unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
51
2019
715
Polizei und Jugendhilfe im Kinderschutz
51
2019
Hannu Turba
Im Kinderschutz treffen Polizei und Kinder- und Jugendhilfe regelmäßig aufeinander. Die fragliche Schnittstelle ist von zunehmenden Kooperationserwartungen gekennzeichnet, birgt aber gleichzeitig immer wieder Konfliktpotenzial. Der Beitrag konturiert dieses Spannungsfeld vor dem Hintergrund wechselseitiger Wahrnehmungen und Rollenerwartungen der beteiligten Instanzen.
4_071_2019_005_0194
194 unsere jugend, 71. Jg., S. 194 - 200 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art32d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Polizei und Jugendhilfe im Kinderschutz Kooperationsschnittstellen und wechselseitige Wahrnehmungen Im Kinderschutz treffen Polizei und Kinder- und Jugendhilfe regelmäßig aufeinander. Die fragliche Schnittstelle ist von zunehmenden Kooperationserwartungen gekennzeichnet, birgt aber gleichzeitig immer wieder Konfliktpotenzial. Der Beitrag konturiert dieses Spannungsfeld vor dem Hintergrund wechselseitiger Wahrnehmungen und Rollenerwartungen der beteiligten Instanzen. von Dr. Hannu Turba Jg. 1980; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwesen (Abt. Sozialpolitik, Recht und Soziologie) der Universität Kassel Schnittstellen zwischen Polizei und Kinder- und Jugendhilfe sind seit langem ein prominentes Thema im Diskurs der Sozialen Arbeit. Die lebhaften, teils erbitterten Debatten kreisten dabei in der Vergangenheit vor allem um den Bereich der Jugenddelinquenz, wobei die verschiedenen Standpunkte selten durch empirische Untersuchungen untermauert worden sind (Pütter 2015, 2). Letzteres gilt erst recht für das Arbeitsfeld Kinderschutz, was angesichts der jüngsten gesetzgeberischen Bemühungen um „Kooperation“ und „Vernetzung“ in diesem Bereich erstaunen mag. Auch für die soziologische Grundlagenforschung ist das Thema von hoher Relevanz: Aus dieser Perspektive stellt der organisierte Kinderschutz ein Paradebeispiel für „institutionelle Komplexität“ dar, handelt es sich doch um ein Feld, in dem aufgrund der Vielzahl beteiligter Instanzen und Perspektiven regelmäßig „Welten aufeinander prallen“ (Turba 2018, 218). Beteiligt sind nicht nur Jugendämter und freie Träger der Jugendhilfe, sondern auch zahlreiche Akteure des Gesundheitswesens (z. B. ÄrztInnen, Hebammen) sowie aus Polizei und Justiz. Zum Kreis der denkbaren Reaktionsformen angesichts von Kindeswohlgefährdung zählen Hilfe und Kontrolle, Behandlung, Strafe oder Prävention, so dass das Kindeswohl treffend als „Grenzobjekt“ (Scheiwe 2013) beschrieben werden kann, bei dem letztlich keine Instanz die alleinige Deutungshoheit und Problemlösungskompetenz beanspruchen kann. Besonders delikat erscheint dieser Umstand dann, wenn Logiken und Zielrichtungen von Interventionen - etwa Hilfe und Strafe - Widersprüche aufweisen, so dass Schnittstellen zwischen Polizei und Kinder- und Jugendhilfe seit jeher ein besonderes Konfliktpotenzial bergen. 