unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Zur Diskussion: Symmetrische Eskalation als Antwort auf "Chaos Kids"?
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Thomas Feld
Gibt es sie wirklich, diese „Chaos Kids“? „Jugendliche Intensivtäter“, die mit kaum zehn Jahren Hunderte von Autos geknackt und durch die Stadt bewegt haben? Gibt es sie, die „Systemsprenger“, die jedes Hilfesystem an den Rand der Verzweiflung bringen? Achtjährige Mädchen, die „pädagogisch nicht erreichbar“ sind? Wenn es sie gibt, dann erfordert ihre Existenz natürlich ganz besondere pädagogische Maßnahmen. [...]
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224 unsere jugend, 71. Jg., S. 224 - 226 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art37d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zur Diskussion: Symmetrische Eskalation als Antwort auf „Chaos Kids“? von Thomas Feld Jg. 1958; Studium der Theologie und Sozialpädagogik M. A., Theologischer Vorstand Diakonisches Werk der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg Gibt es sie wirklich, diese„Chaos Kids“? „Jugendliche Intensivtäter“, die mit kaum zehn Jahren Hunderte von Autos geknackt und durch die Stadt bewegt haben? Gibt es sie, die „Systemsprenger“, die jedes Hilfesystem an den Rand der Verzweiflung bringen? Achtjährige Mädchen, die „pädagogisch nicht erreichbar“ sind? Wenn es sie gibt, dann erfordert ihre Existenz natürlich ganz besondere pädagogische Maßnahmen. So berichtet ein Bereichsleiter einer Jugendhilfeeinrichtung auf einer Fachtagung von einem Konzept einer Wohngruppe für Kinder und Jugendliche, die im Verhältnis 1 : 1 betreut werden. Mit unternehmerischem Kalkül wird ergänzt, dass Jugendämter bereit seien, ein solches Konzept mit einem Tagessatz zu stützen, der mindestens das Dreifache gängiger Tagessätze ausmachen würde. Gibt es sie, diese Kinder und Jugendlichen - nicht mehr ansprechbare, menschlichem Verstehen unzugängliche „Non Responder“, vor denen jedes pädagogisch begründete Verhalten versagt und nur noch die dramatischsten Maßnahmen sinnvoll erscheinen? Oder - und das scheint mir wahrscheinlicher - handelt es sich bei der Wahrnehmung der betroffenen Kinder und der Konzeptionierung der fraglichen Maßnahmen um eine nach dem Modus des „Mehr-Desselben“ funktionierende symmetrische Eskalation, bei der das Handeln des einen mehr desselben Handelns des anderen und umgekehrt auslöst (zum Begriff der symmetrischen Eskalation vgl. Bateson 1985)? Dies bedeutet hier: Der dramatisierenden Fokussierung auf Verhaltensauffälligkeiten bei den betroffenen Kindern wird mit dramatischen Maßnahmen entsprochen. Diese Maßnahmen erhöhen wiederum die „Monstrosität“ der Kinder in der Wahrnehmung der verantwortlichen PädagogInnen. Dies wiederum erfordert noch radikalere Maßnahmen und so weiter, bis man bei „verhaltenstherapeutischen“ Konzepten landet, die sich von einem ausgeklügelten Sadismus kaum mehr unterscheiden lassen (Kessel/ Lorenz 2016) oder bei einem „Bodyguard“, einem Mitarbeitenden eines Sicherheitsdienstes, der einem „nun wirklich ganz schlimmen“ Mädchen neben zwei PädagogInnen zur Seite gestellt wird. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich die zwanghafte Lust auszumalen, die es dem Mädchen machen wird, auch noch dieses Setting auszuhebeln. Dann aber wäre man in einem reinen Gewalt- 225 uj 5 | 2019 „Chaos Kids“ kontext und käme zurück zu einer Pädagogik der fünfziger und sechziger Jahre, mit deren Aufarbeitung wir gerade erst begonnen haben. Ich erkläre mir diese Neigung professioneller Pädagogik zu symmetrischen Eskalationen aus einer Ambivalenz, die den modernen Begriff der Kindheit und mehr noch den der Jugend von Anfang an begleitet: Kindheit und Jugend werden einerseits messianische Qualitäten zugeschrieben. Insbesondere durch Jugendbewegung und Jugendkultur wird ein Diskurs etabliert, in dem sich mit Jugend die Hoffnung auf eine heilere, bessere, friedvollere, naturverbundenere, schönere Zukunft verbindet. Gleichzeitig weist der Diskurs über Jugend apokalyptische Züge auf: Jugend als Zeit der Gefährdung und entgleitende Jugend als Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhangs (Rutschky 1985). So begleitet den Diskurs über Jugend von Anfang an die Entdeckung neuer Gefährdungspotenziale: ➤ Gefährdung der Gesellschaft durch eine Verwahrlosung der Jugend durch die Verlockungen der Großstadt ➤ Gefährdung durch abnehmende intellektuelle Fähigkeiten durch eine zu frühe Konfrontation mit sexuellen Verlockungen (Spranger 1926: 137) ➤ Gefährdung durch eine skeptische Generation (Schelsky 1963, 74ff ), die von einer narzisstisch geprägten (Ziehe 1975) abgelöst wird Mit schöner Regelmäßigkeit können wir auch den Shell-Jugendstudien das jeweils aktuelle Gefährdungspotenzial entnehmen: 1997 beschreibt die 12. Jugendstudie eine pessimistische Generation, die ohne Hoffnung für die eigene und die gesellschaftliche Zukunft ist (Jugendwerk der Deutschen Shell 1997). Fünf Jahre später ist nach den Ergebnissen der 14. Jugendstudie die neue Generation „Jugend 2002“ zwar optimistischer, ihr fehlt jedoch die klare Wertorientierung (Hurrelmann u. a. 2003). 2006 sehen wir eine Jugend ohne Träume und kreatives Potenzial aufwachsen (Hurrelmann u. a. 2006), und 2010 stellt uns die Studie eine Generation vor, die den auf ihr lastenden Druck in Gewaltbereitschaft und Fremdenfeindlichkeit auslebt oder sich in Drogen, Computersucht und Depressionen flüchtet (Albert u. a. 2010). Jugend zwischen Messianismus und Apokalyptik - PädagogInnen lassen sich scheinbar zu verzerrten Wahrnehmungen in beide Richtungen verführen, neigen zu Idealisierungen und zur Übernahme apokalyptischer Zukunftsvisionen. Es ist vor allem ein pädagogischer Blick, dem die gegenwärtige Generation gefährdeter erscheint als die jeweils vorhergehende - ein pädagogischer Blick, der zuweilen auch drastische Maßnahmen empfiehlt (gut dokumentiert bei Rutschky 1997). Was ist zu tun? Abschied von symmetrischen Eskalationen! Mehr desselben wird mehr desselben hervorbringen, mehr pädagogische Kontrolle, mehr jugendliche Gewalt - bis zur Überwältigung und Unterwerfung. Symmetrische Eskalationen sind durch komplementäre Verhaltensmuster zu ersetzen. Auf Stärke darf nicht mit Stärke, auf Gewalt nicht mit institutioneller Gewalt reagiert werden. Natürlich: Manche Jugendlichen, ja vielleicht manche Kinder schon, „provozieren“. Sie rufen, fordern uns heraus. Sie machen einen Anspruch geltend, dem mit herkömmlichen Mitteln nicht entsprochen werden kann. Sie fordern kreative Antworten, fordern Erfindungsgabe und eine Einstellung, der bewusst bleibt, dass zwischen Antwort und Anspruch eine uneinholbare Lücke bleibt, die die Hoffnung auf letztgültige Antworten trügerisch erscheinen lässt (zur Responsivität vgl. Waldenfels 1998). Kreative, dem Anspruch des einzelnen Jugendlichen entsprechende Antworten werden allerdings nicht im Rahmen einer Jugendhilfe gefunden, die sich entsprechend einer Metapher des Marktes versteht, auf dem Leistungsangebote miteinander konkurrieren, auf die die Jugendämter für jeweils passende Jugendliche zurückgreifen. Es muss darum gehen, sich neu ansprechen zu lassen, die einzelne Jugendliche, das einzelne Kind in ihrer jeweiligen Lebenswelt 226 uj 5 | 2019 „Chaos Kids“ wahrzunehmen, hinter der Provokation vielleicht einen höchst legitimen Kampf um Anerkennung und hinter der provozierenden Gewalt die Reaktion auf eine vorhergehende Normverletzung zu entdecken - Entdeckungen, die anderes, komplementäres Antworten ermöglichen. Thomas Feld Diakonisches Werk der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg Kastanienallee 9 - 11 26121 Oldenburg Literatur Albert, M., Hurrelmann, K., Quenzel, G., TNS Infratest Sozialforschung (2010): Jugend 2010. 16. Shell Jugendstudie. Fischer, Frankfurt Bateson, G. (1985): Die Kybernetik des „Selbst“: Eine Theorie des Alkoholismus. In: Ders.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Suhrkamp, Frankfurt Hurrelmann, K., Albert, M., TNS Infratest Sozialforschung (2003): Jugend 2002. 14. Shell Jugendstudie. Fischer, Frankfurt Hurrelmann, K., Albert, M., TNS Infratest Sozialforschung (2006): Jugend 2006. 15. Shell Jugendstudie. Fischer, Frankfurt Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.) (1997): Jugend ’97. Zukunftsperspektiven, gesellschaftliches Engagement, politische Orientierungen. Leske + Budrich, Opladen Kessl, F., Lorenz, F. (2016): Gewaltförmige Konstellationen in den stationären Hilfen - Eine Fallstudie (= Beiträge zu Theorie und Praxis der Jugendhilfe 16). EREV, Hannover Rutschky, K. (1985): Krankheit Jugend. Strategien wissenschaftlicher Humanorganisation. Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 39 (442), 1105 - 1116 Rutschky, K. (Hrsg.) (1997): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Pädagogik. Ullstein, München Schelsky, H. (1963): Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend. Diederichs, Düsseldorf/ Köln Spranger, E. (1926): Psychologie des Jugendalters. Quelle & Meyer, Leipzig Waldenfels, B. (1998): Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2. Suhrkamp, Frankfurt Ziehe, T. (1975): Pubertät und Narzißmus. Sind Jugendliche entpolitisiert? Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt
