eJournals unsere jugend 71/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Herausforderungen und Zukunftssicherung von Organisationen in der Kinder- und Jugendarbeit

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2019
Maik-Carsten Begemann
Wie vielleicht kein anderes Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe sieht sich die Kinder- und Jugendarbeit gegenwärtig enormen Herausforderungen gegenübergestellt. Gleichzeitig ist nicht absehbar, ob und vor allem wie sie diesen Herausforderungen begegnen kann. In dem vorliegenden Text werden auf Basis eines empirischen Forschungsprojektes mögliche Antworten gegeben.
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79 unsere jugend, 71. Jg., S. 79 - 88 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art13d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Maik-Carsten Begemann Jg. 1971; Diplom-Soziologe, Lehrbeauftragter an der Hochschule Düsseldorf Herausforderungen und Zukunftssicherung von Organisationen in der Kinder- und Jugendarbeit Empirische Befunde und Praxisempfehlungen Wie vielleicht kein anderes Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe sieht sich die Kinder- und Jugendarbeit gegenwärtig enormen Herausforderungen gegenübergestellt. Gleichzeitig ist nicht absehbar, ob und vor allem wie sie diesen Herausforderungen begegnen kann. In dem vorliegenden Text werden auf Basis eines empirischen Forschungsprojektes mögliche Antworten gegeben. Die Kinder- und Jugendarbeit steht vor einer entscheidenden Zäsur: So sieht sie sich mehr denn je mitunter enormen Herausforderungen - wie z. B. den vielfältigen gesellschaftlichen Veränderungen, die besonders die Lebenswirklichkeiten junger Menschen prägen, den veränderten rechtlichen und insbesondere monetären Rahmenbedingungen, welche die pädagogische Arbeit im Arbeitsfeld entscheidend mitbeeinflussen, den zunehmenden Problematiken der Rekrutierung von Mitarbeitenden sowie den zahlreich bevorstehenden Generationenwechseln auf Führungs- und Leitungsebene - gegenübergestellt (u. a. Deinet/ Janowicz 2016; Gadow et al. 2013; Rauschenbach 2010; Seckinger et al. 2016). Gleichzeitig ist bislang völlig offen, wie sie diesen Herausforderungen begegnen kann, um ihre Zukunft zu sichern. Das Forschungsdesign des Projektes „Zukunftsfähig! ? “ Vor diesem Hintergrund wurde das vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen geförderte Projekt „Zukunftsfähig! ? Organisationswandel und Führungskräfteentwicklung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Untersucht am Beispiel der Träger bzw. Initiativgruppen des Paritätischen Jugendwerks in Nordrhein‐ Westfalen“ von der Hochschule Düsseldorf durchgeführt. Ein besonderer Schwerpunkt war dabei, wie die Träger bzw. Initiativgruppen des Paritätischen Jugendwerks NRW als Mitgliedsorganisationen in Anbetracht diverser Herausforderungen und durch Realisierung sogenannter „konzeptioneller Oberziele“ ihre Zukunft zu sichern versuchen. 80 uj 2 | 2019 Organisationen in der Kinder- und Jugendarbeit Um dabei die Wahrnehmung von Herausforderungen, aber auch die Realisierung der konzeptionellen Oberziele sowohl in ihrer Breite als auch in ihrer Tiefe möglichst umfassend abzubilden, ist ein trianguliertes Forschungsdesign mit einer besonderen Abfolge umgesetzt worden: So wurde in einer ersten explorativen Phase ein einschlägiger Workshop zur Auslotung möglicher Herausforderungen (denen sich die Mitgliedsorganisationen gegenübergestellt sehen) sowie anschließend mehrere bewusst offen gehaltene telefonische Experteninterviews (n = 12) zur Extrapolierung potenzieller konzeptioneller Oberziele (mittels derer die Organisationen ihre Zukunft zu sichern versuchen) durchgeführt. Darauf aufbauend ist in einer zweiten quantifizierenden Phase eine standardisierte postalische