eJournals unsere jugend 71/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Freundschaft 2.0?

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2019
Horst Heidbrink
Wie werden Freundschaftsbeziehungen definiert? Wie entwickeln sich Freundschaftskonzepte von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter? Welche spezifischen Einflüsse hat das Internet auf Freundschaftsbeziehungen?
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242 unsere jugend, 71. Jg., S. 242 - 249 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art41d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Freundschaft 2.0? Freundschaftsbeziehungen im Wandel Wie werden Freundschaftsbeziehungen definiert? Wie entwickeln sich Freundschaftskonzepte von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter? Welche spezifischen Einflüsse hat das Internet auf Freundschaftsbeziehungen? von Dr. Horst Heidbrink Jg. 1950; Dipl.-Psychologe, Dozent, Lehrbeauftragter Einleitung Die vor einigen Jahren vehement vertretene medien- und kulturkritische Befürchtung, dass Freundschaften durch die Kommunikation via Internet irgendwie „entwertet“ würden, sich in ihnen die „wahren“ Freundschaften des Real- Lifeinnebulöse, kurzfristige Pseudofreundschaften verwandelten (vgl. Deresiewicz 2009), haben sich nicht bewahrheitet und werden heute kaum noch vertreten. Es spricht wenig dafür, dass sich Freundschaftsbeziehungen heute grundlegend von Freundschaften in früheren Zeiten unterscheiden. Was ist dann mit der Rede von einer Freundschaft 2.0 gemeint? Zunächst einmal nur, dass die Kommunikation innerhalb einer Freundschaft nicht „live“ von Angesicht zu Angesicht erfolgt, sondern über das Internet, konkret über soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram, Snapchat oder Messenger-Dienste wie Whatsapp. Diese technisch neuen Formen der Kommunikation beeinflussen soziale Beziehungen, insbesondere in Bezug auf die gegenseitige Erreichbarkeit. Auch per Telefon oder Brief ließen und lassen sich räumliche Entfernungen überwinden, aber doch mit jeweils deutlichen Einschränkungen (Zeitdauer, Erreichbarkeit etc.) gegenüber den vielfältigen kommunikativen Möglichkeiten, die das Internet anbietet. Was sind Freundschaftsbeziehungen? Große Übereinstimmung besteht bei der Bedeutung, die Freundschaften zugeschrieben wird: Für 85 % der Befragten einer repräsentativen Studie (N = 1648, ab 14 Jahre) waren Freundschaften besonders wichtig. Dieser Anteil war höher als der Anteil derjenigen, für die beispielsweise die eigene Familie (78 %), eine glückliche Partnerschaft (75 %) oder Erfolg im Beruf (54 %) besonders wichtig sind (Allensbach 2014, 1). Freundschaftsdefinitionen Eine eher beschreibende Definition von Freundschaften geben Argyle und Henderson (1990): „Freunde sind Menschen, die man mag, deren Gesellschaft man genießt, mit denen man Interessen und Aktivitäten teilt, die hilfreich und verständnisvoll sind, denen man vertrauen kann, mit denen man sich wohl fühlt und die emotionale Unterstützung gewähren.“ 243 uj 6 | 2019 Freundschaftsbeziehungen im Wandel Auhagen (1991; 1993) schlägt nach kritischer Durchsicht unterschiedlicher wissenschaftlicher Definitionen vor, Freundschaft folgendermaßen zu bestimmen: „Freundschaft ist eine dyadische, persönliche, informelle Sozialbeziehung. Die beiden daran beteiligten Menschen werden als Freundinnen oder Freunde bezeichnet. Die Existenz der Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit; sie besitzt für jede(n) der Freundinnen/ Freunde einen Wert, welcher unterschiedlich starkes Gewicht haben und aus verschiedenen inhaltlichen Elementen zusammengesetzt sein kann. Freundschaft wird zudem durch folgende weitere essentielle Kriterien charakterisiert: Freiwilligkeit - bezüglich der Wahl, der Gestaltung und des Fortbestandes der Beziehung; zeitliche Ausdehnung - Freundschaft beinhaltet einen Vergangenheits- und einen Zukunftsaspekt; positiver