eJournals unsere jugend 71/6

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
61
2019
716

Viel Kummer mit der Liebe

61
2019
Anna Zacharias
Alexandra Decker
Sexualpädagogisch relevante Themen begegnen den BeraterInnen am Kinder- und Jugendtelefon sowie in der em@il-Beratung der „Nummer gegen Kummer“ tagtäglich. Für viele Kinder und Jugendliche ist die anonyme, vertrauliche Beratung eine der wenigen Möglichkeiten, offen über ihre Fragen und Probleme zu den Themen Liebe und Partnerschaft, Sexualität sowie Freundschaft zu sprechen.
4_071_2019_006_0264
264 unsere jugend, 71. Jg., S. 264 - 274 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art44d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Viel Kummer mit der Liebe Themen von Heranwachsenden aus der Perspektive der„Nummer gegen Kummer“ Sexualpädagogisch relevante Themen begegnen den BeraterInnen am Kinder- und Jugendtelefon sowie in der em@il-Beratung der „Nummer gegen Kummer“ tagtäglich. Für viele Kinder und Jugendliche ist die anonyme, vertrauliche Beratung eine der wenigen Möglichkeiten, offen über ihre Fragen und Probleme zu den Themen Liebe und Partnerschaft, Sexualität sowie Freundschaft zu sprechen. von Anna Zacharias Jg. 1979; Dipl. Pädagogin und Kommunikationswirtin (WAK), Fachreferentin für Öffentlichkeitsarbeit und em@il-Beratung bei Nummer gegen Kummer e.V. Einleitung Die Jugendphase ist verbunden mit neuen Erfahrungen und Aufgaben, mit überwältigenden Emotionen, vielfältigen Herausforderungen und für viele Heranwachsende auch mit Desorientierung, Ratlosigkeit und Verzweiflung. Die Pubertät hat sich im Laufe vieler Jahre im Lebenszyklus immer weiter nach vorne geschoben, weshalb Fragen der Partnerschaft, Liebe und zur Sexualität oft schon in jungem Alter an Bedeutung gewinnen. Um sich zu solchen Themen auszutauschen oder darüber zu informieren, greifen Jugendliche heute zunehmend auf ihre Peergroup, das Internet oder auch soziale Netzwerke zurück. Viele sind trotz - oder gerade wegen - der vielen Austauschmöglichkeiten emotional verunsichert, fühlen sich alleine und empfinden Belastungen in vielfältigen Kontexten. Eltern und FreundInnen werden häufig als wichtige Bezugspersonen in schwierigen Situationen konsultiert, diese können aber auch selbst KonfliktpartnerIn sein und daher oft nicht objektiv beraten. Selbst bei einem guten Verhältnis ist ein offener Austausch gerade in schwierigen, schambesetzten und intimen Fragen häufig schwierig. Spätestens mit dem Eintritt in die Pubertät beginnt demnach für viele Jugendliche die Suche nach verständnisvollen AnsprechpartnerInnen, an die sie sich schnell und unkompliziert wenden können. Hier setzt das Angebot des Vereins Nummer gegen Kummer e.V. an. Struktur, Ziele und Angebote der „Nummer gegen Kummer“ Seit fast 40 Jahren finden Kinder und Jugendliche aller Altersstufen unter der „Nummer gegen Kummer“ ein offenes Ohr für ihre Anliegen. Alexandra Decker Jg. 1988; Psychologin und psychologische Psychotherapeutin, Fachberaterin bei Nummer gegen Kummer e.V., nebenberuflich tätig als Psychotherapeutin in eigener Praxis 265 uj 6 | 2019 Viel Kummer mit der Liebe Nummer gegen Kummer e.V. ging als mittlerweile selbstständiger, gemeinnütziger Verein aus dem Deutschen Kinderschutzbund hervor. Er verfolgt das Ziel, die Lebenssituation sowie die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen deutschlandweit zu verbessern, indem er den Heranwachsenden sowie Eltern und Erziehenden in Zusammenarbeit mit seinen Mitgliedsvereinen auf die Zielgruppe zugeschnittene, qualifizierte und flächendeckende Beratungsangebote zur Verfügung stellt. Im Verlauf der Jahre ist zur Umsetzung dieses Ziels ein Beratungskanon entstanden, der zum aktuellen Zeitpunkt folgende Beratungsangebote umfasst. Über die Rufnummer 116 111 ist das Kinder- und Jugendtelefon (KJT) als kostenloses, anonymes und themenoffenes Beratungsangebot für Kinder und Jugendliche aller Altersstufen deutschlandweit von montags bis samstags, jeweils von 14 bis 20 Uhr zu erreichen. Mitte der 90er Jahre wurde das Projekt „Jugendliche beraten Jugendliche“ am KJT als sogenanntes Peer-Education-Projekt initiiert. Seitdem beraten jeden Samstag unter der Rufnummer des KJT speziell für diese Aufgabe ausgebildete Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren die anrufenden Heranwachsenden. Um den mit der Digitalisierung zusammenhängenden veränderten Kommunikationsgewohnheiten insbesondere von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden, wurde 2003 eine weitere Beratungsform etabliert. Die em@il-Beratung (eB) ist seitdem für Ratsuchende rund um die Uhr, sieben Tage die Woche erreichbar und bietet dadurch einen weiteren niedrigschwelligen Zugang zur Beratung. Im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes berät zudem das Elterntelefon seit 2001 ratsuchende Eltern, Erziehende sowie insgesamt an der Erziehung beteiligte Personen, um sie in ihrer Erziehungsarbeit zu unterstützen und in Konfliktsituationen konstruktive Hilfestellung zu geben. Die Beratungen am Telefon und Online sind leicht erreichbare Angebote, d. h. die Hürde, Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist sehr niedrig angesetzt. Es gibt oft nur geringe oder gar keine Wartezeiten, das Beratungsangebot ist für die RatsuchendenkostenfreiundohneVorbedingungen oder Formalitäten möglich. Die Beratung verfolgt den Zweck, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, gemeinsame Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln und/ oder Informationen zu vermitteln. Sie kann ein erster Schritt sein, weiterführende Hilfen anzunehmen, und ist damit auch eine Möglichkeit, Krisen und Eskalationen vorzubeugen. Ehrenamtliches Engagement Rund 2.500 ausgebildete ehrenamtlich engagierte BeraterInnen kümmern sich bundesweit in ihrer Freizeit um die Sorgen und Nöte der Kinder und Jugendlichen. Jeden Monat helfen sie etwa 7.000 Ratsuchenden in schwierigen Lebenssituationen. Speziell für diese Aufgabe ausgebildet, hören sie zu, trösten, machen Mut, motivieren zu eigenständigem Handeln und vermitteln bei Bedarf begleitende Hilfsangebote vor Ort. Sie nutzen in ihren Beratungen professionelle Kompetenzen, um mit ressourcenorientierter Perspektive in einem nach Möglichkeit gleichberechtigten Diskurs vorhandene Kräfte und Ressourcen der Ratsuchenden zu (re)aktivieren und zu stärken (Hurrelmann 1988; Rogers 1994). Abbildung 1 zeigt die Einschätzung der Beratungsrichtung der in 2018 geführten Gespräche durch die BeraterInnen. Die Beratung erfolgt häufig aus einer spontanen Idee der Ratsuchenden heraus, d. h. BeraterInnen werden unvermittelt mit beschriebenen Problemsituationen oder einer akuten Krise konfrontiert. Das fordert den Ehrenamtlichen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen und Flexibilität ab. Neben der persönlichen Haltung, allen Ratsuchenden vorurteilsfrei und mit Achtung zu begegnen, ist der Beratungsgrundsatz „Im besten Sinne für das Kind! “ handlungsleitend. Bei Bedarf klären die BeraterInnen auch über weiterführende, professionelle Hilfsangebote auf und motivieren durch konkrete Informationen über deren Arbeitsweise zur Kontaktaufnahme. 266 uj 6 | 2019 Viel Kummer mit der Liebe Die „Nummer gegen Kummer“ hat somit sowohl direkten als auch präventiven Hilfecharakter und ist in vielen Fällen die erste Kontaktstelle zur Vermittlung weiterer Hilfen im psychosozialen Netz Deutschlands. Eine einfühlsame und vertrauliche Erstberatung senkt dabei die Hemmschwelle zum Aufsuchen weiterer Beratungsangebote und hilft, rechtzeitig die Weichen für eine positive Weiterentwicklung der Kinder und Jugendlichen zu stellen. Ratsuchende und BeraterInnen bleiben während des gesamten Beratungsprozesses anonym. Diese beidseitige Anonymität bietet Schutz, fördert bei den Ratsuchenden die Bereitschaft, sich zu öffnen, und unterstützt aufseiten der Beratenden einen unvoreingenommenen Blick auf die berichteten Probleme. Alle Beraterinnen und Berater unterliegen zudem der Verschwiegenheitspflicht. Studierende, Hausfrauen, RentnerInnen, FreiberuflerInnen und Beamte bzw. Beamtinnen - die typische Beraterin bzw. den typischen Berater gibt es nicht. Die MitarbeiterInnen kommen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Verbindend sind der Wunsch, Kindern und Jugendlichen zu helfen, und die Bereitschaft, dafür Zeit zu opfern und Mühe in Kauf zu nehmen. Aber auch die BeraterInnen selbst und ihr persönliches Umfeld profitieren auf vielfache Weise von diesem Engagement, wie das folgende Zitat einer Beraterin am KJT verdeutlicht. „Immer wieder stelle ich fest, dass die Arbeit am Kinder- und Jugendtelefon und ebenso am Elterntelefon nicht nur den Anrufenden hilft, sondern auch für meine persönliche Entwicklung und für meine Familie sehr wichtig ist. Viele Erkenntnisse aus Fortbildungen und Supervisionen sind auch für mich persönlich anwendbar und so schließt sich letztlich der Kreis vom Geben und Nehmen! “ Qualifizierung Die Mitarbeit als BeraterIn bei den Angeboten der „Nummer gegen Kummer“ steht grundsätzlich jedem offen. Vor der eigentlichen Beratungstätigkeit an den Telefonen muss jedoch eine 70bis 100-stündige Ausbildung nach den gültigen Richtlinien und Rahmenbedingungen von Nummer gegen Kummer e. V. absolviert werden. Während dieser Ausbildung werden die zukünftigen BeraterInnen im Rahmen von Selbsterfahrung, dem Erlernen und Üben von Gesprächsführungs- und Beratungstechniken (in Anlehnung an Carl Rogers „nicht-direktive Beratung“) sowie durch die Auseinandersetzung mit Themen, die für die Beratung von Kindern und Jugendlichen bedeutsam sind, und Problemklärung/ Anregung zur selbstständigen Bewältigung (43,7 %) Aussprachebedürfnis/ emotionale Entlastung (36,7 %) Informationsvermittlung (6,3 %) keine Angabe (13,3 %) Abb. 1: Einschätzung der Beratungsrichtung der Gespräche am Kinder- und Jugendtelefon (KJT) in 2018 267 uj 6 | 2019 Viel Kummer mit der Liebe die anschließende Hospitation auf die ehrenamtliche Beratungstätigkeit am Telefon vorbereitet. Die Qualifizierung zur em@il-Beratung baut auf der Telefonberatung auf. Im em@il- Beratungsteam arbeiten erfahrene ehrenamtliche BeraterInnen, die neben einer Ausbildung am Kinder- und Jugendtelefon mindestens ein Jahr telefonische Beratungserfahrung haben und eine weitere Zusatzausbildung zum/ zur em@il-BeraterIn absolviert haben. Beratungsthemen am Kinder- und Jugendtelefon und in der em@il-Beratung Die Beratungsangebote der „Nummer gegen Kummer“ sind themenoffen, deshalb können sich Kinder und Jugendliche mit allen für sie wichtigen Anliegen melden. Themenbezogene Daten, die über die Beratungsangebote erhoben werden, können entsprechend einen unverfälschten Blick auf die Lebens-/ Problemwelt von Kindern und Jugendlichen vermitteln. Anders als die durch InterviewerInnen gesteuerten und vermittelten Befragungen im Rahmen von Kinder- und Jugendstudien melden sich die Ratsuchenden hier selbstständig und auf eigene Initiative. So gelingt es, auf authentische Art und Weise, die Fragen und Probleme zu erfassen, die Kinder und Jugendliche von sich aus artikulieren. Innerhalb der Beratungen geht es um unterschiedliche Themen und Fragen, die Heranwachsende beschäftigen. Die Einzelthemen werden dabei von den BeraterInnen folgenden neun Oberthemen zugeordnet: Psychosoziale Themen und Gesundheit; Sexualität; Partnerschaft und