Befragung (n = 134) der Mitgliedsorganisationen zur genaueren Bestimmung bzw. Vermessung der seitens der Organisationen (tatsächlich) wahrgenommenen Herausforderungen sowie der (tatsächlich) realisierten konzeptionellen Oberziele durchgeführt worden. Abschließend wurden in einer dritten vertiefenden Phase - auch um Handlungsempfehlungen zu generieren - intensivere sowie längere Experteninterviews (n = 13) zu relevanten Themengebieten mit bewusst ausgewählten Organisationen vor Ort face to face durchgeführt. Herausforderungen Der bereits in der frühen Phase des Projektes durchgeführte Workshop offenbarte vielfältige Herausforderungen. Diese können insgesamt in organisationsbezogene, mitarbeitendenbezogene und adressatInnenbezogene Herausforderungen eingeteilt werden: AdressatInnenbezogene Herausforderungen umfassen (jeweils vermehrt): ➤ Junge Menschen, die bislang noch nicht die Angebote der Organisation nutzen, zu erreichen ➤ Junge Menschen, die bereits die Angebote der Organisation nutzen, zu halten ➤ (Inhaltliche) Angebote zu schaffen, die von den jungen Menschen angenommen werden ➤ Angebote zu schaffen, die den Zeitpräferenzen der jungen Menschen entsprechen ➤ Beziehungsarbeit mit den jungen Menschen in den Arbeitsalltag zu integrieren ➤ Mit anderen Institutionen um Zielgruppen zu konkurrieren Organisationsbezogene Herausforderungen beinhalten (jeweils verstärkt): ➤ Die Arbeit der Organisation mit den Interessen der Geldgeber in Einklang zu bringen ➤ Vermehrt die Existenz der gesamten Organisation zu sichern Mitarbeitendenbezogene Herausforderungen sind (je vermehrt): ➤ Beruflich tätige Fachkräfte, die bereits in der Organisation tätig sind, zu halten ➤ Beruflich tätige Fachkräfte für die Organisation neu zu gewinnen ➤ Ehrenamtlich Tätige, die bereits in der Organisation arbeiten, zu halten ➤ Ehrenamtlich Tätige für die Organisation neu zu gewinnen ➤ Die Lebensentwürfe der ehrenamtlich tätigen MitarbeiterInnen mit der Organisation in Einklang zu bringen ➤ Die Lebensentwürfe der beruflich tätigen MitarbeiterInnen mit der Organisation in Einklang zu bringen Im Zuge der postalischen Befragung wurden die Organisationen um eine Einschätzung der Wichtigkeit dieser Herausforderungen für die Arbeit der eigenen Organisation gebeten. Dabei zeigt sich, dass die aufgeführten Herausforderungen, wenngleich auch in unterschiedlichen Nuancen, große Bedeutung für die Organisationen besitzen (Abb. 1). 81 uj 2 | 2019 Organisationen in der Kinder- und Jugendarbeit Am Wichtigsten sind den untersuchten Organisationen die organisationsbezogenen Herausforderungen: 66,3 % der Organisationen (also zwei von drei Organisationen) empfinden diese als wichtig. Mit bereits etwas Abstand folgen die adressatInnenbezogenen Herausforderungen, welche von 59,1 % der befragten Organisationen für wichtig erachtet werden. An letzter Stelle sind die mitarbeitendenbezogenen Herausforderungen anzutreffen, welche mit 50,7 % von immerhin noch mehr als der Hälfte der Organisationen als wichtig erachtet werden. Insgesamt zeigt sich eine Relevanzhierarchie, innerhalb derer den befragten Organisationen zunächst die organisationsbezogenen, dann die adressatInnenbezogenen und zuletzt die mitarbeitenden Herausforderungen wichtig sind. Bereits dieser Befund macht deutlich, dass sich die Organisationen in vielen Fällen nicht miteinander zu vereinbarenden Herausforderungen gegenübergestellt sehen. Eine Grundidee des Projektes ist es, dass die Wahrnehmung dieser Herausforderungen (sowie die anschließend skizzierte Realisierung der konzeptionellen Oberziele) grundsätzlich mit Merkmalen der Organisationen zusammenhängt. Von daher wurde in der Auswertung systematisch berücksichtigt, ob - um nur einige Merkmale zu nennen - bspw. das Arbeitsumfeld der Organisation, das Gründungs-, aber auch das Beitrittsjahr in das Paritätische Jugendwerk (PJW) NRW, die (über die Anzahl der Mitarbeitenden gebildete) Größe der Organisationen, die Statusprägung der Organisation (ob also die Organisation eher durch hauptberuflich oder durch ehrenamtlich Tätige geprägt ist) oder aber der Ausbau von internen Entlastungsstrukturen (etwa durch die Vergabe von Organisationsaufgaben an externe Akteure) diesbezüglich eine Rolle spielen. Dabei ergeben sich folgende Befunde: ➤ Die organisationsbezogenen Herausforderungen stehen in einem auffälligen Zusammenhang mit der Statusprägung der Or- Organisationsbezogen Mitarbeitendenbezogen AdressatInnenbezogen 8,7 25,0 66,3 18,1 20,0 31,2 20,9 50,7 59,1 0 % 50 % 100 % unwichtig neutral wichtig Abb. 1: Wichtigkeit verschiedener Herausforderungen erhoben im Projekt „Zukunftsfähig! ? “ 82 uj 2 | 2019 Organisationen in der Kinder- und Jugendarbeit ganisation: So wird die Herausforderung, die Existenz der eigenen Organisation zu sichern, von 92,7 % der hauptberuflich geprägten Organisationen, aber nur von 83,7 % der ehrenamtlich geprägten Organisationen als wichtig eingeschätzt. Die Herausforderung, die Arbeit der eigenen Organisation mit den Interessen der Geldgeber in Einklang zu bringen, wird von immerhin noch 53,7 % der hauptberuflich geprägten Organisationen als wichtig empfunden, aber von nur 41,5 % der ehrenamtlich geprägten Organisationen. ➤ Auch die mitarbeitendenbezogenen Herausforderungen scheinen in einem Zusammenhang mit der Statusprägung der Organisationen zu stehen - immerhin weisen drei der insgesamt sechs mitarbeitendenbezogenen Herausforderungen diesbezüglich Auffälligkeiten auf: So ist die Herausforderung, beruflich Tätige neu zu gewinnen, für 52,4 % der hauptberuflich, aber nur für 34,6 % der ehrenamtlich geprägten Organisationen wichtig. Die Herausforderung, beruflich Tägige zu halten, ist sogar für 71,4 % der hauptberuflich, aber nur für 53,8 % der ehrenamtlich geprägten Organisationen bedeutsam. Gewissermaßen umgekehrt dazu verhält es sich mit der Herausforderung, die Lebensentwürfe Ehrenamtlicher in Einklang mit der Organisation zu bringen: Diese ist für 45,3 % der ehrenamtlich, aber nur für 22,0 % der beruflich geprägten Organisationen wichtig. ➤ Die adressatInnenbezogenen Herausforderungen schließlich stehen in einem Zusammenhang mit der Größe der Organisationen: Dies gilt insbesondere für die beiden Herausforderungen, junge Menschen zu halten und junge Menschen neu zu erreichen. So ist die Herausforderung, junge Menschen zu halten, für 54,8 % der großen, für immerhin 73,3 % der mittelgroßen und für bereits 80,5 % der kleinen Organisationen wichtig. Die Herausforderung wiederum, junge Menschen neu zu erreichen, ist zwar für 62,8 % der großen und für 77,8 % der mittelgroßen, aber sogar für 88,1 % der kleinen Organisationen wichtig. Insgesamt geht mit abnehmender Größe der Organisationen eine auffällige Zunahme der Wichtigkeit (zumindest) der beiden aufgeführten adressatInnenbezogenen Herausforderungen einher. Die Realisierung konzeptioneller Oberziele zur eigenen Zukunftssicherung Es ist eine weitere Grundidee des Projektes, dass die Organisationen ihre Zukunft durch die Realisierung sogenannter „konzeptioneller Oberziele“ zu sichern versuchen. Die vor der quantitativen Befragung durchgeführten telefonischen Interviews mit einschlägigen Expertinnen und Experten machten deutlich, dass sich die Organisationen dazu grundsätzlich einer ausgesprochenen Vielfalt an konzeptionellen Oberzielen bedienen (können). Insgesamt kristallisieren sich vier Arten von konzeptionellen Oberzielen heraus: Oberziele, welche (eher) auf (1.) die Arbeitsweisen, (2.) die Kooperationen, (3.) die Beziehungsarbeit und (4.) das Arbeitsfeld zielen: 1. Arbeitsweisenbezogene Oberziele sind: (jeweils vermehrt) Angebote mit präventivem Charakter bereitzustellen, Angebote der aufsuchenden Arbeit zu schaffen, Öffnungszeiten zu erweitern, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben oder mit Eltern zusammenzuarbeiten. 