Charakter - unabdingbarer Bestandteil von Freundschaft ist das subjektive Erleben des Positiven; keine offene Sexualität“ (Auhagen 1993, 217). Kritisieren kann man an dieser Definition, dass in ihr explizit formelle Beziehungen ausgeschlossen werden. So gibt es Untersuchungen, nach denen Männer relativ häufig eine Frau als „best friend“ bezeichneten, wobei sie meist ihre Ehefrauen meinten (vgl. Lowenthal/ Thurnher et al. 1975; Rubin 1985). Diskutieren ließe sich auch das Ausschließen von Sexualität, mit dem Auhagen eine deutliche Grenze zwischen Freundschafts- und Liebesbeziehungen markiert. Merkmale von Freundschaften Freundschaften beruhen auf Gegenseitigkeit - dies klingt wie eine Binsenweisheit. Wie kann man mit jemandem befreundet sein, der diese Freundschaft nicht erwidert? Interessanterweise hält diese Vermutung einer empirischen Überprüfung nur bedingt stand. In einer Studie mit 84 Studierenden der Universität Tel Aviv überprüften Almaatouq et al. (2016) die Reziprozitätsannahme bei Freundschaftsbeziehungen. 94 % der Befragten gingen davon aus, dass ihre Freundschaftsangaben bestätigt würden. Tatsächlich geschah dies nur in 54 % der Fälle. Die AutorInnen führen eine Vielzahl anderer Studien an, in denen die Prozentzahl gegenseitiger Wahlen auch nur zwischen 34 % und 53 % lag. Für Freunde und Freundinnen ist es wichtig, dass zwischen ihnen Geben und Nehmen ausbalanciert sind - bei nicht reziproken Beziehungen ist diese Balance natürlich von vornherein gestört. Freundschaften sind kooperative Beziehungen, die ganz wesentlich auf der Aushandlung von Reziprozität beruhen. Anders als bei Eltern-Kind-Beziehungen, in denen es vor allem auf emotionale Nähe und gegenseitige Bindung ankommt, geht es in Freundschaften um das Erleben von Gleichheit, Balance und Fairness. In Partnerschaftsbeziehungen sind heute beide Prinzipien gefordert, also emotionale Nähe und soziale Unterstützung (vgl. Neyer/ Lang 2007, 50f ). Daher empfinden wir Freundschaftsbeziehungen häufig als „unkomplizierter“ als romantische Beziehungen. Freunde und Freundinnen sind sich in Vielem gleich, z. B. sind sie meist in ähnlichem Alter und kommen aus einem vergleichbaren sozialen Milieu. Eine ausreichend große Überschneidung der Interessen und Einstellungen ist eine wesentliche Voraussetzung für Freundschaftsbeziehungen. Eine eindrucksvolle Bestätigung der neuronalen Ähnlichkeit von Freunden zeigte eine Studie, mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) mit 42 Studierenden, in der die Reaktionsmuster von 80 Gehirnarealen bei der Rezeption von unterschiedlichen Videosequenzen aufgezeichnet wurden. Je enger die Personen befreundet waren, desto ähnlicher waren auch ihre neuronalen Reaktionen auf die Videos (Parkinson et al. 2018). Obwohl die Frage der Kausalität sich in Studien dieser Art nicht klären lässt, spricht vieles dafür, dass beide Wirkungsrichtungen zutreffen: Wir suchen uns Freunde aus, die auf die Umwelt ähnlich reagieren wie wir selbst, beeinflussen uns aber auch gegenseitig, sodass wir uns mit der Zeit noch ähnlicher werden. 244 uj 6 | 2019 Freundschaftsbeziehungen im Wandel Wie viele Freunde/ Freundinnen haben Jugendliche? Jugendliche und junge Erwachsene haben mehr Freunde als Ältere. Befragungen zeigen, dass die Anzahl der Freundschaften mit dem Lebensalter relativ kontinuierlich abnimmt. 