195 uj 5 | 2019 Polizei und Jugendhilfe im Kinderschutz So sehr die Stärkung solcher Schnittstellen im Rahmen der „Vernetzung“ unterschiedlicher Instanzen (spätestens seit dem Bundeskinderschutzgesetz von 2012) das gängige Credo von Steuerungsbemühungen im Kinderschutz darstellt und so sehr Akteure aus der Praxis für sich beanspruchen mögen, gemeinsam im Interesse betroffener Kinder und Familien zu handeln: Das Schlagwort „Kooperation“ ist hier letztlich immer mit Anführungszeichen zu versehen, weisen doch die Zielsetzungen der Interventionen nicht (oder jedenfalls nicht zwingend) in die gleiche Richtung. Umso interessanter erscheint die Frage, wie Fachkräfte aus Polizei und Jugendhilfe in der Praxis mit dem oben umrissenen Komplexitätspotenzial umgehen und Kooperationsansprüche konkret ins Werk setzen: Wie nehmen sie sich gegenseitig wahr, welche Rollen weisen sie sich zu und was erwarten sie voneinander? Der vorliegende Artikel nähert sich dieser Frage im Rückgriff auf eine empirisch-soziologische Studie, die sich mit im Kontext Kinderschutz oder Beziehungsgewalt spezialisierten BeamtInnen der Kriminalpolizei beschäftigte und auf einer Kombination aus Dokumentenanalysen, Interviews und teilnehmenden Beobachtungen in mehreren deutschen Kommunen basiert (Turba 2018). Der erste Abschnitt bereitet den gesetzlich-institutionellen Rahmen auf und vermittelt einen Überblick darüber, wie Schnittstellen zwischen Polizei und Jugendhilfe im Kinderschutz lokal organisiert sind. Der zweite Abschnitt referiert einige Schlaglichter mit Blick auf die Frage, wie PolizeibeamtInnen von Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe wahrgenommen werden und welche Erwartungen an diese gerichtet werden. Im dritten Abschnitt interessiert dann die umgekehrte Perspektive: Analysiert wird, wie die Akteure der Polizei ihre - stark von der Sozialarbeit geprägte - Berufsumwelt erleben und wie sie sich dazu verhalten. In einem abschließenden Fazit werden die beiden Blickwinkel gegenübergestellt, um vor diesem Hintergrund ein Reflexionsangebot für die Praxis zu formulieren. „Kooperation“ von Polizei und Jugendhilfe: Institutioneller Rahmen und lokale Organisation Um eine Vergewisserung über die fraglichen Schnittstellen der „Kooperation“ - diese Bezeichnung ist wie gesagt voraussetzungsvoll - zu ermöglichen, ist es zunächst erforderlich, den institutionellen Auftrag der Polizei und seine Einbettung in das Handlungsfeld Kinderschutz genauer zu betrachten. Während das Jugendamt im Rahmen des„Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung“ (§ 8 a SGB VIII) eine zentrale Rolle einnimmt, Hilfen organisiert und gemäß § 1666 BGB in letzter Konsequenz das Familiengericht anzurufen hat, umfasst der Aufgabenbereich der Polizei grundsätzlich Gefahrenabwehr und Strafverfolgung. Dabei ist von Bedeutung, dass es sich bei Gewalt oder Vernachlässigung zulasten von Kindern unter Umständen um eine Straftat handelt. In schweren Fällen greifen § 225 StGB (Misshandlung von Schutzbefohlenen) oder §171 StGB (Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht), während spätestens seit dem „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ aus dem Jahr 2000 auch leichtere Schädigungen (etwa eine Ohrfeige) grundsätzlich verboten sind und somit z. B. eine Körperverletzung (§ 223 StGB) darstellen können. Entscheidend ist nun, dass die Polizei in solchen Fällen keinen Ermessensspielraum hat: Dem sogenannten Legalitätsprinzip zufolge muss sie, wann immer sie Kenntnis von möglichen Straftaten erlangt, Ermittlungen einleiten. Dies ist mit Blick auf Kooperationsprozesse und den Informationsfluss