2. Kooperationsbezogene Oberziele bestehen darin, (jeweils verstärkt) in (sozial)politischen Gremien aktiv zu werden, die Kooperation mit Schule zu suchen, die Kooperation mit (anderen) Einrichtungen der Jugendhilfe einzugehen oder die Kooperation mit anderen Institutionen vor Ort bzw. im Sozialraum zu suchen. 83 uj 2 | 2019 Organisationen in der Kinder- und Jugendarbeit 3. Beziehungsarbeitsbezogene Oberziele fokussieren darauf, (je vermehrt) Möglichkeiten zur Mitentscheidung/ Mitgestaltung für die Zielgruppen zu schaffen, neue soziale Medien in der Arbeit einzusetzen, das Angebot in Richtung der Unterstützung bei schulischen oder beruflichen Fragen zu erweitern, dafür zu sorgen, dass die Kompetenzen der Fachkräfte den Bedürfnissen der Zielgruppen entsprechen, Angebote zu schaffen, die andere Institutionen nicht bereitstellen oder Angebote zur Entspannung/ Erholung anzubieten. 4. Arbeitsfeldbezogene Oberziele sind: (je vermehrt) bislang unberücksichtigte Altersgruppen anzusprechen, bislang nicht berücksichtigte Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen oder das Einzugsgebiet zu erweitern. Da davon ausgegangen wurde, dass die Organisationen diese konzeptionellen Oberziele in unterschiedlichem Ausmaß realisiert haben bzw. auch erst realisieren werden, erfolgte in der postalischen Befragung unter Einsatz eines standardisierten Fragebogens - und dies ist eine weitere methodisch-methodologische Besonderheit des empirischen fundierten Projektes - systematisch eine äußerst dedizierte Abfrage der zeitlichen Abfolge der Realisierung der einzelnen konzeptionellen Oberziele: Dazu wurden alle konzeptionellen Oberziele in dem Fragebogen gelistet aufgeführt, und die Organisationen wurden gebeten, zu jedem einzelnen Oberziel anzugeben, ob dieses aktuell relevant sei oder ob nicht; sollte ein Oberziel aktuell relevant sein, sollten die Organisationen zudem angeben, ob sie dieses Oberziel in der nahen Zukunft angehen, ob sie zurzeit eine Strategie entwickeln oder ob sie eine bereits entwickelte Strategie umsetzen. Insgesamt stehen durch diese Vorgehensweise für alle konzeptionellen Oberziele quantifizierende Informationen zu folgenden Fragen zur Verfügung: 1. In welchem Ausmaß werden die konzeptionellen Oberziele von den Organisationen als Erfolg versprechend eingeschätzt? (im Folgenden Erfolgversprechungsquote) 2. Inwiefern sind konzeptionelle Oberziele, welche (zuvor) als Erfolg versprechend eingeschätzt worden sind, von den Organisationen (tatsächlich) bereits umgesetzt? (Umsetzungsquote) 3. In welchem Ausmaß werden konzeptionelle Oberziele, welche (zuvor) als Erfolg versprechend eingeschätzt, aber bislang noch nicht umgesetzt werden, von den Organisationen gegenwärtig umgesetzt - und vor allem: Inwiefern wird die Umsetzung dieser konzeptionellen Oberziele erst in der Zukunft nachgeholt? (Nachholquote) Hinsichtlich dieser derart gebildeten Erfolgsversprechungsquote, Umsetzungsquote sowie Nachholquote ergibt sich folgendes Gesamtbild: ➤ Grundsätzlich werden die konzeptionellen Oberziele, wenngleich mit leichten Unterschieden, von den Organisationen als sehr Erfolg versprechend wahrgenommen (Abb. 2). Dabei werden mit durchschnittlich 88,0 % insbesondere die kooperationsbezogenen Oberziele als Erfolg versprechend eingeschätzt. Mit etwas Abstand (durchschnittlich 83,1 %) erscheinen den Organisationen die arbeitsfeldbezogenen Oberziele Erfolg versprechend. Weiter folgen die beziehungsarbeitsbezogenen Oberziele mit durchschnittlich 81,2 %. Die arbeitsweisenbezogenen Oberziele schließlich rangieren in