92 Prozent aller 14bis 17-Jährigen geben an, einen besten Freund bzw. eine beste Freundin zu besitzen, bei den 18bis 29-Jährigen sind es noch 86 Prozent, bei den über 60-Jährigen nur noch 64 Prozent (Allensbach 2014, 6). Obwohl gerade in jungen Jahren die Fluktuation im Freundeskreis relativ hoch ist, kennen die 14bis 17-Jährigen ihren besten Freund bzw. die beste Freundin im Schnitt seit sieben Jahren, bei den 18bis 29-Jährigen beträgt die durchschnittliche Freundschaftsdauer 11 Jahre (bei den über 60-Jährigen sind es 39 Jahre) (Allensbach 2014, 10). Demgemäß sind über alle Altersgrenzen hinweg ca. zwei Drittel der Befragten der festen Meinung, „Freunde fürs Leben“ zu haben (Allensbach 2014, 12). Entwicklung von Freundschaften Im Grundschulalter beginnen Kinder damit, die Welt nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit den Augen der anderen zu sehen. Es ist die Zeit, in der sich die Fähigkeit der „sozialen Perspektivenübernahme“ (Selman 1984) entwickelt. Entwicklungsstufen von Freundschaftskonzepten In enger Anlehnung an die Entwicklungsstufen der„Sozialen Perspektivenübernahme“ (Selman 1976) hat Selman (1984, 116) fünf Entwicklungsstufen von Freundschaftskonzepten vorgeschlagen. Die Altersangaben sind hierbei nur als grobe Orientierung zu verstehen (vgl. Heidbrink 2013). 0. Enge Freundschaft als momentane physische Interaktion (5 - 6 Jahre) Für Kinder auf dieser Stufe besteht Freundschaft aus Miteinander-Spielen. „Was für eine Person ist ein guter Freund? Jungen spielen mit Jungen, Lastautos spielen mit Lastautos, Hunde spielen mit Hunden. Warum sind sie deshalb gute Freunde? Weil sie dieselben Dinge tun“ (Selman 1984, 153). Selbst wenn die Kinder den Begriff des Vertrauens bereits kennen, verstehen sie ihn eher physisch, d. h. der andere wird ihnen ihr Spielzeug nicht wegnehmen oder zerstören: „Wer ist dein bester Freund? Erich. Vertraust du ihm? Ja. Was heißt das, dass du ihm vertraust? Wenn ich ihm ein Spielzeug gebe, weiß ich, dass er es nicht kaputtmacht. Woher weißt du das? Er ist nicht stark genug“ (Selman 1984, 154). 1. Enge Freundschaft als einseitige Hilfestellung (7 - 9 Jahre) Freundschaft wird hier als einseitige, zweckorientierte Beziehung gesehen: „Man braucht einen Freund, weil man Spiele spielen möchte, und man muss jemanden haben, der so spielt, wie man das möchte“ (Selman 1984, 155). Um einen Freund zu finden, muss man also dessen Interessen und Vorlieben kennen. Ein guter Freund weiß aber auch, was man selbst gern tut. Dies sind auch die Kriterien, nach denen Freundschaften bewertet werden können: „Der beste Freund ist der, der weiß, welche Spiele man am liebsten spielt“ (Selman 1984, 156). Die Ursachen von Konflikten werden genauso einseitig gesehen wie die möglichen Lösungen: „Wie entsteht ein Streit zwischen Freunden? Wenn sie Schimpfworte zu mir sagt oder so. Wie könnt ihr dann wieder Freunde werden? Bring sie dazu, dass sie’s zurücknimmt und sagt, dass sie gelogen hat“ (Selman 1984, 156). 2. Enge Freundschaft als Schönwetter- Kooperation (10 - 12 Jahre) Auf dieser Freundschaftsstufe bekommen die Kinder eine erste Idee davon, dass man Beziehungen nicht nur eingeht, weil man einen 245 uj 6 | 2019 Freundschaftsbeziehungen im Wandel Spielpartner benötigt, sondern dass es um die soziale Interaktion selbst geht. Vertrauen wird jetzt als „Reziprozität von Gedanken wie von Taten interpretiert“ (Selman 1984, 157). Man kann dem anderen also nicht nur Dinge anvertrauen, sondern auch Informationen, die dieser nicht an Dritte weitergeben wird. Ein aktueller Streit beendet eine Freundschaft, diese kann aber durch aufrichtiges gegenseitiges Versöhnen wieder hergestellt werden. „Kann jemand dein Freund sein, auch wenn ihr euch streitet? Ja. Wenn man sich streitet und sagt, ,ich hasse dich‘ und ,du bist doof, ich hasse dich, ich hasse dich‘, und wenn man das wirklich ernst meint, dann wäre das nicht gut; aber wenn man es nicht wirklich so meint, und man meint es in dem Moment, aber nicht wirklich, dann ist es schon in Ordnung“ (Selman 1984, 120). 