfe regelt. Diese beiden Rechtsbereiche verfolgen unterschiedliche Zielsetzungen, sodass häufig von einem „Spannungsverhältnis“ zwischen Kinder- und Jugendhilfe einerseits und Aufenthaltsrecht andererseits gesprochen wird (z. B. Parusel 2015): Während das primäre Ziel des Jugendhilferechts die Gewährung und Verwirklichung des Kindeswohls ist, regeln das Aufenthalts- und Asylrecht, wer sich aus welchen Gründen in Deutschland aufhalten darf und wer nicht. Diese Spannung hat insbesondere dann praktische Konsequenzen im Leben von UM, wenn bestimmte Teilhabe- und Entwicklungsmöglichkeiten von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und deren Bestimmungen abhängen. Dies betrifft beispielsweise den Zugang zu Integrationsmaßnahmen oder die aufenthaltsrechtliche Unsicherheit, die eintreten kann, falls eine Abschiebung bei Volljährigkeit perspektivisch infrage kommt. Dies kann für die Betroffenen sowohl in praktischer als auch in psychischer Hinsicht eine große Belastung darstellen und beispielsweise die Fähigkeit stark einschränken, sich auf schulische Aufgaben zu konzentrieren (von Nordheim u. a. 2017, 14), oder demotivierend wirken und dadurch zu schlechteren Leistungen führen (Lechner/ Huber 2017, 66). Das sog. Primat der Kinder- und Jugendhilfe bedingt, dass bei der Unterbringung, Versorgung und Betreuung von UM primär die Regelungen des SGB VIII greifen, wodurch UM jugendhilferechtlich nicht anders behandelt werden als andere gefährdete Kinder und Jugendliche auch. Bezüglich der Unterbringung, Versorgung und Betreuung von UM spielt es nur in wenigen Fällen eine Rolle, ob sie schon einen Aufenthaltsstatus erlangt haben und welche Beschränkungen die Aufenthaltserlaubnis aufweist. „In Deutschland sind, anknüpfend an die internationalen Rechtsvorschriften, bei Einreise von unbegleiteten Minderjährigen alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Kindeswohls 22 uj 1 | 2019 Unbegleitete Minderjährige im Rahmen des staatlichen Wächteramtes […] sicherzustellen. Leitgedanke dieses Gesetzes ist es, dass jeder junge Mensch in Deutschland ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat (§ 1 Abs. 1 SGB VIII)“ (BAG 2017, 11). Aufenthaltsrechtliche Möglichkeiten Als Drittstaatsangehörige benötigen UM für den Aufenthalt in Deutschland einen Aufenthaltstitel (§ 4 Abs. 1 AufenthG). Besitzen sie einen solchen nicht, was bei der Einreise in der Regel der Fall ist, wird ihnen nach der Inobhutnahme durch das Jugendamt von der zuständigen Ausländerbehörde zunächst eine Duldung ausgestellt (nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 oder 3 AufenthG). Eine Duldung ist kein Aufenthaltstitel, sondern bescheinigt lediglich die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (§ 60 a Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 AufenthG). Um den weiteren Aufenthalt zu sichern, können UM entweder durch ein Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einen Schutzstatus anstreben oder durch Antrag bei der zuständigen Ausländerbehörde einen alternativen Aufenthaltstitel beantragen. In vielen Fällen bleiben sie allerdings auch bis zum Erreichen der Volljährigkeit geduldet in Deutschland. Im Rahmen des sog. Clearingverfahrens (nach § 42 Abs. 2 SGB VIII) versuchen Mitarbeitende des Jugendamts gemeinsam mit dem bzw. der UM zu klären, ob ein Asylantrag im Interesse des Kindeswohls liegt. In Fällen, in denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass das Kind oder der Jugendliche internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG benötigt, sieht § 42 Abs. 2 Satz 5 SGB VIII eine Verpflichtung des Jugendamtes zur unverzüglichen Asylantragstellung beim BAMF vor. Erscheinen allerdings andere Formen der Aufenthaltssicherung sinnvoll, beantragt der Vormund bei der zuständigen Ausländerbehörde schriftlich unter Darlegung der Gründe eine Aufenthaltserlaubnis. Die Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis muss daher nicht in direktem zeitlichen Zusammenhang mit der Ankunft in Deutschland stehen. Der Asylantrag beim BAMF kann zu der Anerkennung als Asylberechtigte bzw. Asylberechtigter (Art. 16 a Abs. 1 GG), als Flüchtling (§ 3 AsylG) oder als subsidiär Schutzberechtigte bzw. Schutzberechtigter (§ 4 AsylG) führen. Ebenso können Abschiebungsverbote (§ 60 Abs. 5 und 7 AufenthG) festgestellt werden. Es gibt für UM kein gesondertes Asylverfahren, dennoch wird, um das Kindeswohl zu wahren, das Verfahren von besonders hierfür geschulten Entscheiderinnen bzw. Entscheidern (sog. Sonderbeauftragten) kindgerecht durchgeführt (BAMF 2017, 37). Die Asylantragstellung für UM muss über den Vormund oder das Jugendamt schriftlich erfolgen (§ 55 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG). Mit Eingang der Asylantragstellung beim BAMF ist UM der Aufenthalt zur Durchführung des Asylverfahrens gestattet. Wird Antragstellenden im Asylverfahren ein Schutzstatus zugesprochen, erhalten sie eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre (bei Asyl- und Flüchtlingsstatus) bzw. für ein Jahr (bei subsidiärem Schutz; § 25 Abs. 1 und 2 AufenthG). Werden Abschiebeverbote festgestellt, erhalten sie in der Regel ebenfalls eine Aufenthaltserlaubnis (§ 25 Abs. 3 i. V. m. § 60 Abs. 5 u. 7 AufenthG), die für mindestens ein Jahr erteilt wird (§ 26 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Andererseits kann der Asylantrag als (offensichtlich) unbegründet abgelehnt werden (§§ 29 a und 30 AsylG). Die Ablehnung im Asylverfahren führt dabei aufgrund der häufig eintretenden Unmöglichkeit einer Abschiebung von UM meist zu einer Duldung. Gleichzeitig kann die Ablehnung als offensichtlich unbegründet dazu führen, „dass der Erwerb einer Aufenthaltserlaubnis auf anderem Wege dauerhaft versagt bleibt“ (Espenhorst/ Noske 2017 a, 52; § 10 Abs. 3 AufenthG). 23 uj 1 | 2019 Unbegleitete Minderjährige Statistische Daten zu unbegleiteten Minderjährigen Daten zur Anzahl der UM in jugendhilferechtlicher Zuständigkeit in Deutschland finden sich in der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik (KJH-Statistik) des Statistischen Bundesamts sowie in Verwaltungsdaten des Bundesverwaltungsamts (BVA). Angaben zu denjenigen UM, die einen Asylantrag stellen, werden in der Asylgeschäftsstatistik des BAMF erfasst. Statistiken zur aufenthaltsrechtlichen Situation von UM existieren hingegen nicht. Unbegleitete Minderjährige in jugendhilferechtlicher Zuständigkeit Das Statistische Bundesamt bereitet jährlich Verwaltungsdaten der Jugendämter zu vorläufigen Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche auf. An dieser Statistik lässt sich ablesen, wie häufig Kinder und Jugendliche aufgrund einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland in die Obhut von Jugendämtern genommen wurden. Während der Anteil von Inobhutnahmen aufgrund unbegleiteter Einreise aus dem Ausland an allen Schutzmaßnahmen im Jahr 2013 bei 16,0 % lag, wuchs er