dieser Aufzählung an letzter Stelle, werden aber immerhin noch zu durchschnittlich 72,9 % als Erfolg versprechend eingestuft. ➤ Wenngleich also durchaus als sehr Erfolg versprechend eingeschätzt sind die konzeptionellen Oberziele demgegenüber bei Weitem nicht in entsprechendem bzw. erwartbarem Maße umgesetzt: So sind am meisten die kooperationsbezogenen 84 uj 2 | 2019 Organisationen in der Kinder- und Jugendarbeit Oberziele umgesetzt, allerdings liegt deren (durchschnittliche) Umsetzungsquote bei lediglich 44,1 %. Mit anderen Worten: Von allen Organisationen, die die kooperationsbezogenen Oberziele als Erfolg versprechend eingestuft haben, haben nicht einmal die Hälfte diese Oberziele bereits umgesetzt. Es folgen mit 39,2 % die arbeitsweisenbezogenen und mit 37,5 % die beziehungsarbeitsbezogenen Oberziele. Die arbeitsfeldbezogenen Oberziele schließlich, von den Organisationen ja immerhin als zweiterfolgversprechendste Oberziele eingeschätzt, sind sogar erst zu 33,1 % - also von lediglich jeder dritten Organisation, die diese Oberziele als Erfolg versprechend ansehen - umgesetzt. ➤ Gewissermaßen in dieses Gesamtbild passend, zeigen sich hinsichtlich der Frage, in welchem Ausmaß die Organisationen die von ihnen als Erfolg versprechend eingeschätzten, aber bislang noch nicht umgesetzten Oberziele erst zukünftig umsetzen werden, vergleichsweise hohe, aber z. T. erneut voneinander abweichende Nachholquoten: So liegt die niedrigste dieser Nachholquoten bereits bei 38,5 % bei den kooperationsbezogenen konzeptionellen Oberzielen: Mehr als jede dritte Organisation wird ihre als Erfolg versprechend eingeschätzten, aber bislang noch nicht umgesetzten kooperationsbezogenen Oberziele nicht einmal gegenwärtig, sondern erst zukünftig realisieren. Bei den beziehungsarbeitsbezogenen Oberzielen liegt die Nachholquote bei 41,9 %, bei den arbeitsweisenbezogenen Oberzielen immerhin schon bei 45,1 %. Bei den arbeitsfeldbezogenen Oberzielen liegt die Nachholquote sogar bei 52,4 %: Hier ist es sogar jede zweite Organisation, die ihre als Erfolg versprechend eingeschätzten, aber bislang noch nicht umgesetzten arbeitsfeldbezogenen Oberziele nicht gegenwärtig, sondern erst zukünftig umsetzen wird. Wie bereits erwähnt wurde in dem Projekt davon ausgegangen, dass nicht nur die Wahrnehmung der Herausforderungen, sondern auch Arbeitsweisenbezogen Kooperationsbezogen Beziehungsarbeitsbezogen Arbeitsfeldbezogen 72,9 88,0 81,2 83,1 27,1 12,0 18,8 16,9 0 % 50 % 100 % Erfolg versprechend nicht Erfolg versprechend Abb. 2: Erfolgsversprechungsquoten der konzeptionellen Oberziele erhoben im Projekt „Zukunftsfähig! ? “ 85 uj 2 | 2019 Organisationen in der Kinder- und Jugendarbeit die vollumfängliche Realisierung der konzeptionellen Oberziele (von der Erfolgsversprechung über die bisherige Umsetzung bis hin zur womöglich nachträglichen Umsetzung) abermals mit Merkmalen der Organisationen zusammenhängt. In der Tat zeigt sich nach der Auswertung - mit Rücksicht auf die Lesbarkeit unter Verzicht auf genauere Zahlen - folgendes Gesamtbild: ➤ In welchem Ausmaß ein konzeptionelles Oberziel als Erfolg versprechend eingeschätzt wird, hängt mit dem Ausbau von Entlastungsstrukturen sowie mit der Anzahl wahrgenommener Herausforderungen zusammen. Dabei zeigt sich der Zusammenhang von Erfolgversprechung und Entlastungsstrukturen insbesondere innerhalb der kooperationsbezogenen Oberziele: So besteht die Tendenz, dass mit zunehmenden Entlastungsstrukturen eine steigende Erfolgsversprechung der vermehrten Kooperation vor Ort sowie der vermehrten Gremienarbeit einhergeht. Der Zusammengang von Erfolgversprechung und Anzahl wahrgenommener Herausforderungen findet sich demgegenüber insbesondere bei den beziehungsarbeitsbezogenen Oberzielen, wo mit einer steigenden Anzahl von als wichtig