3. Enge Freundschaft als intimer gegenseitiger Austausch (Jugendalter) Auf dieser Stufe gelingt es den Freunden, nicht nur sich selbst mit den Augen des anderen zu sehen (vorherige Stufe), sondern die Freundschaft als Beziehung zu begreifen. Die Nähe innerhalb der Freundschaft wird jetzt daran gemessen, inwieweit die Freunde bzw. Freundinnen sich über intime persönliche Belange austauschen können (Selman 1984, 159). Die Intensität der Freundschaft berührt auch Gefühle von Eifersucht, da die Freundschaft den Charakter von Exklusivität bekommen kann - man möchte die Freundin bzw. den Freund nicht mit anderen teilen. Freundschaft wird jetzt auch als das Ergebnis einer zeitlich dauerhaften Beziehung gesehen: „Du kennst deine Freundin schon ganz lange, und du magst sie so gern, und dann bist du plötzlich sauer auf sie und sagst: Ich könnte dich einfach abmurksen; aber man mag sich doch noch, weil man sich schon seit Jahren kennt und immer eng befreundet war, und du weißt eigentlich, dass ihr in ein paar Sekunden sowieso wieder Freunde sein werdet“ (Selman 1984, 124). 4. Enge Freundschaft als Autonomie und Interdependenz (Adoleszenz, Erwachsene) Diese Freundschaftsstufe stellt die Überwindung der engen Abhängigkeiten der vorherigen Stufe dar, die jetzt durch den Anspruch an Autonomie ausbalanciert wird. „Man kommt dann an einen Punkt, wo man fast abhängig ist vom anderen, und man ist kein Individuum mehr. Wenn du - wenn sie alles über dich weiß, wenn du so abhängig von ihr bist, finde ich das egoistisch“ (Selman 1984, 125). Nach Selman versuchen Freunde auf dieser Stufe, (a) auf die „eigenen tieferen Gefühle zu achten; (b) auf die persönlichen und emotionalen Belange des Freundes einzugehen; und (c) einen Modus zu finden, sich diese Gefühle gegenseitig mitzuteilen“ (Selman 1984, 126). Fatke und Valtin (1988) konnten in einer deutschen Studie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen wesentliche Annahmen von Selman bestätigen. Erst im Jugendalter werden Freundschaften als „Beziehungen“ begriffen. In engen Freundschaften können jetzt Gefühle von Eifersucht aufkommen, da die Beziehung zur „besten“ Freundin den Charakter von Exklusivität bekommen kann, die man nicht mit anderen teilen möchte. Vermutlich gelingt es uns - wenn überhaupt - erst im frühen Erwachsenenalter Freundschaftsbeziehungen in Bezug auf Nähe und Distanz auszubalancieren. Für Kinder und Jugendliche sind Freundschaften neben den familiären Beziehungen die wichtigsten Sozialbeziehungen. Freunde und Freundinnen sind „Entwicklungshelfer“ (Seiffge- Krenke 2009) auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Jugendliche unterscheiden etwa ab dem 12. Lebensjahr zwischen öffentlichen und privaten Informationen und sind nicht mehr leicht bereit, private Informationen mit den Eltern zu besprechen. Zwischen dem 12. und 17. Lebensjahr verändern sich die Gesprächspartner für 246 uj 6 | 2019 Freundschaftsbeziehungen im Wandel Vertrauliches: Gegenüber beiden Eltern wird zunehmend weniger enthüllt - deren Stelle nehmen Freunde und später auch romantische Partner ein (Seiffge-Krenke 2009, 124). Neben den dyadischen Freundschaften bilden Kinder und insbesondere Jugendliche Freundschaftscliquen, deren Mitglieder sich meist in Einstellungen, Wertvorstellungen und im sozialen Milieu ähnlich sind. Jugendliche orientieren sich zunehmend an den sozialen Regeln und moralischer Bewertungen ihrer Peergruppe. Die Sorge von Eltern, ihr Kind könnte in „schlechte Gesellschaft“ geraten, ist also verständlich, wenn man den Gruppendruck berücksichtigt, dem gerade Jugendliche ausgesetzt sind. Eltern machen sich nicht nur Sorgen, wenn Kinder die in ihren Augen „falschen“ Freunde haben, sondern vor allem auch dann, wenn sie gar keine Freunde besitzen. Erwachsene können bei Kindern unterstützend sein, indem sie Zeit, Raum und Gelegenheiten für Freundschaften schaffen. Aber sie sind auch selbst Vorbilder in Bezug auf die Pflege von Freundschaften. Wenn Eltern ihre eigenen Freundschaften wichtig sind, unterstützen sie die Freundschaften ihrer Kinder offenbar erfolgreicher (vgl. Romano et al. 2009). Studien zur Entwicklung des menschlichen Gehirns sprechen für die Auffassung, dass die Pubertät als eine Art Prägephase in Hinblick auf die Übernahme sozialer Regeln und moralischer Intuitionen angesehen werden kann (Heidbrink 2008, 157). Die problematische Seite von Freundschaftsauswirkungen im Jugendalter zeigen Analysen delinquenter Freundschaftsnetzwerke. Die Anzahl delinquenter Freunde erhöht die Wahrscheinlichkeit, als Mehrfachgewalttäter in Erscheinung zu treten, stärker als andere Einflussfaktoren wie Alkohol- und Drogenkonsum, Gewalt legitimierende Männlichkeitsnormen, erlebte Elterngewalt und Konsum gewalthaltiger Medien (Baier et al. 2009, 81f ). Geschlechtsspezifität von Freundschaften In Anlehnung an Wright (1982) werden Männerfreundschaften aufgrund der häufig zentralen gemeinsamen Aktivitäten als „side-by-side“ und Frauenfreundschaften aufgrund ihrer hohen Gesprächszentriertheit als „face-to-face“ charakterisiert. In einem Überblick zentraler Forschungsergebnisse der letzten Jahre kommt Rainer (2017) zu dem Schluss, dass diese Charakterisierungen zu grob sind, um die geschlechtsspezifischen Unterschiede in Freundschaften zu erfassen. Zusammenfassend stellt Rainer (2017, 3) fest, dass Frauenfreundschaften im Vergleich zu Männerfreundschaften einen höheren Grad an Intimität aufweisen. Frauen stellen auch höhere Erwartungen in Bezug auf Intimität und Vertrauen an ihre Freundinnen, Männer waren stärker wettbewerbsorientiert als Frauen. In vielen Merkmalen finden sich allerdings kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern (positive Wertschätzung, Selbstenthüllung und Unterstützung). Die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Erwachsenenalter kommen nicht von ungefähr, sondern zeigen sich bereits in den Kinder- und Jugendfreundschaften. Mädchen beschäftigen sich gerade im Kindergarten und im Vorschulalter gerne zu zweit und präferieren soziale Rollenspiele, bei denen mithilfe von Puppen Beziehungsdramen durchgespielt werden und viel kommuniziert wird. Diese Art zu spielen ist Jungs dagegen eher fremd. Sie wollen lieber etwas gemeinsam erleben, etwa beim Fußball oder anderen Hobbys zusammen aktiv sein und sich dabei mit anderen messen. Für viele männliche Jugendliche sind vor allem Online-Spiele im Internet interessant, z. B. kooperative Survival-Spiele (Fortnite) oder Multi- 247 uj 6 | 2019 Freundschaftsbeziehungen im Wandel player-Online-Rollenspiele wie World of Warcraft. Die besondere Problematik dieser Online-Spiele (Suchtgefahren) würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen - es soll aber zumindest darauf verwiesen werden, dass virtuelle Spielpartner keinen adäquaten Ersatz für reale Freundschaften darstellen. In der Pubertät, wo sich das Miteinander gleichaltriger Teenager meist in Cliquen abspielt, weichen dann die Freundschaftsgrenzen zwischen den Geschlechtern auf. In dieser Phase haben intensive Freundschaften einen besonders hohen Stellenwert, denn sie dienen als Vorbereitung, sich vom Elternhaus abzulösen. Hier gibt es zum einen die ausgesprochen engen Mädchenfreundschaften, die oft einen fast intimen Ausschließlichkeitscharakter haben, und zum anderen entwickeln sich in solchen Gruppen auch enge Beziehungen zwischen Mädchen und Jungen, wobei die Grenzen zu romantischen Liebesbeziehungen fließend sind. Freundschaft im Internet Frühe Studien zu sozialen Beziehungen im Internet entwarfen häufig das Bild einer Verarmung und Verschlechterung persönlicher Beziehungen. Vermutet wurde, dass Restriktionen einer überwiegend textbasierten Kommunikation zu einer defizitären Beziehungsgestaltung beitragen würden (z. B. Kraut et al. 1998). Neuere Studien zeigen jedoch, dass sich die zunächst gefundenen Unterschiede zwischen Online- und Offline-Beziehungen mit der Zeit nivelliert haben (z. B. Kujath 2011). Dies liegt auch daran, dass Online-Kommunikation mittlerweile für Jugendliche und junge Erwachsene zum „Normalfall“ geworden ist. Giemsa (2011) ließ 243 Studierende Online- und Offline-Freundschaften über Polaritätsprofile einschätzen. Hierbei zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Freundschaften, weder in Bezug auf enge noch auf lockere Freunde. Giemsa führt dies auch auf den Umstand zurück, dass sich heute Offline- und Online-Freundschaften nur noch schwer trennen lassen, da auch zwischen ursprünglichen Offline-Freundschaften Kontakt über soziale Netzwerke gehalten wird. Coviello et al. (2014) analysierten Facebook- Nachrichten von über 100 Millionen Nutzern auf ihre Auswirkungen in Bezug auf positive bzw. negative Statusnachrichten. Positiv gestimmte Statusnachrichten zogen im Durchschnitt weitere positive Statusnachrichten im Freundeskreis nach sich - und weniger negative. Etwas schwächer wirkten negative Emotionen: Sie hinterließen weitere negative Mitteilungen im Freundeskreis - und weniger positive. In einigen Studien wurde festgestellt, dass die Dauer von Online-Zeiten negativ mit eigenen Stimmungen korreliert (z. B. Kross et al. 2013). Als Erklärung wird oft angeführt, dass die überwiegend positiven Selbstdarstellungen andere NutzerInnen zu sozialen Vergleichsprozessen anregen, die dann Defizitbzw. Unterlegenheitsgefühle auslösen könnten. Aufgrund einer sorgfältigen Längsschnittstudie kamen Utz und Breuer (2017) allerdings zu dem Schluss, dass soziale Netzwerke die Lebenszufriedenheit von Nutzern und Nutzerinnen nicht beeinträchtigen. Resümee Gerade in der Jugend bieten enge Freundschaften im positiven Fall den Hintergrund für eine Reihe wichtiger Entwicklungschancen (vgl. Berk 2005, 551): ➤ Enge Freundschaften bieten Möglichkeiten, das eigene Selbst zu entdecken und ein tieferes Verständnis für andere Menschen zu entwickeln. ➤ Enge Freundschaften bilden die Grundlage für zukünftige intime Beziehungen. ➤ Enge Freundschaften helfen den jungen Menschen dabei, mit den Schwierigkeiten der Adoleszenz umzugehen. 248 uj 6 | 2019 Freundschaftsbeziehungen im Wandel Fragt man nach besonderen Gründen, warum Freundschaften beendet wurden, werden vor allem Verletzungen von „Freundschaftsregeln“ genannt. Argyle und Henderson (1990, 96f ) nennen folgende Gründe für das Zerbrechen von Freundschaften: Eifersucht, Kritik an Beziehungen zu Dritten, Weitergabe von Vertraulichem, fehlende Hilfe, mangelndes Vertrauen, öffentliche Kritik, fehlende positive Wertschätzung. Der technische Wandel betrifft die Art und Weise, wie und wann Jugendliche heute miteinander kommunizieren, die Kernfunktionen der Freundschaftsbeziehung bleiben hiervon unberührt. Freunde und Freundinnen sind für Jugendliche gestern wie heute wesentliche Unterstützung bei der Selbstfindung, bei der Ausbalancierung von Autonomie und Interdependenz und der notwendigen Ablösung vom Elternhaus auf dem langen Weg zum Erwachsenwerden! Wir sollten nicht vergessen, dass technische Entwicklungen nicht nur unsere Möglichkeiten erweitern, die wir nutzen können oder nicht, sondern sie können auch unsere Wahrnehmung der Welt verändern. Dies ist schon lange vor der Erfindung des Internets bemerkt worden (vgl. Heidbrink/ Lück et al. 2009, 185f ): „Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir nur Geld genug, um auch letztere anständig zu töten! In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orléans, in ebensoviel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee.“ (H. Heine, 1843). Dr. Horst Heidbrink Liebigstr. 15 64293 Darmstadt E-Mail: Horst.Heidbrink@heidsite.de Literatur Allensbach (2014): Freunde fürs Leben. Ergebnisse einer Bevölkerungsrepräsentativen Befragung. Jacobs Studie 2014. https: / / www.ifd-allensbach.de/ up loads/ tx_studies/ Jacobs_Freunde_fuers_Leben_ 2013.pdf (1. 4. 2019), https: / / doi.org/ 10.3139/ 978344 6439283.fm Almaatouq, A., Radaelli, L., Pentland, A. & Shmueli, E. (2016): Are you your friends’ friend? Poor perception of friendship ties limits the ability to promote behavioral change. PLoS ONE, 11(3), e0151588 - 13. http: / / doi.org/ 10.1371/ journal.pone.0151588 Argyle, M. & Henderson, M. 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