im Kinderschutz hochrelevant: Denn wann immer das Jugendamt Hinweise an die Polizei weitergibt, muss es damit rechnen, dass ein Strafverfahren eingeleitet wird. Im Bereich der Gefahrenabwehr hat die Polizei dagegen - gemäß dem Opportunitätsprinzip - durchaus einen Ermessensspielraum, und mit Blick auf den Kinderschutz greifen hier weitere spezielle Regelungen. So folgt die seit 1996 in 196 uj 5 | 2019 Polizei und Jugendhilfe im Kinderschutz allen Bundesländern geltende Polizeidienstvorschrift 382 zur „Bearbeitung von Jugendsachen“ dem Grundsatz „Prävention geht vor Repression“ (DVJJ 1997; Bindel-Kögel et al. 2004, 67). Wenn Minderjährige betroffen sind oder Maßnahmen der Jugendhilfe in Frage kommen, muss die Polizei das Jugendamt hinzuziehen. Vorgesehen ist zudem der Einsatz spezialisierter „JugendsachbearbeiterInnen“ bei der Polizei. Diese Kooperationsgebote und -schnittstellen erfahren in den Kommunen nähere Ausformung, wobei die konkrete lokale Organisation vielgestaltig ist. Darauf verweisen schon die Bezeichnungen unterschiedlicher Spezialisierungen bei der Polizei: Vor Ort arbeiten z. B. JugendsachbearbeiterInnen und -koordinatorInnen, bürgernahe Beamte, Jugend-, Präventions-, Opferschutz- oder Kinderschutzbeauftragte, BeziehungsgewaltsachbearbeiterInnen oder spezialisierte Abteilungen für Gewalt in engen sozialen Beziehungen, häusliche Gewalt, Gewalt gegen Frauen und Kinder bzw. an Schutzbefohlenen (Turba 2018, 177f ). Hinzu kommen verschiedene Vernetzungsstrukturen in Gestalt von Arbeitskreisen oder Gremien, bei denen VertreterInnen von Polizei und Kinder- und Jugendhilfe regelmäßig zusammentreffen. Meldungen der Polizei an das Jugendamt sind üblicherweise obligatorisch, während umgekehrt (aufgrund des Grundsatzes „Hilfe vor Strafe“) seltener Hinweise erfolgen - ein Umstand, der seitens der Polizei zuweilen kritisch als „Einbahnstraße“ umschrieben wird (Meysen 2012, 49). Hier deuten sich also bereits Konflikte an, die unmittelbar mit dem institutionellen Rahmen zusammenhängen. Insbesondere der Strafverfolgungszwang der Polizei löst bei anderen Instanzen des Kinderschutzsystems nicht selten Misstrauen aus, da ein Einschreiten der Polizei als Hindernis für wirksame Hilfeprozesse angesehen wird. Bemerkenswert ist indes, dass sich die Polizei in den letzten Jahren verstärkt an Fachdiskursen rund um den Kinderschutz beteiligt hat (Turba 2018, 182ff; Turba 2014, 287ff ). Daraus sind u. a. diverse Leitfäden und Infomaterialien entstanden - etwa unter der Überschrift „Kinderschutz geht alle an“ (ProPK 2010). Gleichzeitig sind vielerorts Spezialisierungen geschaffen oder ausgebaut worden. Man mag dies als Anhaltspunkt für Bemühungen um Kooperation und Annäherung seitens der Polizei deuten - oder auch als Versuch, polizeiliche Handlungslogiken im Kinderschutz stärker zu verankern. In einer Situation, in der die Vernetzung unterschiedlicher Instanzen zunehmend großgeschrieben wird, sind diese Entwicklungen jedenfalls Ausdruck einer Reaktion auf bestimmte gesellschaftliche Erwartungen, die - auch jenseits institutioneller Festlegungen - an die Polizei herangetragen werden. So haben etwa Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe eine bestimmte Vorstellung davon, welche Rolle die Polizei im Kinderschutz idealerweise einnehmen sollte. Solche Umwelterwartungen werden im Folgenden in Grundzügen rekonstruiert. Wahrnehmung der Polizei und Rollenerwartungen seitens der Sozialarbeit Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf einer Sekundäranalyse von mehr als 100 Interviews mit unterschiedlichen Akteuren des Kinderschutzsystems (Turba 2018, 190ff; Bode/ Turba 2014), wobei zur Illustration einige Originalzitate aus dem Feld in den Text übernommen werden. Bei den Befragten handelte es sich größtenteils um Fachkräfte aus dem Bereich der (öffentlichen und freien) Kinder- und Jugendhilfe, die im Interview (u. a.) eigene Wahrnehmungen der Rolle der Polizei im Arbeitsfeld Kinderschutz und darauf gerichtete Erwartungen formulierten. Ein zentrales Motiv der Darstellungen ist die Auseinandersetzung mit dem gesetzlichen Auftrag der Polizei. Mit Blick auf Strafverfolgung erwachsen Konflikte vor allem daraus, dass die Polizei hier (wie oben skizziert) über keinen Ermessensspielraum verfügt, sondern 197 uj 5 | 2019 Polizei und Jugendhilfe im Kinderschutz bei jedem Verdacht auf eine Straftat Ermittlungen einleiten muss, was bei Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe - wenig überraschend - Skepsis auslöst. Zumindest ist die Frage nach dem Sinn und Zweck von Strafe aus ihrer Sicht zunächst einmal offen und - wie es eine Befragte ausdrückt - stets „fachlich zu beantworten“. Zwar sind durchaus Konstellationen denkbar, in denen Strafe konstruktive Lösungen ermöglicht - etwa zum unmittelbaren Schutz des Kindes, im Sinne einer Rehabilitation des „Täters“ oder auch, um in ausweglosen Situationen „Druck“ aufzubauen und so den „Kreislauf (der Gewalt) zu unterbrechen“. In aller Regel werden aber unterstützende, familienerhaltende Maßnahmen als vorrangig angesehen, weshalb von der Polizei erwartet wird, Beurteilungen der Jugendhilfe zur Kenntnis zu nehmen und entsprechend differenziert zu agieren. Mit Blick auf Gefahrenabwehr - ein Auftrag, den Polizei und Jugendamt gewissermaßen teilen - verhält es sich ähnlich: Diesbezüglich wird der Polizei zuweilen ein mangelndes Verständnis für Arbeitsweisen der Kinder- und Jugendhilfe attestiert. Ansprüche an das Jugendamt, härter durchzugreifen und so das Problem aus der Welt zu schaffen, gelten als überhöht, da dieses letztlich nicht „verordnen kann, wie Menschen zu leben haben“. Hier wird also von der Polizei erwartet, sowohl bestimmte Grenzen des Möglichen als auch Grenzen ihrer eigenen Zuständigkeit zu respektieren. All dies hat nicht nur mit abstrakten Funktionsbestimmungen von Polizei und Jugendhilfe zu tun, sondern hat praktische Konsequenzen im Alltag der Organisationen. Aus dem Ermittlungsauftrag der Polizei erwachsen aus Sicht der Jugendhilfe z. B. nicht selten übersteigerte Informationsbedürfnisse, wobei eingefordert wird, diese zumindest soweit zurückzuhalten, dass Vertrauensverhältnisse und damit die Grundlagen der Zusammenarbeit mit Kindern und Familien nicht angegriffen werden. Als produktiv gelten dementsprechend Arrangements, die zunächst einen anonymen Informationsaustausch und insoweit „entlastete“ wechselseitige Beratungen zwischen Polizei und Jugendhilfe ermöglichen. Weitere Irritationen erwachsen nicht nur aus unterschiedlichen institutionellen Aufträgen, sondern auch aus bestimmten Organisationskulturen. So folgt die Polizei aus Sicht der Jugendhilfe häufig bürokratischen Automatismen („Klare Regel, Lage, Angriff, Sache erledigt“), was sich auch auf die wechselseitige Delegations- und Meldepraxis auswirkt. Dementsprechend wünscht man sich wiederum mehr Dialog und eine Haltung der Polizei, die die Komplexität und Dynamik einer Arbeit „mit Menschen“ zur Kenntnis nimmt. Diese Erwartung betrifft schließlich auch das Verhalten jedes einzelnen Polizeibeamten vor Ort. Das Streben nach „einfachen Lösungen“ gilt hier als kontraproduktiv, vielmehr wird von VertreterInnen der Polizei ein hohes Maß an Sensibilität verlangt - und sei es nur dadurch, dass man (im Bereich der Schutzpolizei) auch mal „ohne Uniform“ auftritt, um dadurch Konfrontationen (und mögliche Eskalationen) zu vermeiden. Am Ende darf jedoch nicht vergessen werden: Die Polizei liefert häufig initiale Hinweise auf Kindeswohlgefährdung; und droht Gefahr im Verzug, so ist die Kinder- und Jugendhilfe regelmäßig auf ihre Unterstützung angewiesen: Insofern sind PolizeibeamtInnen (zumindest in Assistenzfunktionen) willkommene „Kooperationspartner“ im Kinderschutz. Zugleich aber wünschen sich Ko-Akteure der Polizei den sprichwörtlichen „Freund und Helfer“, was hohe - und unter Umständen widersprüchliche - Anforderungen zur Folge hat. Die Umwelt erwartet von der Polizei „konsequenten Druck und Verhältnismäßigkeit; Engagement und Zurückhaltung; Informationsübermittlung und Vertraulichkeit; effiziente Zuarbeit und eigene differenzierte Abwägungen; Machtdemonstrationen und Eskalationsvermeidung; Komplexitätsreduktion und Kontextsensibilität“ (Turba 2018, 217). 198 uj 5 | 2019 Polizei und Jugendhilfe im Kinderschutz Vieles davon scheint nur schwer miteinander vereinbar. Im Weiteren wird die Perspektive umgekehrt, um zu erhellen, wie PolizeibeamtInnen mit diesem Spannungsfeld umgehen. Wahrnehmung der Sozialarbeit und Rollenerwartungen seitens der Polizei Die nachfolgend rekonstruiertenWahrnehmungen seitens der Polizei basieren auf teilnehmenden Beobachtungen und Leitfadeninterviews mit spezialisierten KriminalbeamtInnen, die im Rahmen der o. g. Studie durchgeführt wurden (Turba 2018, 218ff ). Wie dargestellt, bewegen sich diese Akteure im Kinderschutz in einer spezifischen Berufsumwelt und sind vielfältigen Erwartungen ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund gilt die Analyse sowohl Deutungen der eigenen Rolle als auch Erwartungen, die Polizeiangehörige ihrerseits gegenüber anderen Beteiligten des Kinderschutzsystems (vor allem in der Kinder- und Jugendhilfe tätigen SozialarbeiterInnen) formulieren. Ähnlich wie das Jugendamt ist die Polizei zur Erfüllung ihrer Aufgaben grundsätzlich auf Informationen anderer Instanzen angewiesen - und bleiben diese aus, so entstehen im Alltag Schwierigkeiten und Reibungspunkte. So wird die Tatsache, dass Kinderärzte oder Jugendämter unter Berufung auf Datenschutz und Schweigepflicht eher selten Informationen an die Polizei weitergeben, einerseits als beklagenswert dargestellt. Ausgehend von der Erkenntnis, dass eine Strafverfolgung unter Umständen dazu führt, dass Vertrauensbeziehungen und damit wirksame Hilfeprozesse unterwandert werden, zeigt man aber andererseits durchaus Verständnis für diese Zurückhaltung und versucht gegebenenfalls, gezielt „Transparenz“ hinsichtlich der eigenen Rolle herzustellen. Jugendämtern