mit der verstärkten Fluchtzuwanderung ab dem Jahr 2014 an, um 2015 und 2016 einen Höhepunkt zu erreichen. Mit 54,5 % (2015) und 53,3 % (2016), waren in diesen Jahren mehr als die Hälfte der Inobhutnahmen Fälle, in denen UM in Obhut genommen wurden. Im Jahr 2017 machte der Anteil von Inobhutnahmen von UM an allen Schutzmaßnahmen nur noch 36,6 % aus, wobei die Daten von 2017 aufgrund von Änderungen in der statistischen Erfassung nicht uneingeschränkt mit den Vorjahreszahlen vergleichbar sind (vgl. Statistisches Bundesamt 2018, 4ff ). Der Anteil der männlichen Kinder und Jugendlichen an allen UM, die in Obhut genommen werden, lag 2007 noch bei 70,0 %, wuchs aber ab 2008 stark an und hat sich in den letzten 50.000 45.000 40.000 35.000 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 2013 2014 2015 2016 2017 Inobhutnahme aus anderen Gründen Inobhutnahme aufgrund unbegleiteter Einreise aus dem Ausland 44.935 34.638 6.584 36.417 11.642 35.336 42.309 39.295 38.891 22.492 Abb. 1: Vorläufige Schutzmaßnahmen (2013 - 2017) (Quelle: Statistisches Bundesamt (2018, 40 - 42), eigene Darstellung) 24 uj 1 | 2019 Unbegleitete Minderjährige Jahren bei ca. 90,0 % eingependelt (2016: 91,7 %; 2017: 88,0 %) (Statistisches Bundesamt 2018, 40 - 48). Die Altersstruktur ist hingegen im Laufe der vergangenen fünf Jahre relativ gleich geblieben: die ankommenden UM sind in ihrer großen Mehrheit Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren. Eine genauere Betrachtung der Altersverteilung von Kindern und Jugendlichen, die 2017 aufgrund einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland aufgenommen wurden, macht deutlich, dass es sich bei den UM vorwiegend um Minderjährige zwischen 16 und 18 Jahren handelt, die somit kurz vor der Volljährigkeit stehen. Die Inobhutnahmestatistiken geben die Zahl der neu nach Deutschland gekommenen unbegleiteten Minderjährigen wieder. Die Gesamtzahl der in Deutschland nach SGB VIII untergebrachten, versorgten und betreuten UM hingegen ergibt sich aus den Verwaltungsdaten des BVA. Hier zeigt sich, dass sich zum Stichtag 8. Dezember 2017 insgesamt 54.962 UM (56,2 %) und junge Volljährige (43,8 %) in jugendhilferechtlicher Zuständigkeit befanden (von Nordheim u. a. 2017, 4; vgl. Abb. 2). Unbegleitete Minderjährige im Asylverfahren Zwischen 2013 und 2016 ist ein beachtlicher Anstieg der Asylerstanträge von UM von 2.486 auf 35.939 zu verzeichnen. Im Jahr 2017 ist dann die Anzahl der Anträge mit 9.084 wieder deutlich zurückgegangen. Grundsätzlich fällt auf, dass die Asylerstantragszahlen sich nicht in der gleichen Höhe bewegen wie die Entscheidungszahlen. Dies ist u. a. dadurch bedingt, dass einige UM während des Asylverfahrens volljährig werden und somit in der Statistik nicht mehr als UM geführt werden (Deutscher Bundestag 2015, 37). Zudem hängt dies mit der Tatsache zusammen, dass Entscheidungen z. T. erst im Jahr nach der Antragstellung gefällt werden, wie dies bei allen Asylverfahren der Fall sein kann. Dies spiegelt sich 2017 auch in der gestiegenen Zahl der Entscheidungen über Asylanträge von UM wider (siehe Tab. 1). Junge Volljährige (nach § 41 SGB VIII); 24.088 Unbegleitete Minderjährige; 30.874 Abb. 2: UM und junge Volljährige in jugendhilferechtlicher Zuständigkeit (Quelle: von Nordheim u. a. [2017, 4], eigene Darstellung) Jahr Inobhutnahmen von unbegleitet aus dem Ausland einreisenden Kindern und Jugendlichen Asylerstanträge UM Entscheidungen UM Schutzquote Asylerstanträge 2013 2014 2015 2016 2017 6.584 11.642 42.309 44.935 22.492 2.486 4.398 22.255 35.939 9.084 1.024 1.544 2.922 9.300 24.930 57 % 73 % 90 % 89 % 78 % Tab. 1: Inobhutnahmen, Asylerstanträge, Asylentscheidungen, Schutzquoten (Quelle: BAMF und Statistisches Bundesamt [2018, 40 - 42], eigene Darstellung) 25 uj 1 | 2019 Unbegleitete Minderjährige Es wird zudem deutlich, dass die Anzahl der Asylanträge geringer ausfällt als die Anzahl der Inobhutnahmen. Dies hat mit dem Verschwinden von UM aus der Inobhutnahme zu tun und damit, dass nicht alle UM einen Asylantrag stellen. Außerdem beinhalten die Inobhutnahmezahlen auch UM aus EU-Mitgliedsstaaten. Die Asylgeschäftsstatistik erlaubt eine weitere Aufschlüsselung der asylantragstellenden UM: Diese sind überwiegend männlich (2017: ca. 86 %) und 16 bis 17 Jahre alt (2017: ca. 81 %). Sie kamen im Jahr 2017 vorwiegend aus Afghanistan (ca. 24 %) und Eritrea (ca. 17 %). Mit 19.408 positiven von insgesamt 24.930 Entscheidungen lag die Gesamtschutzquote für Asylerstanträge von UM im Jahr 2017 bei ca. 78 % (Tangermann/ Hoffmeyer-Zlotnik 2018, 20). Unterbringung, Versorgung und Betreuung Die Unterbringung, Versorgung und Betreuung von UM beginnt bei ihrem ersten Kontakt mit deutschen Behörden. In der Regel werden UM zuerst vorläufig in Obhut genommen, es folgt eventuell eine bundesweite Verteilung und schließlich die reguläre Inobhutnahme. An die Phase der Inobhutnahme schließt sich entweder die Zusammenführung mit Eltern oder Erziehungsberechtigten an oder der Übergang in jugendhilferechtliche Anschlussmaßnahmen. Vorläufige Inobhutnahme und bundesweites Verteilverfahren Treffen ausländische Kinder und Jugendliche unbegleitet in Deutschland ein und kommen mit staatlichen Stellen in Kontakt, so informieren diese das örtlich zuständige Jugendamt. Dieses ist nach § 42 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII berechtigt und verpflichtet, den oder die UM vorläufig in Obhut zu nehmen. Die vorläufige Inobhutnahme beinhaltet die kindeswohlgerechte Unterbringung bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform, die Sicherstellung des notwendigen Unterhalts, die Krankenhilfe sowie die rechtliche Vertretung des Kindes (vgl. § 42 a SGB VIII). Die vorläufige Inobhutnahme beinhaltet ebenfalls das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung (§ 42f SGB VIII). Zudem hat das Jugendamt während der vorläufigen Inobhutnahme durch eine Erstklärung einzuschätzen, ob eine Weiterverteilung des bzw. der UM im Rahmen des sog. bundesweiten Verteilverfahrens „in Anbetracht der konkreten Situation des Kindes oder des bzw. der Jugendlichen und seines bzw. ihres Wohls überhaupt zulässig ist“ (González Méndez de Vigo 2017, 27). Die vorläufige Inobhutnahme und das Verteilverfahren wurden mit dem Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher im November 2015 eingeführt, um bundesweit vorhandene Unterbringungskapazitäten besser zu nutzen, aber auch um die Belastung der Kommunen besser zu verteilen. Vor der Gesetzesnovellierung waren die Kommunen zuständig für die Inobhutnahme aller UM, die in ihrem Zuständigkeitsbereich aufgegriffen wurden, was v. a. für Kommunen in grenznahen Regionen eine besondere Belastung bedeutete. Das Verteilverfahren löst diese Situation durch eine bundesweite Aufnahmepflicht. Welches Bundesland wie viele UM aufnimmt, wird durch eine festgelegte Aufnahmequote geregelt (§ 42 c SGB VIII). Das Verteilverfahren wurde bei seiner Einführung teilweise kritisiert ( Tangermann/ Hoffmeyer-Zlotnik 2018, 27), knapp drei Jahre nach Einführung bewerten es verschiedene Akteure der Kinder- und Jugendhilfe allerdings positiv, da es „deutschlandweit alle Kapazitäten der Jugendämter, der medizinischen Dienste, der Schulen und Vereine“ nutze (EMN/ BAMF 2018, 10). 