Liebe; Probleme in der Familie; Schule, Ausbildung und Beruf; Freundeskreis und Peergroup; Gewalt und Missbrauch; spezielle Lebenssituation oder sozialpolitische Themen; Sucht und selbstverletzendes Verhalten. Jeder Anruf am KJT wird zudem registriert und nach verschiedenen Anruftypen (z. B. Beratungsgespräch, Testanruf, Schweigeanruf, Belästigung der MitarbeiterInnen) kategorisiert. Drehten sich die Probleme der Heranwachsenden beim Start des Sorgentelefons 1980 noch vor allem um Ärger mit dem Elternhaus oder Stress in der Schule, rücken heute - sicherlich angeregt durch öffentlich gesellschaftliche Diskurse, aber auch durch die fortschreitende Entwicklung neuer Medien - Themen wie (Cyber-) Mobbing, Probleme im Netz oder auch Hilfe bei sexuellem Missbrauch in den Fokus der Beratung. Ein weiterer Trend, der sich in den letzten Jahren fortgesetzt hat, zeigt sich zudem in den jährlich steigenden Anfragen zu Themen rund um psychosoziale Probleme sowie die Gesundheit, unter die Bereiche wie psychische Erkrankungen fallen. Ebenso ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die sich an die „Nummer gegen Kummer“ wenden, sowie der Anfragen zu begleitenden Themen wie Integration, Religion und die Asylbzw. Flüchtlingsthematik gestiegen. Doch trotz dieser Veränderungen und der vielen weiteren Themen, die Heranwachsende zum Hörer oder zur Tastatur greifen lassen, so sind es doch die Fragen und Probleme rund um die Themen Liebe und Partnerschaft, Sexualität sowie Freundschaften, die seit dem Beginn der bundesweit einheitlichen Statistik-Erfassung 1997 durchgängig in rund 50 Prozent aller Beratungen den Anlass für einen Anruf bzw. eine Mail darstellen. Exemplarisch soll dies im Folgenden an den Zahlen aus dem Jahr 2018 verdeutlicht werden, die aus den jährlichen, internen Statistikerhebungen von Nummer gegen Kummer e.V. hervorgehen (Nummer gegen Kummer e.V. 2019 a, b). Zahlen zu den Beratungsthemen aus dem Jahr 2018 Im Jahr 2018 haben insgesamt 82.263 Kinder und Jugendliche die Telefon- und Online-Beratung der „Nummer gegen Kummer“ in Anspruch genommen. Diese Zahl unterstreicht den Bedarf der Hilfsangebote Kinder- und Jugendtelefon und em@il-Beratung. Im letzten Jahr waren 45 Prozent der Ratsuchenden weiblich und 53,8 Prozent männlich. Wäh- 268 uj 6 | 2019 Viel Kummer mit der Liebe rend in den ersten Jahren der Telefonberatung ein überwiegender Teil der Anrufenden Mädchen und junge Frauen waren, hat sich dieses Verhältnis in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Mehr und mehr werden die Beratungsangebote von Jungen und jungen Männern in Anspruch genommen, um Probleme zu besprechen, sodass sich vor allem am Telefon das Geschlechterverhältnis der Anrufenden seit Beginn der Zweitausender immer weiter angeglichen (Nummer gegen Kummer e.V. 2010) und in den letzten drei Jahren sogar umgedreht hat. In der em@il-Beratung wird dagegen weiterhin der Großteil der Anfragen (87,4 %) von weiblichen Ratsuchenden gesendet. Die „Nummer gegen Kummer“ wird seit Beginn vorrangig von Jugendlichen in der Pubertät in Anspruch genommen. Entsprechend ergibt sich auch im Jahr 2018 ein Altersschwerpunkt zwischen 12 und 18 Jahren mit etwa 69,3 Prozent der stattgefundenen Beratungskontakte in diesem Altersbereich. Nicht zuletzt dadurch scheint es wenig verwunderlich, dass sich Beratungsanlässe seit jeher oft rund um die Themen Liebe, Sexualität und Partnerschaft sowie Freundschaften drehen. Insbesondere die Auseinandersetzung mit Fragen zu diesem Thema als schwierige Entwicklungsaufgaben im Jugendalter bleibt das dominierende Thema an den Beratungsangeboten. Über beide Geschlechter zusammengenommen ging es entsprechend auch 2018 in 54 Prozent der Anfragen am Kinder- und Jugendtelefon sowie in der em@il-Beratung um diese Themen. Es