erachteten Herausforderungen eine steigende Erfolgversprechung bei den beiden beziehungsarbeitsbezogenen Oberzielen, vermehrt Entspannung anzubieten, und das Angebot verstärkt in Richtung der Unterstützung bei schulischen oder beruflichen Fragen zu erweitern, einhergeht. ➤ Inwiefern ein konzeptionelles Oberziel, welches von den Organisationen (zuvor) als Erfolg versprechend eingeschätzt worden ist, (tatsächlich) bereits umgesetzt ist (Umsetzungsquote), hängt insbesondere mit der Finanzsituation, aber auch mit dem Beitrittsjahr der Organisationen in das PJW NRW zusammen. Der Zusammenhang von Umsetzungsquote und Finanzsituation zeigt sich dabei deutlich bei den beziehungsarbeitsbezogenen Oberzielen, wo eine bessere Finanzsituation insbesondere mit einer höheren Umsetzungsquote der beiden Oberziele, verstärkt neue soziale Medien in der Arbeit einzusetzen, sowie das Angebot in Richtung der Unterstützung bei schulischen oder beruflichen Fragen zu erweitern, einhergeht. Der Zusammenhang zwischen Umsetzungsquote und Finanzsituation zeigt sich aber auch bei den arbeitsfeldbezogenen Oberzielen: So geht eine bessere Finanzsituation mit einer erhöhten Umsetzung der beiden Oberziele, vermehrt bislang unberücksichtigte Altersgruppen und bislang unberücksichtigte Bevölkerungsgruppen anzusprechen, einher. Der Zusammenhang von Umsetzung und Beitrittsjahr wiederum tritt ebenfalls bei den beziehungsarbeitsbezogenen Oberzielen zutage, wobei eine zunehmende Mitgliedsdauer mit der erhöhten Umsetzung insbesondere der Oberziele einhergeht, vermehrt dafür zu sorgen, dass die Kompetenzen der Fachkräfte den Bedürfnissen der Zielgruppen entsprechen, und verstärkt Angebote zu schaffen, die andere Institutionen nicht bereitstellen. ➤ In welchem Ausmaß ein konzeptionelles Oberziel, welches von den Organisationen (zuvor) als Erfolg versprechend eingeschätzt, aber bislang noch nicht umgesetzt worden ist, erst in Zukunft nachholend realisiert wird (Nachholquote), hängt insbesondere mit dem Arbeitsumfeld der Organisation, aber auch mit dem Ausbau interner Entlastungstrukturen zusammen. Dabei zeigt sich der Zusammenhang von Nachholquote und Arbeitsumfeld bei den kooperationsbezogenen, aber insbesondere bei den beziehungsarbeitsbezogenen Oberzielen. So geht mit einem abnehmenden Urbanisierungsgrad des Umfeldes der Organisation eine Zunahme der Nachhol- 86 uj 2 | 2019 Organisationen in der Kinder- und Jugendarbeit quote folgender Oberziele einher: Verstärkt die Kooperation mit Schule zu suchen und vermehrt die Kooperation mit anderen Institutionen vor Ort einzugehen, aber auch vermehrte Mitgestaltungsmöglichkeiten, verstärkter Einsatz neuer sozialer Medien sowie vermehrte Schaffung von Angeboten, die andere Institutionen nicht bereitstellen; alle diese Oberziele werden deutlich häufiger erst in der Zukunft umgesetzt, je weniger urban das Arbeitsumfeld der Organisation ausfällt - oder anders und bewusst überspitzt formuliert: Je ländlicher das Arbeitsumfeld, desto häufiger sollen diese Oberziele erst in der Zukunft und somit gewissermaßen nachträglich realisiert werden. Der Zusammenhang von Nachholquote und Entlastungsstrukturen wiederum findet sich abermals bei den beziehungsarbeitsbezogenen Oberzielen - wenngleich in besonders auffälligem Maße so allerdings nur bei einem Oberziel: Vermehrt Angebote zur Entspannung/ Erholung anzubieten. Hier gehen abnehmende interne Entlastungsstrukturen mit einer Zunahme der Nachholquote einher: Je weniger interne Entlastungsstrukturen eine Organisation aufweist, desto eher wird das vermehrte Angebot zur Entspannung/ Erholung erst zukünftig realisiert. Zwischenfazit Insbesondere im Hinblick auf zu generierende Empfehlungen für die Praxis wäre es nahe liegend, den betroffenen Organisationen zu empfehlen, genau diejenigen