26 uj 1 | 2019 Unbegleitete Minderjährige Reguläre Inobhutnahme und Clearingverfahren Sind UM im Zuge der Verteilung an ein anderes zuständiges Jugendamt übergeben worden oder verbleiben bei dem Jugendamt, welches sie vorläufig in Obhut genommen hatte, beginnen die reguläre Inobhutnahme und das Clearingverfahren. „Eine umfangreiche Perspektivklärung, die Biographiearbeit, die Klärung der aufenthaltsrechtlichen Situation und die Bedarfsermittlung finden in der regulären Inobhutnahme statt. Bei unbegleiteten Minderjährigen stellt die Inobhutnahme außerdem in der Regel gleichzeitig den Einstieg in den jugendhilferechtlichen Hilfeprozess dar“ (González Méndez de Vigo 2017, 44). Die Inobhutnahme durch das Jugendamt beinhaltet die Befugnis, das Kind oder den bzw. die Jugendliche/ n bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen (§ 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen zu sorgen und dabei den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicherzustellen (§ 42 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Zudem ist das Jugendamt während der Inobhutnahme berechtigt, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen notwendig sind, wobei der mutmaßliche Wille der Personensorge- oder Erziehungsberechtigten angemessen zu berücksichtigen ist (§ 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII). Das Jugendamt hat ebenfalls beim Familiengericht die Bestellung eines Vormunds oder eines Pflegers bzw. einer Pflegerin zu veranlassen (§ 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII). Hilfeplanung und Anschlussmaßnahmen Wie andere in Deutschland lebende Kinder und Jugendliche haben UM einen Anspruch auf die notwendige und geeignete Hilfe nach SGB VIII (§§ 27 - 35 SGB VIII). Wird im Clearingverfahren festgestellt, dass Hilfen nach SGB VIII gewährt werden sollen, wird ein formelles Hilfeplanverfahren eingeleitet (§ 36 SGB VIII), bei dem zusammen mit dem bzw. der UM und allen involvierten Stellen Ziel und Art der Hilfegewährung und Unterbringung festgelegt wird. Entsprechend wird der bzw. die UM in einer der Hilfeformen untergebracht, versorgt und betreut (Heim, betreutes Wohnen etc.). Die Inanspruchnahme der Hilfen ist unabhängig vom Aufenthaltsstatus des bzw. der UM. Sofern dieser nicht während der Inobhutnahme geklärt wurde, läuft die Klärung parallel zu den gewährten Hilfen weiter. Eine Entscheidung über den aufenthaltsrechtlichen Status hat allerdings aufgrund des Primats der Kinder- und Jugendhilfe bis zur Volljährigkeit keinen Einfluss auf die Inanspruchnahme der Hilfen. Auch für junge Volljährige ist eine Hilfegewährung grundsätzlich möglich (§ 41 SGB VIII), wenn UM erwachsen werden und noch weiterhin auf Unterbringung und Unterstützung angewiesen sind. Mit der Volljährigkeit spielen aufenthaltsrechtliche Aspekte allerdings verstärkt eine Rolle (Tangermann/ Hoffmeyer- Zlotnik 2018, 46 u. 73). Amtliche Statistiken zur Verteilung von UM auf verschiedene Hilfe- und Unterbringungsformen existieren nicht. In einer Onlinebefragung unter Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe von Dezember 2017 gab die Mehrheit an, dass UM überwiegend in regulären Jugendhilfeeinrichtungen wie Heimen oder betreuten Wohnformen untergebracht würden (89,6 %) (von Nordheim u. a. 2017, 25). Es besteht allerdings die Tendenz, UM in Heimen und spezialisierten Wohngruppen (nur) mit anderen UM unterzubringen. Dies wird zum Teil kritisch gesehen, da eine solche Unterbringung oft nicht den Wünschen der UM nach Normalität und Austausch mit Gleichaltrigen aus der Aufnahmegesellschaft entspräche (Brinks u. a. 2017, 79) und Integration erschweren kann. 27 uj 1 | 2019 Unbegleitete Minderjährige Aktuelle Herausforderungen Mit der starken Zuwanderung in den Jahren 2015/ 16 standen die involvierten Akteure vor der Herausforderung, schnellstmöglich Kapazitäten zu schaffen, um die Unterbringung, Versorgung und Betreuung von UM überhaupt sicherzustellen. Diese Herausforderung scheint, nicht zuletzt durch die Verteilung finanzieller und kapazitiver Belastungen durch das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher größtenteils gemeistert; es kommt nur noch vereinzelt und regional zu Kapazitätsengpässen bzw. auch zum Leerstand von Unterbringungsplätzen (Deutscher Bundestag 2017, 73f ). Als Herausforderung zeichnet sich allerdings die Bereitstellung von spezifischen Unterbringungskapazitäten für ältere Jugendliche an der Schwelle zur Volljährigkeit sowie für junge Volljährige ab (von Nordheim u. a. 2017, 24f ). Als aktuelle und akute Herausforderung wird von politischen und Jugendhilfeakteuren die hohe Anzahl von durch Krieg, Vertreibung und Flucht traumatisierten UM und eine unzureichende Versorgungssituation in diesem Bereich identifiziert. Es mangele an Therapieangeboten vor allem im ländlichen Raum und die Verfügbarkeit bzw. Finanzierbarkeit von Verdolmetschungen sei unzureichend (Deutscher Bundestag 2017, 64ff ). Eine weitere Herausforderung, die auch vom betroffenen Fachpersonal selbst als solche artikuliert wird, ist ein nicht gedeckter hoher Qualifizierungsbedarf zu den Themen Umgang mit traumatisierten UM sowie im Asyl- und Aufenthaltsrecht, insbesondere im Lichte der zahlreichen Gesetzesänderungen in den letzten Jahren (Deutscher Bundestag 2017, 69; von Nordheim u. a. 2017, 11; EMN/ BAMF 2018, 11). Julian Tangermann Paula Hoffmeyer-Zlotnik Deutsche Nationale Kontaktstelle des Europäischen Migrationsnetzwerks (EMN) und Forschungszentrum Migration, Integration, Asyl beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) E-Mail: EMN_NCP-DE@bamf.bund.de Literatur BAG - Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter (2017): Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen. Verteilungsverfahren, Maßnahmen der Jugendhilfe und Clearingverfahren. 2. akt. Fassung. In: http: / / www.bagljae.de/ downloads/ 128_handlungsempfehlungen-zum-umgang-mitunbge.pdf, 15. 1. 2018 [BAMF 2017] Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2017): Ablauf des deutschen Asylverfahrens. Ein Überblick über die einzelnen Verfahrensschritte und rechtlichen Grundlagen. Nürnberg Brinks, S., Dittmann, E., Müller, H. (2017): Das Jugendamt - eine sozialpädagogische Fachbehörde, die unbegleiteten Minderjährigen zu ihrem Recht verhilft und Lebenswege positiv mitgestaltet. In: Dies. (Hrsg.): Handbuch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Grundsatzfragen 53. Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen, Frankfurt, 72 - 84 [BumF 2015] Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e. V. (2015): Kritik an der Bezeichnung „unbegleitete minderjährige Ausländer_in“. Stellungnahme vom 18. 12. 2015. In: http: / / www. b-umf.de/ images/ Kritik_Begriff_umA.pdf, 16. 1. 2018 Deutscher Bundestag (2015): Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Luise Amtsberg, Beate Walter-Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN. Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland. Drucksache 18/ 5564. Berlin Deutscher Bundestag (2017): Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht über die Situation unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in Deutschland. Drucksache 18/ 11540. Berlin [EMN 2018] Europäisches Migrationsnetzwerk (2018): Approaches to Unaccompanied Minors Following 28 uj 1 | 2019 Unbegleitete Minderjährige Status Determination in the EU plus Norway. In: http: / / www.bamf.de/ SharedDocs/ Anlagen/ EN/ Publi kationen/ EMN/ SyntheseberichteInform/ ZuStudien/ emn-wp80-synthese-unbegleitete-minderjaehrige. pdf? __blob=publicationFile, 20.09.2018 [EMN/ BAMF 2018] Europäisches Migrationsnetzwerk/ Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.) (2018): Tagungsdokumentation: Unbegleitete Minderjährige in Deutschland und Europa. Tagung der deutschen nationalen Kontaktstelle des EMN am 14. Juni 2018 in Berlin. In: http: / / www.bamf.de/ SharedDocs/ Anlagen/ DE/ Publikationen/ EMN/ emn-tagungsband-um- 2018.pdf? __blob=publicationFile, 22. 8. 2018 Espenhorst, N., Noske, B. (2017): Asyl- und Aufenthaltsrecht. In: Brinks, S., Dittmann, E., Müller, H. (Hrsg.): Handbuch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Grundsatzfragen 53. Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen, Frankfurt, 49 - 58. González Méndez de Vigo, N. (2017): Gesetzliche Rahmung: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im SGB VIII. In: Brinks, S., Dittmann, E., Müller, H. (Hrsg.): Handbuch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Grundsatzfragen 53. Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen, Frankfurt, 20 - 48 Lechner, C., Huber, A. (2017): Ankommen nach der Flucht. Die Sicht begleiteter und unbegleiteter junger Geflüchteter auf ihre Lebenslagen in Deutschland. Deutsches Jugendinstitut e.V., München Noske, B. (2015): Die Zukunft im Blick. Die Notwendigkeit, für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Perspektiven zu schaffen. In: http: / / www.b-umf.de/ ima ges/ die_zukunft_im_blick_2015.pdf, 3. 1. 2017 Parusel, B. (2015): Unbegleitete Minderjährige auf der Flucht. Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (25), 31 - 38 Statistisches Bundesamt (2018): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Vorläufige Schutzmaßnahmen 2017. In: https: / / www.destatis.de/ DE/ Publikationen/ The matisch/ Soziales/ KinderJugendhilfe/ Vorlaeufige Schutzmassnahmen5225203177004.pdf? __blob= publicationFile, 22. 8. 2018 Tangermann, J., Hoffmeyer-Zlotnik, P. (2018): Unbegleitete Minderjährige in Deutschland. Herausforderungen und Maßnahmen nach der Klärung des aufenthaltsrechtlichen Status. Studie der deutschen nationalen Kontaktstelle für das Europäische Migrationsnetzwerk (EMN). Working Paper 80 des Forschungszentrums des Bundesamtes. BAMF, Nürnberg von Nordheim, F., Karpenstein, J., Klaus, T. (2017): Die Situation unbegleiteter Minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland. Auswertung der Online-Umfrage 2017. Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V., Berlin