zeigen sich jedoch deutliche Geschlechtsunterschiede. Während für Mädchen die Themen rund um die Liebe und Partnerschaft im Vergleich zur Sexualität wichtiger zu sein scheinen, haben für die ratsuchenden Jungen Fragen und Probleme im sexuellen Bereich offenbar einen deutlich größeren Stellenwert und machen somit knapp 1/ 3 der gesamten Beratungsanfragen von jungen Männern aus. Im Folgenden werden die einzelnen Unterthemen des Themenkomplexes Liebe, Partnerälter als 19 Jahre 17 - 18 Jahre 15 - 16 Jahre 13 - 14 Jahre 11 - 12 Jahre 9 - 10 Jahre bis 8 Jahre 0 5 10 15 20 25 30 35 40 E-Mail-Beratung Kinder- und Jugendtelefon Abb. 2: Altersverteilung der ratsuchenden Kinder und Jugendlichen am Kinder- und Jugendtelefon (KJT) sowie in der em@il-Beratung in 2018 (in Prozent; Anzahl Beratungen = 82.263) 269 uj 6 | 2019 Viel Kummer mit der Liebe schaft, Sexualität und Freundschaft genauer betrachtet. Einige anonymisierte Beispiele sollen zudem die Zahlen der Statistik illustrieren und einen Einblick in die Probleme der ratsuchenden Jugendlichen geben. Sie zeigen auch, wie unterschiedlich Schwierigkeiten von den beiden Geschlechtern wahrgenommen werden und verdeutlichen das Ausmaß an Belastung, welches von den jugendlichen Ratsuchenden empfunden wird. Partnerschaft und Liebe Im Themengebiet „Partnerschaft und Liebe“ nehmen die Einzelthemen Kontaktwunsch, Gestaltung einer Partnerschaft, Schwärmen bzw. Verliebtheit und Liebeskummer insgesamt den größten Anteil ein. Es folgen die Themen Beziehungskonflikte, Trennungen, Untreue, Eifersucht, Fern-/ Urlaubsbeziehung und Sonstiges. Bei der Betrachtung der Einzelthemen fallen zudem deutliche Geschlechtsunterschiede auf. Mädchen melden sich vorrangig mit gefühls- und beziehungsbezogenen Fragen. Entsprechend gab es die meisten Anfragen von jungen Frauen zu Themen wie Liebeskummer, Verliebtheit, Beziehungskonflikte sowie Gestaltung einer Partnerschaft. Bei den männlichen Ratsuchenden zu diesem Themenbereich stand dagegen deutlich der Wunsch nach Kontakt bzw. einer Partnerschaft im Vordergrund. „Hallo liebes NummergegenKummer-Team, ich habe seit fast 2 Jahren einen Freund und hab mich aber irgendwie jetzt in einen anderen Jungen verliebt. Was soll ich nur machen? ? Wenn ich mit meinem Freund Schluss mache, bringt er sich um, hat er mir gedroht, aber der andere Junge ist so süß. Könnt ihr mir sagen, was ich machen soll? “ Mädchen, 17 Jahre Kontaktwunsch Gestaltung einer Partnerschaft Schwärmen/ Verliebtheit Beziehungskonflikte Liebeskummer Sonstiges Partnerschaft/ Liebe ist verlassen worden Untreue Trennung (-wunsch) Eifersucht Fern-/ Urlaubsbeziehung 0 5 10 15 20 25 30 35 männlich weiblich Abb. 3: Einzelthemen und Verteilung der Ratsuchenden zum Thema „Partnerschaft und Liebe“ am Kinder- und Jugendtelefon (KJT) sowie in der em@il-Beratung (in Prozent; Anzahl Beratungen = 82.263; Summe ≥ 100, Mehrfachnennungen möglich) 270 uj 6 | 2019 Viel Kummer mit der Liebe „Ich weiß nicht mehr weiter. Wir waren verliebt… Ein Paar! Es war eine Fernbeziehung. Sie lernte jemanden im Internet kennen. Sie traf ihn. Sie schlief mit ihm! Nun ist für mich alles aus … Ich weiß nicht weiter….“ Junge, 18 Jahre Sexualität Im Themenfeld Sexualität nimmt das Thema Informationen zum Körper, Entwicklung und Sexualität den größten Anteil ein. Dies lässt vermuten, dass Kinder und Jugendliche trotz umfassender Informationen zur Aufklärung - die durch die neuen Medien heutzutage oft sehr leicht erreichbar sind und auch in Schule und sozialem Umfeld zunehmend enttabuisiert werden - nach wie vor verunsichert sind, wie sie diese Informationen für sich nutzen und mit eigenen Empfindungen und Erfahrungen verknüpfen können. Sie scheinen daher nach zusätzlicher Orientierung für die Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex zu suchen und zwar vor allem (erst) dann, wenn diese Fragen im Zusammenhang mit dem eigenen Erleben wichtig werden. Weitere Beratungsanlässe sind die Themen sexuelle Phantasien, Selbstbefriedigung, sexuelle Praktiken, sexuelle Orientierung, „das erste Mal“, Schwangerschaft und -abbruch und Verhütung sowie Risiken (AIDS, Krankheiten und Prävention). Vergleicht man die Anfragen beider Geschlechter miteinander, fällt zum einen die Häufigkeit, mit der sich Jungen und Mädchen zu diesem Themenkomplex melden, sehr unterschiedlich aus. Während sich Jungen in 35,6 Prozent aufgrund des Themas Sexualität melden, waren es bei den Mädchen gerade einmal 13,4 Prozent Beratungen zu diesem Thema. Zum anderen unterscheiden sich aber auch die Fragen, mit denen sich die Heranwachsenden zu diesem Thema an die Beratungsangebote wenden, voneinander. Junge Frauen melden sich eher mit Sexualität begleitenden sowie emotionalen Themen, allen voran Schwangerschaft, körpersexuelle Fantasien Infos zu Körper/ Entwicklung/ Sexualität Sonstiges Sexualität Selbstbefriedigung sexuelle Praktiken sexuelle Orientierung „das erste Mal“ Verhütung Schwangerschaft Risiken (AIDS, Krankheiten und …) Schwangerschaftsabbruch 0 5 10 15 20 25 30 35 männlich weiblich Abb. 4: Einzelthemen und Verteilung der Ratsuchenden zum Themenbereich „Sexualität“ am Kinder- und Jugendtelefon (KJT) sowie in der em@il-Beratung (in Prozent; Anzahl Beratungen = 82.263; Summe ≥ 100, Mehrfachnennungen möglich) 271 uj 6 | 2019 Viel Kummer mit der Liebe liche Entwicklung und sexuelle Orientierung. Jungen berichten dagegen häufiger über Probleme und Fragen ihre sexuellen Phantasien, sexuelle Praktiken sowie Selbstbefriedigung betreffend. „Hallo, ich bin 17 und schwanger. Mein Freund steht zu dem Baby und will sich auch darum kümmern, aber meine Eltern sind gegen das Kind …ich kann das Kleine aber nicht einfach abtreiben. Ich kann das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren jemanden umzubringen. Ich weiß einfach nicht mehr weiter….“ Mädchen, 17 Jahre „Seit einem Monat ist, immer wenn ich in der Früh aufwache, mein Penis steif - so als ob ich Sex gehabt hätte. Mir war das besonders unangenehm, als einmal meine Freundin bei mir geschlafen hat! ! ! Warum ist das so? ? ? “ Junge, 14 Jahre Freundeskreis und Peergroup Zum Themenkomplex Freundeskreis und Peergroup zählen die Problemfelder Spott bzw. Ausgrenzung durch Gleichaltrige, Streit und Ärger im Freundeskreis, Außenseitertum, Wunsch nach Freundschaften, Konkurrenz bzw. Eifersucht, Loyalitätsprobleme, Gruppendruck, Verlust des Freundeskreises, Mutproben sowie Statussymbole. Auch in diesem Bereich zeigt sich, dass es „typische“ Mädchenprobleme und „klassische“ Jungenthemen gibt. Mädchen scheinen dabei den Fokus eher auf die Gestaltung ihrer sozialen Kontakte sowie emotionale Bindungen zu legen. Sie melden sich deutlich häufiger als Jungen bei Konflikten in Freundschaften und bei Loyalitätsproblemen sowie Neid und Eifersucht. Jungen dagegen melden sich eher, wenn sie ausgegrenzt und verspottet werden bzw. sich als Außenseiter fühlen. Auch Gruppendruck Spott/ Ausgrenzung durch Gleichaltrige Streit/ Ärger Freundeskreis Außenseiter Wunsch nach Freund(en) Sonstiges Freundeskreis/ Peer Gruppendruck Loyalitätsprobleme Mutprobe Konkurrenz/ Eifersucht Statussymbole Verlust Freundeskreis (Umzug etc.) 