Organisationsmerkmale zu beeinflussen, die der Realisierung der konzeptionellen Oberziele förderlich sind. Konkret sind damit insbesondere eine bessere Finanzsituation sowie eine längere Mitgliedsdauer (im Falle der Umsetzungsquote) sowie ein urbanisiertes Arbeitsfeld sowie intern ausgebaute Entlastungsstrukturen (im Falle der Nachholquote) angesprochen. Während eine bessere Finanzsituation sowie eine längere Mitgliedsdauer mit der Tatsache einhergehen, dass konzeptionelle Oberziele bereits vermehrt in der Vergangenheit umgesetzt worden sind, gehen ein urbanisiertes Arbeitsfeld sowie intern ausgebaute Entlastungsstrukturen mit dem Tatbestand einher, dass die Realisierung konzeptioneller Oberziele weniger in der Zukunft nachgeholt werden muss. Dabei gilt selbstverständlich zweierlei zu bedenken: ➤ Erstens und zwar in methodischer Hinsicht: Aufgrund des umgesetzten Forschungsdesigns können selbstverständlich keine Aussagen darüber gemacht werden, was - salopp formuliert - eigentlich Ursache und was eigentlich Wirkung ist. So kann eine vermehrte Umsetzung der arbeitsfeldbezogenen Oberziele eine Folge einer besseren Finanzsituation sein oder aber eine bessere Finanzsituation resultiert aus der vermehrten Umsetzung der arbeitsfeldbezogenen Oberziele. ➤ Zweitens und zwar in praktischer Hinsicht: Selbstverständlich können die Mitgliedsorganisationen nicht einfach und erst recht nicht alle der hier als relevant dargestellten Faktoren beeinflussen. Zwar ist der vermehrte Ausbau von internen Entlastungsstrukturen nicht nur empfehlenswert, sondern durchaus auch möglich. Inwiefern jedoch die Verbesserung der Finanzsituation im Einflussbereich der Organisation liegt, hängt von mitunter zahlreichen weiteren, nicht selten ebenso schwer beeinflussbaren Rahmenbedingungen ab. Handlungsempfehlungen Wie bereits eingangs erwähnt wurden in der letzten vertiefenden Phase des Projektes intensivere Experteninterviews vor Ort (n = 13) mit solchen Organisationen durchgeführt, die in der quantitativen Befragung dadurch als erfolg- 87 uj 2 | 2019 Organisationen in der Kinder- und Jugendarbeit reich auffielen, dass sie (auch im relativen Vergleich zu anderen Organisationen) zahlreiche der aufgeführten Oberziele bereits umgesetzt hatten. Die Interpretation dieser Interviews erlaubt es, ergänzend zur standardisierten Erhebung weitere wichtige Hinweise auf förderliche Einflüsse der Realisierung von Oberzielen zu gewinnen. Demnach ist eine Organisation dann erfolgreich und in diesem Sinne auch zukunftsfähig, wenn sie (Begemann/ Liebig 2017, 63f ): ➤ Erstens grundsätzlich in Anbetracht ihrer eigenen historischen Genese und gewissermaßen als Rahmung ihrer zukünftigen (Gesamt-)Ausrichtung Antworten auf folgende Fragen findet: Wie viel Wandel soll zugelassen werden? Soll eher auf Traditionelles gesetzt oder eher Innovation gewagt werden? Soll eher Expansion angestrebt oder eher Wachstum vermieden werden? Soll eher der eingeschlagene Entwicklungspfad fortgesetzt oder sollen eher radikal neue Wege gegangen werden? ➤ Zweitens, wenn die Organisation im zeitlichen Verlauf folgende Phasen kreislaufmäßig wiederholt durchläuft und sich dabei stets in ihrem gesamten Handeln an den aufgeführten Fragen ausrichtet: Phase der Problemwahrnehmung (Welche Probleme werden mit welcher Intensität wahrgenommen? Was könnten die Problemursachen sein? Sind diese Ursachen eher außerhalb oder eher innerhalb der Organisation zu suchen? Warum sind Veränderungen notwendig? ), Phase der Initiierung (Wie groß ist die Bereitschaft zur Veränderung hinsichtlich einer konkreten Herausforderung? Welche Argumente sprechen für, welche gegen ein konkretes Veränderungsvorhaben? Welche Chancen/ Ziele werden mit der Veränderung in Verbindung gebracht? Gibt es einen Plan der Veränderung und, wenn ja, wie