wird zuweilen ein zu „nachlässiges“ Vorgehen attestiert. So wären Inobhutnahmen im Sinne akuter Gefahrenabwehr aus Sicht der Polizei oft früher angezeigt. Zudem äußern die Befragten den Eindruck, dass seitens der Jugendhilfe eher die Unterstützung von Familien als Ganzes als das unmittelbare Wohl der betroffenen Kinder im Mittelpunkt stehe. Zwar wird eine „Besserung“ misshandelnder Eltern nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Zur Erreichung dieses Ziels werden jedoch stärker durchgreifende und direktive Maßnahmen als die klassischen Hilfen zur Erziehung favorisiert. Bei SozialarbeiterInnen vermisst man Durchsetzungsvermögen, Entscheidungssicherheit und „klare Ansagen“, so dass diesen verbreitet eine „weichgespülte“ Sichtweise zugeschrieben wird. Die Polizei spart also nicht an Kritik an der Sozialarbeit, und die genannten, teilweise fast schon klischeehaft anmutenden Darstellungen - „harte“ Polizei hier, „weiche“ Sozialarbeit dort - fügen sich auf den ersten Blick bruchlos in althergebrachte Rollenzuschreibungen ein. Indes ist dies wiederum nur die halbe Wahrheit: Denn an anderen Stellen äußern zum Teil ein- und dieselben polizeilichen Akteure Verständnis für die Situation der Kinder- und Jugendhilfe, die man nicht nur finanziellen Zwängen ausgesetzt sieht, sondern auch anerkennt, dass sie aufgrund ihres gesetzlichen Auftrags „mit“ den Familien arbeiten muss. In diesem Zusammenhang zeigen sich PolizeibeamtInnen durchaus selbstkritisch mit Blick auf eigene Ansätze und sind bestrebt, ihre Kompetenzen nicht zu überschreiten oder nicht durch übermäßige Konfrontationen durch die Jugendhilfe angestoßene Hilfeprozesse zu unterwandern. Was die wechselseitige Kommunikation angeht, gilt eine Haltung als angezeigt, die den jeweils eigenen Ansatz transparent macht und eine „Einmischung“ in die Zuständigkeiten des Gegenübers vermeidet. Langjährige MitarbeiterInnen der Polizei beschreiben diese Haltung als Ergebnis eines Annäherungsprozesses, bei dem beide Seiten ein Stück weit aufeinander zugegangen seien. Dies verdichtet sich z. B. in dem Standpunkt, dass 199 uj 5 | 2019 Polizei und Jugendhilfe im Kinderschutz man doch letztlich „am Gleichen arbeite“. Angesichts von Unterschieden in den offiziellen Organisationszuschnitten von Polizei und Jugendamt sieht man vor allem im informellen Austausch, auf der Ebene einzelner Fachkräfte - zum Teil im Kontext persönlicher Bekanntschaften - Spielräume für echte „Zusammenarbeit“. Dabei mag auch ins Gewicht fallen, dass im Kontext Kinderschutz spezialisierte PolizeibeamtInnen ihren Tätigkeitsschwerpunkt häufig vor dem Hintergrund eines individuellen sozialen Engagements wählen - berufskulturell gehen sie damit ein Stück weit auf Distanz zur eigenen Organisation, während diese Ausrichtung gleichzeitig Schnittstellen für interorganisationale Kooperation öffnen könnte. Tatsächlich verstehen manche BeamtInnen ihre Rolle zumindest teilweise als sozialprofessionelle Tätigkeit. So stellt das Bild eines „Sozialarbeiters in Uniform“ im Feld eine gängige Selbstbeschreibung dar. Hier zeigt sich eine intrinsische Motivation zur Arbeit „mit Menschen“, wobei die Möglichkeit, im Rahmen der eigenen Tätigkeit auch „soziale Aspekte“ zu bearbeiten und für das betroffene Kind eine „Wirkung“ zu erzielen, eine treibende Kraft darstellt. Die Idealvorstellung einer Kooperation zwischen Polizei und Kinder- und Jugendhilfe besteht aus Sicht der Befragten dementsprechend in Arrangements, bei denen beide Seiten - etwa im Rahmen spezieller Fallkonferenzen - tatsächlich Hand in Hand an gemeinsamen Lösungen arbeiten können. Im Alltag ist dies jedoch alles andere als einfach zu bewerkstelligen und in hohem Maße abhängig von der konkreten Fallkonstellation und dem Kreis der individuell beteiligten Fachkräfte. So sind in der Praxis immer wieder Situationen zu beobachten, in denen sich PolizeibeamtInnen auf traditionelle Rollen zurückziehen, was nicht nur dem Legalitätsprinzip geschuldet ist, sondern auch mit eingeschliffenen Berufskulturen oder den Dynamiken des jeweiligen Falls zusammenhängen kann. Auch die Kinder- und Jugendhilfe trägt - im Rahmen widersprüchlicher Erwartungen an die Polizei (s. o.) - unter Umständen dazu bei, dass Kooperationsprozesse ins Leere laufen. Denn schließlich ist für beide Seiten die Versuchung groß, bestimmte Aufgaben in unreflektierter Weise an die jeweils andere Instanz zu „delegieren“ - oder aber eigene Arbeitsprinzipien über Kompetenzgrenzen hinweg auf andere Bereiche zu übertragen und so gewissermaßen „Kolonialisierung“ (Möller 2010, 9f ) zu betreiben. „Echte“ Kooperation - im Sinne von vertrauensvoller Verständigung, Rücksichtnahme und Arbeit an gemeinsamen Zielen - sieht anders aus. Gibt es Auswege aus diesem Dilemma? Fazit Bei aller Begeisterung für „Vernetzung“ in gegenwärtigen Fachdebatten ist festzuhalten: Kooperation im Kinderschutz ist und bleibt ein voraussetzungsvolles Projekt. Dies gilt auch und insbesondere für die Schnittstelle zwischen Polizei und Kinder- und Jugendhilfe, wo von gemeinsamen Zielen - einer entscheidenden Grundlage jeglicher „Kooperation“ - letztlich nur eingeschränkt die Rede sein kann. Soziologisch betrachtet sind angesichts von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung nachhaltige Hilfe und strafrechtliche Sozialkontrolle gesellschaftlich gleichermaßen legitime Anliegen. Diese müssen daher auch gleichzeitig bedient werden, wobei ihre Bearbeitung im Rahmen funktionaler Differenzierung unterschiedlichen Instanzen zugewiesen ist, die disparaten Logiken folgen. Daraus folgt - wie eingangs angedeutet - „institutionelle Komplexität“. Zwar mögen sich individuelle Fachkräfte beider Seiten als „Verbündete“ begreifen - diese haben gewiss Gutes im Sinn und ihr Engagement ist insofern nicht genug zu würdigen. Auch soll nicht in Abrede gestellt werden, dass eingespielte Arrangements wechselseitiger Kommunikation vor Ort gut funktionieren mögen. Und doch bleibt Polizei am Ende des Tages eben doch Polizei: PolizistInnen sind ebenso wenig „Erfüllungsgehilfen“ der Sozialarbeit wie SozialarbeiterInnen „HilfspolizistInnen“ sind. 200 uj 5 | 2019 Polizei und Jugendhilfe im Kinderschutz Dies ist jedoch ausdrücklich kein Appell, nicht miteinander zu reden. Im Gegenteil: Fachkräfte aus Polizei und Jugendhilfe müssen zunächst einmal wissen, woran sie bei der jeweils anderen Seite sind und womit sie zu rechnen haben. Insofern gilt es, schon in der fachlichen Ausbildung Transparenz über institutionelle Aufträge und Handlungslogiken herzustellen. Ebenso wichtig ist, sich in der Praxis vor Ort persönlich über wechselseitige Wahrnehmungen, Erwartungen und Rollenzuschnitte auszutauschen. Dies erfordert ein Mindestmaß an Vertrauen, gegenseitiger Rücksichtnahme sowie die Fähigkeit, sich auf andere Perspektiven einzulassen - ohne sie sich notwendigerweise zu eigen zu machen. Dafür müssen Räume des Dialogs geschaffen werden, in denen Polizei und Kinder- und Jugendhilfe auf Augenhöhe und entlastet von alltäglichen Reibungspunkten ehrlich miteinander kommunizieren können - auch über Widersprüche und Grenzen des jeweils eigenen Ansatzes. Dies ist jedoch leichter gesagt als getan: „Gelebte“ Kooperation vor Ort sorgt nämlich erwiesenermaßen keineswegs automatisch für „Synergien“ (Bode/ Turba 2014, 340), sondern ist zunächst einmal harte Arbeit, die viel Energie, Zeit und damit auch Geld kostet. Wenn das allgegenwärtige Vernetzungsgebot im Kinderschutz kein Lippenbekenntnis bleiben soll, müssen die beteiligten Akteure also gezielt in die Lage versetzt werden, den an sie gerichteten hohen Anforderungen gerecht zu werden. Dr. rer. pol. Hannu Turba Universität Kassel Institut für Sozialwesen Arnold-Bode-Straße 10 34127 Kassel Tel. (05 61) 8 04-29 69 E-Mail: h.turba@uni-kassel.de Literatur Bindel-Kögel, G., Heßler, M., Münder, J. (2004): Kinderdelinquenz zwischen Polizei und Jugendamt. Lit, Münster Bode, I., Turba, H. (2014): Organisierter Kinderschutz in Deutschland. Strukturdynamiken und Modernisierungsparadoxien. Springer VS, Wiesbaden, http: / / dx. doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-03354-5 [DVJJ 1997] Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. (Hrsg.) (1997): Polizeidienstvorschrift (PDV) 382.„Bearbeitung von Jugendsachen“. DVJJ-Journal 155 (1), 5 - 21 Meysen, T. (2012): Das Recht zum Schutz von Kindern. In: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (Hrsg.): Vernachlässigte Kinder besser schützen. Sozialpädagogisches Handeln bei Kindeswohlgefährdung. Ernst Reinhardt, München, 17 - 57 Möller, K. (Hrsg.) (2010): Dasselbe in grün? Aktuelle Perspektiven auf das Verhältnis von Polizei und Sozialer Arbeit. Juventa, Weinheim/ München [ProPK 2010] Programm Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes (2010): Kinderschutz geht alle an. Gemeinsam gegen Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Stuttgart Pütter, N. (2015): Polizei und Soziale Arbeit. Eine Bibliographie. Bürgerrechte & Polizei/ CILIP 108(2). In: http: / / archiv.cilip.de/ Hefte/ Supplement_108_Literatur_Poli zei_Sozialarbeit.pdf, 3. 1. 2019 Scheiwe, K. (2013): Das Kindeswohl als Grenzobjekt - die wechselhafte Karriere eines unbestimmten Rechtsbegriffs. In: Hörster, R., Kongeter, S., Müller, B. (Hrsg.): Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge. Springer VS, Wiesbaden, 209 - 231, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-18953-6_9 Turba, H. (2014): Soziale Sensibilität in der Berufswelt von Polizeibeamten zwischen programmatischem Anspruch und Alltagsrelevanz. In: Sander, T. (Hrsg.): Habitussensibilität. Eine neue Anforderung an professionelles Handeln. Springer VS, Wiesbaden, 281 - 302, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-06887-5_12 Turba, H. (2018): Die Polizei im Kinderschutz. Zur Verarbeitung institutioneller Komplexität in hybriden Berufswelten. Springer VS, Wiesbaden, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-658-19658-5