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 männlich weiblich Abb. 5: Einzelthemen und Verteilung der Ratsuchenden zum Thema „Freundschaft und Peer-Group“ am KJT und in der em@il-Beratung (in Prozent; Anzahl Beratungen = 82.263; Summe ≥ 100, Mehrfachnennungen möglich) 272 uj 6 | 2019 Viel Kummer mit der Liebe und Mutproben sind Themen, die im Vergleich häufiger von Jungen angesprochen werden. Bei ihnen scheinen also Status und Position in der sozialen Gruppe eine größere Rolle zu spielen. Unter den Themen des Problembereichs „Freundeskreis und Peergroup“ hat allein der Wunsch nach Freundschaften für Mädchen und Jungen in etwa den gleichen Stellenwert. „Liebes NummergegenKummer-Team. Es handelt sich um meinen besten Freund. Dieser wird immer auf dem Weg zur Schule gehänselt und verprügelt. Ihm wird ins Gesicht geschlagen. Dabei werden auch Mädchen und andere, die ihn beschützen möchten, geschlagen. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Bitte helft mir.“ Junge, 13 Jahre „Meine beste Freundin geht mir aus dem Weg. Ich habe aber keine Ahnung, wieso sie so sauer auf mich ist. Was soll ich jetzt machen? “ Mädchen, 15 Jahre Fazit Die Vielfalt der Problemthemen, mit denen sich Kinder und Jugendliche ratsuchend an die „Nummer gegen Kummer“ wenden, ist groß. So gut wie alle denkbaren Entwicklungsprobleme werden vorgetragen. Gleichzeitig konnte gezeigt werden, wo das Hauptgewicht der anonymen Beratung am Telefon und per Email liegt. Seit vielen Jahren melden sich die ratsuchenden Kinder und Jugendlichen vorrangig (54 % in 2018) zu Problemen rund um die Themen Sexualität, Liebe und Partnerschaft sowie Freundschaften. Dabei ist besonders zu betonen, dass beide Geschlechter ein deutlich voneinander abweichendes Profil bezüglich ihres jeweiligen konkreten Beratungsbedarfs zeigen. Während sich Mädchen und junge Frauen vor allem bei emotionalen und interaktionellen Problemen hilfesuchend an die „Nummer gegen Kummer“ wenden, scheint für Jungen und junge Männer die Beschäftigung mit der eigenen Person vorrangig. Die hier dargestellten Ergebnisse zu den Beratungsanfragen sind auch über den sozialpolitischen und akademischen Kontext hinaus von Bedeutung und können wichtige Anhaltspunkte für die praktische Kinder- und Jugendhilfe und im Speziellen für die sexualpädagogische Praxis bieten. Aufgrund ihrer Authentizität sind die aktuellen Zahlen dabei eine wichtige Ergänzung zu empirischen Kinder- und Jugendstudien, um einen realistischen Eindruck von den Belangen und Bedarfen von Kindern und Jugendlichen zu bekommen. Sie leisten damit auch Unterstützung dabei, Problembereiche weder zu bagatellisieren noch ganz zu übersehen. In einer 2007 durchgeführten repräsentativen Befragung zu vermuteten Problemen von Kindern und Jugendlichen zeigte sich beispielsweise eine deutliche Diskrepanz zwischen den Umfrageergebnissen und dem tatsächlichen Beratungsalltag. In der Befragung waren Probleme mit Schule und Ausbildung sowie Konflikte der bzw. mit den Eltern als wichtigste Themen von Kindern und Jugendlichen vermutet worden. Die Realität der Anfragen bei der„Nummer gegen Kummer“ sieht aber wie gezeigt seit Jahren deutlich unterschiedlich aus. Es stehen die sehr persönlichen, mit der Entwicklung der Individualität und der Identität sowie dem Aufbau von persönlichen, intimen Beziehungen zusammenhängenden Probleme im Vordergrund, die bei einer Vielzahl von Kindern und Jugendlichen zu Krisen, Überforderung und Hilflosigkeit führen (Nummer gegen Kummer e.V. 2007). Auch wenn es sich bei diesen Themen um „normale“ Entwicklungsaufgaben im Sinne Eriksons (1999) handelt, sollte ihre Relevanz neben den oftmals schwerwiegenderen Themen (wie bspw. sexueller Missbrauch, Gewalterfahrungen) dennoch nicht unterschätzt werden. Auch Studien, die einen Zusammen- 273 uj 6 | 2019 Viel Kummer mit der Liebe hang zwischen Trennungen, Liebeskummer sowie Beziehungsproblemen und ernst zu nehmenden Suizidversuchen bis hin zum durchgeführten Suizid bei Kindern und Jugendlichen fanden (Sheftall et al. 2016; Beautrais et al. 1997), verdeutlichen, welch massive Auswirkungen es auf die Entwicklung von Heranwachsenden haben kann, wenn diese Entwicklungsaufgaben ohne ausreichende Ressourcen und Unterstützung gemeistert werden müssen. Die Umfrageergebnisse zeigen, wie unterschiedlich und oft auch fehlerhaft die Einschätzungen von Erwachsenen die Probleme und Unsicherheiten von Kindern und Jugendlichen betreffend sein können. Entsprechend wichtig sind in diesem Zusammenhang authentische Informationen, um passgenaue Angebote für diese Zielgruppe entwickeln zu können und dem Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe, „…junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung [zu] fördern und dazu bei[zu]tragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen“ (§ 1 Abs. 3 KJHG; SGB VIII), gerecht zu werden. Heute steht Heranwachsenden eine Vielzahl an unterschiedlich ausgerichteten Beratungsangeboten zur Verfügung. Die Beratungsangebote der „Nummer gegen Kummer“ sind eine dieser Unterstützungsformen, die flächendeckend in ganz Deutschland Kindern und Jugendlichen Halt und Hilfe in schwierigen Situationen bietet. In der gesundheitlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen nimmt die niedrigschwellige und anonyme Beratung der „Nummer gegen Kummer“ eine wichtige Brücken- und auch Lotsenfunktion ein. Zum Beispiel bei der Begleitung von akuten Krisen, Fragen und Informationen zum Vorgehen und Ablauf rund um Beratungs- und Therapieangebote sowie bei der Unterstützung auf der Suche nach geeigneten Hilfsangeboten. „Nummer gegen Kummer“ versteht sich hierbei als Eingangstor zur Hilfe. Neben der aktiven und individuellen Unterstützung durch die Beratung trägt der Verein durch die Informationsweitergabe an andere Hilfseinrichtungen, politische Entscheidungsträger und an die Öffentlichkeit zur Verwirklichung des Rechts junger Menschen auf Förderung ihrer Entwicklung und zur Verbesserung ihrer Lebenssituation bei. Ähnlich wie ein Kompass helfen seine Beratungsangebote Heranwachsenden einen (eigenen) Weg aus einer für sie schwierigen Situation zu finden und Perspektiven zu vermitteln. Anna Zacharias Alexandra Decker Nummer gegen Kummer e.V. Hofkamp 108 42103 Wuppertal E-Mail: a.zacharias@nummergegenkummer.de a.decker@nummergegenkummer.de Literatur Beautrais, A. L., Joyce, P. R., Mulder, R. T. et al. (1997): Precipitating factors and life events in serious suicide attempts among youths aged 13 through 24 years. Journal of the American Academy of Child and Adolescents Psychiatry, 36 (11), 1543 - 1551, https: / / doi. org/ 10.1016/ S0890-8567(09)66563-1 DKSB e.V. BAG KJT e.V. (1992): Organisationshandbuch: Kinder- und Jugendtelefon, Köln/ Wuppertal Erikson, E. H. (1999): Kindheit und Gesellschaft. 13. Aufl., Klett-Cotta, Stuttgart Hurrelmann, K. (1988): Sozialisation und Gesundheit: somatische, psychische und soziale Risikofaktoren im Lebenslauf. Juventa-Verlag, Weinheim/ München Nummer gegen Kummer e.V. (2007): Nummer gegen Kummer 2007. Eine Studie zum Kinder- und Jugendtelefon und zum Elterntelefon in Deutschland. Wuppertal Nummer gegen Kummer e.V. (2010): Nummergegen- Kummer Studie 2010. Rollenverständnis im Wandel. 274 uj 6 | 2019 Viel Kummer mit der Liebe Eine Untersuchung zum Kinder- und Jugendtelefon in Deutschland. Wuppertal Nummer gegen Kummer e. V. (2019 a): Statistik 2018. Kinder- und Jugendtelefon. https: / / www.nummergegenkummer.de/ presse.html (13. 3. 2019) Nummer gegen Kummer e.V. (2019 b): Statistik 2018. em@il-Beratung. https: / / www.nummergegenkum mer.de/ presse.html (13. 3. 2019) Rogers, C. R. (2001): Die nicht-direktive Beratung. 10. Aufl., Fischer, Frankfurt/ Main Sheftall, A. H., Asti, L., Horowitz, L. M. et al. (2016): Suicide in elementary school-aged children and early adolescents. Pediatrics, 138 (4), 1 - 10, https: / / doi.org/ 10. 1542/ peds.2016-0436 Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990), BGBI. I S. 1163