sieht der aus? ), Phase der ersten Implementierung (Wie werden die Veränderungen eingeleitet und warum genau auf diese Weise? Wie werden die Veränderungen angenommen? Welche Konsequenzen sind mit den Neuerungen verbunden? ), Phase der verstetigten Institutionalisierung (Welche Erfahrungen werden mit den Veränderungen gemacht? Welche erwarteten, aber auch unerwarteten Hindernisse/ Probleme tauchen auf? Gelingt eine Veränderung? Wenn nicht, warum? Gibt es nicht erwartete „Nebeneffekte“ der Veränderungen und wenn ja, welche? ) sowie Phase der abschließenden Bewertung: Ist - rückblickend - das Ziel des Wandlungsprozesses erreicht worden? Wenn nicht, warum nicht? Gibt es Debatten zu den Effekten des Wandels? Welche Indikatoren können für die Feststellung des Zielerreichungsgrads herangezogen werden? ➤ Drittens schließlich, wenn die Organisation innerhalb aller derartig durchzulaufenden Veränderungsschleifen langfristig plant, aber nichtsdestotrotz frühzeitig startet, trotz aller Hindernisse und unerwartbarer Rückschläge durchgängig qualitativ gut arbeitet, stets flexibel bleibt und dabei durchaus auch verschiedene Optionen testet, sich jedoch immer der eigenen Grenzen bewusst ist, und schließlich insgesamt einen mitunter langen Atem hat. Fazit und Ausblick In dem vorliegenden Textbeitrag wurden dezidierte Befunde einerseits zur Wahrnehmung von Herausforderungen, denen sich die untersuchten Träger und Initiativgruppen gegenübergestellt sehen, sowie andererseits zur Realisierung konzeptioneller Oberziele, mit denen diese ihre Zukunft zu sichern versuchen, dargestellt. Dabei wurde auch der Versuch unternommen, aus dem empirischen Material gewissermaßen erprobte Handlungsempfehlungen für die Fachpraxis abzuleiten. Wird dabei bedacht, dass die untersuchten Träger und Initiativgruppen aufgrund ihres vielfach besonderen Selbstverständnisses, ihrer vergleichsweise autonomen sowie intern partizipativ operieren- 88 uj 2 | 2019 Organisationen in der Kinder- und Jugendarbeit Literatur Begemann, M.-C., Liebig, R. (2017): Zukunftsfähig! ? Eine Arbeitshilfe für den Organisationswandel und die Führungskräfteentwicklung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Hrsg. v. Paritätischen Jugendwerk NRW. Wuppertal Deinet, U., Janowicz, M. (2016): Herausforderungen und Organisationsebenen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit als Grundlage für die Entwicklung einer Berufsperspektive für das Arbeitsfeld. In: Deinet, U., Janowicz, M. (Hrsg.): Berufsperspektive Offene Kinder- und Jugendarbeit. Bausteine für Personal- und Organisationsentwicklung. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 12 - 24 den Arbeitsweisen und ihrer spezifischen Einbindung in das Paritätische Jugendwerk NRW die thematisierten Herausforderungen besonders früh wahrnehmen, können andere Träger bzw. Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit von diesen Handlungsempfehlungen sogar besonders profitieren. Dr. Maik-Carsten Begemann Hochschule Düsseldorf Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften Münsterstr. 165 40476 Düsseldorf E-Mail: maik-carsten.begemann@uni-due.de Gadow, T., Peucker, Chr., Pluto, L., van Santen, E., Seckinger, M. (2013): Wie geht’s der Kinder- und Jugendhilfe? Empirische Befunde und Analysen. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel Rauschenbach, T. (2010): Kinder- und Jugendarbeit in neuerUmgebung. Ambivalenzen,Herausforderungen, Perspektiven. In: Leshwange, M., Liebig, R. (Hrsg.): Aufwachsen offensiv gestalten. Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit. Klartext, Essen, 17 - 50 Seckinger, M., Pluto, L., Peuker, C., Santen van, E. (2016): Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Eine empirische Bestandsaufnahme. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel