eJournals unsere jugend 71/9

unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Zweite Runde, neuer Anlauf?!

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2019
Eva Dittmann
Heinz Müller
Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der aktuellen SGB VIII Reformdebatte und blickt dabei sowohl auf bearbeitete Themen als auch auf den die Reform begleitenden Dialogprozess. In diesem Zusammenhang wird die Frage diskutiert, welche Debatte eigentlich für welche Kinder- und Jugendhilfe der Zukunft erforderlich wäre und welche Möglichkeiten dabei der aktuelle Reformversuch bietet.
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354 unsere jugend, 71. Jg., S. 354 - 359 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art58d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zweite Runde, neuer Anlauf? ! Die SGB-VIII-Reform und die Kinder- und Jugendhilfe der Zukunft Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der aktuellen SGB VIII Reformdebatte und blickt dabei sowohl auf bearbeitete Themen als auch auf den die Reform begleitenden Dialogprozess. In diesem Zusammenhang wird die Frage diskutiert, welche Debatte eigentlich für welche Kinder- und Jugendhilfe der Zukunft erforderlich wäre und welche Möglichkeiten dabei der aktuelle Reformversuch bietet. von Eva Dittmann Jg. 1986; M. A. Politikwissenschaften und Soziologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der ism gGmbH Am 6. November 2018 setzte das BMFSFJ den Startschuss für die zweite Runde der SGB-VIII- Reform, nachdem in der letzten Legislatur die Überbleibsel eines ambitionierten Reformvorhabens im Bundesrat nicht verabschiedet wurden. Im Koalitionsvertrag werden einige der Reformpunkte wieder aufgenommen, mit dem Ziel, das bestehende Kinder- und Jugendhilfegesetz weiterzuentwickeln. Die Basis hierfür soll das vom Bundestag beschlossene, aber vom Bundesrat nicht verabschiedete Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sein. Ähnlich wie im vorhergehenden Koalitionsvertrag finden sich hier Zielformulierungen wie „ein wirksames Hilfesystem“ schaffen, um Kinder besser zu schützen, Elternarbeit bei fremduntergebrachten Kindern stärken, Unterstützung von Pflegeeltern und die Stärkung präventiver sozialräumlicher Angebote (Koalitionsvertrag 2018, 21ff ). Eine explizite Zielformulierung, die wie in der vorangehenden Legislatur auf einen strukturierten Prozess „zu einem inklusiven, effizienten und dauerhaft tragfähigen und belastbaren Hilfesystem“ (Koalitionsvertrag 2013, 70) führen soll und auch die Schnittstellen von SGB VIII, SGB XII und Schulträgern berücksichtigt, finden sich im aktuellen Koalitionsvertrag so nicht. Einerseits scheint damit die vehement geführte Debatte zur Aushöhlung individueller Rechtsansprüche im Bereich der Hilfen zur Erziehung (§ 27ff SGB VIII) zugunsten von sozialräumlichen Finanzierungsmodellen ebenso vom Tisch wie andererseits die Hoffnung auf eine „große Lösung“ im Rahmen einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe. Vor dem Hintergrund einer massiven Kritik über mangelnde Transpa- Heinz Müller Jg. 1966; Diplom-Pädagoge, Geschäftsführer der ism gGmbH 355 uj 9 | 2019 SGB-VIII-Reform - Zweite Runde, neuer Anlauf renz und Beteiligung wird der zweite Anlauf des Reformvorhabens in dieser Legislatur durch einen breit angelegten Beteiligungsprozess gerahmt. Über eine Bundes-AG mit Akteuren aus den Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, der Behinderten- und Gesundheitshilfe sowie Bund, Ländern und Kommunen, online-Konsultationen der Fachöffentlichkeit, Konferenzen und einer Betroffenenbefragung zu „hochproblematischen Kinderschutzverläufen“ soll in einem Dialogverfahren die Kinder- und Jugendhilfe modernisiert werden - so die Botschaft auf der eigens hierfür eingerichteten Homepage (www.mitreden-mitgestalten.de). Der Dialogprozess konzentriert sich insbesondere auf das Jahr 2019. Im Rahmen von vier Themensitzungen sollen die zentralen Reformpunkte bearbeitet werden. 1. Besserer Kinderschutz und mehr Kooperation (Beteiligung, Ombudschaften, Heimaufsicht, Schnittstellen Gesundheit und Justiz etc.) 2. Fremdunterbringung: Kindesinteressen wahren - Eltern unterstützen - Familien stärken (Elternarbeit, Schutz von Bindungen, Pflegekinderwesen und Heimerziehung qualifizieren etc.) 3. Prävention im Sozialraum stärken (niedrigschwellige Hilfezugänge, Finanzierungsstrukturen, Prävention etc.) 4. Mehr Inklusion, wirksames Hilfesystem, weniger Schnittstellen (Inklusion, Übergänge zwischen Leistungssystemen, junge Volljährige etc.) Das Arbeitsprogramm ist dicht und angesichts der Themen-, Beteiligungs- und Akteursvielfalt sehr ambitioniert. Dennoch bleibt die Hoffnung, dass mit diesem neuen Anlauf vieles besser gemacht werden könnte. Im Rückblick auf die gescheiterte erste Reform des SGB VIII wird erkennbar, dass die Ausgestaltung eines inklusiven SGB VIII mehr sein muss als „nur“ die Zusammenführung von Leistungen (Rohrmann 2018, 4ff ), die Stärkung von sozialräumlichen Angeboten nicht zu Lasten von Individualansprüchen gehen darf und auch das Verhältnis von Kinderrechten zu Elternrechten bei der Frage, wer Inhaber des Rechtsanspruchs ist, sensibel austariert werden muss (Böllert 2017, 10ff ). Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es erneut politische Bestrebungen geben, die auf die Absenkung von Leistungsansprüchen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sowie für junge Volljährige und damit auf eine Zwei-Klassen-Jugendhilfe zielen. Zweifellos werden in diesem Reformprozess wichtige Punkte zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe hervorgehoben. Der Dialogprozess sichert zudem eine breite Beteiligung und Information der Fachöffentlichkeit. Dennoch stellt sich die Frage, ob angesichts doch sehr weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen und einer Kinder- und Jugendhilfe, die längst mehr ist als Ausfallbürge, Nothilfe und „Betreuungsanstalt“ für Kinder, die zentralen Strukturfragen im Mittelpunkt der Reform stehen. Welche Reform für welche Kinder- und Jugendhilfe? Seit Inkrafttreten des SGB VIII (1990/ 1991) hat sich die Kinder- und Jugendhilfe weitgehend normalisiert und ihr gesamtgesellschaftlicher Verantwortungsbereich deutlich ausgeweitet. Neben ihren (historisch begründeten) zentralen Funktionen, den Kinderschutz verlässlich zu sichern sowie ordnungspolitische Aufgaben bei jungen Menschen und Familien mit normabweichenden Bewältigungsmustern wahrzunehmen, ist sie heute partizipativ und dienstleistungsorientiert ausgerichtet und stellt eine moderne, professionelle und an Fachstandards ausgerichtete soziale Infrastruktur dar, die junge Menschen und Familien in allen Lebensphasen unterstützt. Der Kinder- und Jugendhilfe wird heute eine Transformation hin zu einem elementaren Bestandteil sozialer Infrastruktur für gutes und 356 uj 9 | 2019 SGB-VIII-Reform - Zweite Runde, neuer Anlauf gerechtes Aufwachsen junger Menschen und ihrer Familien attestiert. Damit ist eine vielfältige und ausdifferenzierte Angebots-, Hilfe-, Beratungs- und Betreuungsinfrastruktur gemeint, die in allen Kommunen mit je unterschiedlicher Qualität und Quantität vorhanden ist. Die Kinder- und Jugendhilfe ist von zentraler gesellschaftlicher Systemrelevanz, auch weil sie heute durch die reale Inanspruchnahme ihrer Leistungen von allen jungen Menschen und Familien in bestimmten Lebensphasen und Lebenslagen nicht mehr nur theoretisch, sondern auch faktisch die dritte Sozialisationsinstanz neben Familie und Schule bildet. Sie ist bei allen relevanten gesellschaftlichen Herausforderungen, von der Ausgestaltung des demografischen Wandels und der Migrationsgesellschaft bis hin zur Implementierung der UN-Behindertenrechtskonvention oder der Bearbeitung von Armutslagen und Bildungsbenachteiligungen zentraler Akteur. Ob diese gesellschaftlichen Herausforderungen gelingend gemeistert werden können, hängt nicht unwesentlich von der Qualität und der Quantität der zur Verfügung stehenden Kinder- und Jugendhilfe und Infrastruktur ab. In Deutschland beliefen sich die Aufwendungen der Kinder- und Jugendhilfe im Jahr 2017 auf knapp 50 Mrd. Euro - Tendenz steigend (Schilling 2018, 1). Äquivalent zu diesem Ausgabenanstieg hat sich auch das Angebot ausdifferenziert und die Anzahl der in diesem Bereich tätigen Personen deutlich erhöht (Fuchs- Rechlin/ Schilling 2018, 2ff ), sodass sich die Kinder- und Jugendhilfe mittlerweile zu einem eigenen Dienstleistungsmarkt entwickelt hat. Wenn von der Kinder- und Jugendhilfe die Rede ist, dann kennzeichnet dieser Begriff Handlungsfelder und Arbeitsansätze, die von den frühen Hilfen über Kindertagesstätten zu den vielfältigen Beratungsangeboten der Hilfen zu Erziehung und der Jugend- und Schulsozialarbeit bis hin zum Kinderschutz reichen. Die sich hierin ausdrückende Erfolgsgeschichte der Kinder- und Jugendhilfe beinhaltet gleichsam paradoxe Spannungsfelder. Einerseits nimmt sie immer mehr gesamtgesellschaftliche Funktionen in einer komplexer werdenden Welt mit differenzierteren Bedarfen und Ansprüchen sehr professionell wahr. Dabei greift sie Themen auf, differenziert ihre Angebote und wird zunehmend spezialisierter. Die meist reaktive Ausdifferenzierung und Expansion der Kinder- und Jugendhilfe ist zwar in ihrer gesamtgesellschaftlichen Funktion und professionellen Formen der Ausdifferenzierung begründet, zeigt jedoch gleichzeitig den deutlichen Mangel einer aus sich selbst heraus und an fachlichen und fachpolitischen Überlegungen sowie normativen Leitformeln abgeleiteten professionellen Handlungsorientierung. Die Kinder und Jugendhilfe ist, ihrer eigenen Erfolgsgeschichte geschuldet, unübersichtlich geworden und reagiert auf gesellschaftliche Ausdifferenzierung ebenso mit einer Zunahme an Komplexität und Spezialisierung. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob diese Entwicklungslogik der Kinder- und Jugendhilfe zu besseren Bedingungen für junge Menschen und Familien und zu mehr sozialer Gerechtigkeit beiträgt. Der Befund ist nicht eindeutig und lässt sich in drei strukturellen Beispielen veranschaulichen. 1. Es geht vielen jungen Menschen und Familien in Deutschland so gut wie nie zuvor. Gleichzeitig nimmt die Spaltung zwischen „Arm und Reich“ kontinuierlich zu. Je nach Berechnungsgrundlage leben ca. 20 - 25 % der jungen Menschen in prekären Lebensverhältnissen (z. B. Armut, familiale Situation, Aufenthaltsstatus). Arme Kinder zeigen dauerhafte strukturelle Benachteiligungen in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen auf (z. B. Schule, Gesundheit, Freundschaften). Alleinerziehende und junge Volljährige tragen das größte Armutsrisiko von allen Bevölkerungsgruppen. Mittels des massiven Ausbaus von Jugendhilfeleistungen in allen Handlungsfeldern werden sicherlich die gravierendsten Beeinträchtigungen der betref- 357 uj 9 | 2019 SGB-VIII-Reform - Zweite Runde, neuer Anlauf fenden jungen Menschen und Familien abgemildert. Das reicht allerdings nicht, um den Anspruch des § 1 SGB VIII Rechnung zu tragen und gleichberechtigte Teilhabechancen zu eröffnen. Ein quantitativer Ausbau und eine weitere Spezialisierung der Kinder- und Jugendhilfe würden gleichsam nicht ein Mehr an Teilhabechancen ermöglichen. Vielmehr sind gänzlich neue Instrumente im Zusammenspiel mit der Arbeitsverwaltung, Schule, Stadtplanung etc. notwendig, um auch an den sozialen Rahmenbedingungen prekärer Lebenslagen wirksam zu arbeiten. 2. Eine der zentralsten Entwicklungsaufgaben stellt die Gestaltung der Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und der Schule dar, um den klaren und empirisch abgesicherten Zusammenhang zwischen Lebenslagen, Schulproblematiken und Bildungsbenachteiligung nachhaltig aufzubrechen. Zahlreiche Studien (z. B. PISA, IGLU, Bildungsberichtserstattung etc.) sowie die Kinder- und Jugendberichte des Bundes belegen seit Jahrzehnten kontinuierlich den ungebrochen starken und generationenübergreifenden Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status des Elternhauses und dem Bildungserfolg junger Menschen im aktuellen Bildungssystem. Die Frage, wie eine wirksame Unterstützung und ein nachhaltiger Ausgleich der (Un-)Gerechtigkeitsbasis Familie im Rahmen staatlich verantworteter Erziehung und Bildung aussehen kann, ist eine zentrale Gestaltungsaufgabe. Sicher scheint dabei nur, dass weder die Familien oder die Schule noch die Kinder- und Jugendhilfe je für sich allein in diesem Zusammenhang günstige Sozialisationsbedingungen und Bildungserfolge junger Menschen sicherstellen können. Schule ist in Länderhoheit organisiert. Die Kinder- und Jugendhilfe ist kommunal verfasst. Schon daraus ergeben sich erhebliche strukturelle Kooperationsprobleme (Wiesner 2019, 59ff ), die einer rechtlichen Klärung ebenso bedürfen, wie die konzeptionelle und organisatorische Weiterentwicklung einer schulbezogenen Kinder- und Jugendhilfe. 3. Im rasanten Tempo verändern sich die Lebensverhältnisse in Deutschland. In der jüngst veröffentlichten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung werden die erheblichen regionalen Disparitäten in den Lebensbedingungen anschaulich dargestellt (vgl. Fink u. a. 2019). Während die urbanen Räume prosperieren, kristallisieren sich immer deutlicher ländliche Räume mit tiefgreifenden Strukturproblemen heraus. Die soziale Ungleichheit junger Menschen hängt heute nicht nur maßgeblich von der sozialen Situation, der Familie und dem Migrationshintergrund ab, sondern auch vom Wohnort. Um die sozialen Benachteiligungen auszugleichen bzw. Teilhabechancen zu eröffnen, sind insbesondere in den abgehängten Regionen Deutschlands besonders viele Kinder- und Jugendhilfeangebote notwendig, die sich diese zumeist „armen“ Kommunen nicht leisten können. Vor dem Hintergrund dieser Disparitäten in der Finanzausgestaltung der Kommunen werden über die Kinder- und Jugendhilfe ungleiche Lebensbedingungen von jungen Menschen und Familien noch verschärft. Im Kontext einer strukturellen Reform des SGB VIII müsste insofern auch die Finanzierung der Kinder- und Jugendhilfe neu diskutiert werden. Wenn mit der SGB-VIII-Reform eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe auf den Weg gebracht und Leistungen für junge Volljährige abgesichert werden sollen, dann wird damit auch eine Ausgabensteigerung verbunden sein. Für eine Zustimmung zum neuen Gesetzentwurf im Bundesrat muss folglich auch die Finanzierung geklärt sein, denn gleichwertige Lebensverhältnisse erfordern eine bedarfsgerechte soziale Infrastruktur, deren Finanzierung langfristig abgesichert werden muss. Die Reihe der Beispiele für strukturellen Handlungsbedarf zur Weiterentwicklung der Kinder und Jugendhilfe ließe sich deutlich ausweiten. Dabei hätten die Bearbeitung der Themen Migration und Inklusion ebenso weitreichende Konsequenzen für Angebote und Finanzierungsfragen wie eine Anpassung der Schnittstellen mit den übrigen Sozialleistungsgesetzbüchern, um abgestimmte Handlungsansätze und integrierte Planungen zu ermöglichen. 358 uj 9 | 2019 SGB-VIII-Reform - Zweite Runde, neuer Anlauf Die Chancen und Risiken der dialogischen Beteiligung in der SGB-VIII-Reformdebatte Die Idee eines breit angelegten Dialogprozesses in der aktuellen SGB-VIII-Reformdebatte ist grundsätzlich zu begrüßen. Damit wird auf einen der größten Kritikpunkte des vorausgegangenen SGB-VIII-Reformversuches reagiert, welcher größtenteils ohne die Einbindung der fachlichen und fachpolitischen Expertise der Akteure der Kinder- und Jugendhilfe stattfand. So sind die unterschiedlichen Akteurs- und Interessensgruppen der Kinder- und Jugendhilfe sowie z. T. Akteure an den Schnittstellen betroffener Teilsysteme - wie z. B. die Behindertenhilfe sowie das Gesundheitssystem - derzeit in den unterschiedlichen Formaten des Dialogprozesses (Diskussions- und Fachforen, Onlinebeteiligung, Stellungnahme etc.) einbezogen. Dabei dient die Gestaltung des Dialogprozesses auch, aber nicht nur, einer fachlichen Qualifizierung des Prozesses. Die dialogische Beteiligung betroffener Akteurs- und Interessensgruppen in politischen Prozessen stellt indes eine wichtige Grundlage unseres demokratisch verfassten Staates dar. Die Idee diskursiver Politikgestaltung verspricht zudem die Möglichkeit in pluralistischen Gesellschaften, in denen Ideale und normative Einstellungen vielfältiger werden, politische Entscheidungen nicht nur über Abstimmungen, sondern auch über den zuvor geführten Diskurs zu legitimieren und damit eine größere Akzeptanz und Wirkmächtigkeit zu entfalten (Habermas 1991; Cohen 1989). Dabei weckt die Debatte aufgrund der sinnvollen und auch notwendigen Beteiligung und dialogischen Gestaltung aber auch die Erwartung einer besseren und damit gerechteren Entscheidung. Indes ist jedoch zu beachten, dass Entscheidungen, die aus einem diskursiven Verfahren hervorgehen, nicht automatisch gerechte(re) Entscheidungen generieren (Rawls 1996). Dies ist für den Ausgang der Debatte und ihr mögliches Ergebnis hoch relevant, gerade weil sich die Reform an eben dieser Erwartungshaltung wird messen lassen müssen. Ob und wie sich die derzeitigen Beteiligungsmöglichkeiten jedoch real auswirken werden, wird maßgeblich davon abhängen, wie der Aushandlungsprozess in den einzelnen Themenforen gestaltet wird und wie bindend die erarbeiteten Ergebnisse in der späteren Modifizierung des Gesetzestextes berücksichtigt werden sowie welche der Ergebnisse (von wem) als entscheidungsrelevant eingeordnet werden. Die Komplexität des zu verhandelnden Sachverhaltes, die Fülle an Einzelthemen sowie die dafür vorgesehene Verhandlungszeit lässt wenig Spielraum für eine nachhaltige fachliche Qualifizierung durch den Dialogprozess. Gleichzeitig wird eine Verantwortungsverschiebung für die Güte des gesamten Reformergebnisses auf den Dialogprozess sichtbar. Dies stellt, trotz der beachtlichen Bemühungen der VertreterInnen der Kinder- und Jugendhilfe unter den gegebenen Rahmenbedingungen eine Überfrachtung des Dialogprozesses dar. Ausblick und Perspektiven Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen wird deutlich, dass die zu bearbeitenden Themen und Fragestellungen weit mehr bedürfen als die Modifizierung von Gesetzestexten und rechtstechnische Veränderungen im SGB VIII. Die Entwicklungsgeschichte der Kinder- und Jugendhilfe verweist zwar deutlich auf einen Weiterentwicklungsbedarf. Dieser betrifft jedoch das Gesamtsystem der Kinder- und Jugendhilfe, ihre inhärenten sowie in Kooperation mit anderen Systemen existierenden normativen Leitbilder und Handlungslogiken (z. B. Schule, Arbeitsverwaltung, Stadtentwicklung). Dies erfordert eine fundierte Auseinandersetzung mit den strukturellen, gesellschaftlichen und infrastrukturellen Veränderungen der letzten Jahre und ihren realen Folgen. Die erfolgrei- 359 uj 9 | 2019 SGB-VIII-Reform - Zweite Runde, neuer Anlauf che Transformation der Kinder- und Jugendhilfe zur systemrelevanten Sozialisationsinstanz hat nicht in adäquatem Maße dazu geführt, dass Teilhabechancen für junge Menschen und Familien in prekären Lebenslagen deutlich besser geworden sind. Die vermeintlich einfache Antwort, durch ein einfaches „Mehr“ und modernisierte Angebote der Kinder- und Jugendhilfe auch bessere und gerechtere Bedingungen des Aufwachsens sowie den Ausgleich von Benachteiligungen sicherzustellen, hat sich unter den gegebenen Umständen nicht realisiert. Eine Fortführung dieser Entwicklung würde nicht nur die Komplexität der Wechselwirkungen verkennen, sie würde auch die Augen vor Folge- und Nebenwirkungen verschließen, die ein weiteres Vorantreiben der Modernisierung (im Sinne einer weiteren Spezialisierung und Selbstentgrenzung des Systems) der Kinder- und Jugendhilfe hätte. Die SGB-VIII-Reformdebatte sowie der geführte Dialogprozess spiegeln derzeit charakteristisch, jedoch sehr konsequent eben jene Entwicklung einer zunehmend spezialisierteren Kinder- und Jugendhilfe (mit all ihren Folgeproblemen und nicht intendierten Nebeneffekten) wider - und damit genau den Prozess, welcher letztlich die Unzufriedenheit und die Debatte selbst ausgelöst hat. Vor diesem Hintergrund bedarf es einer Neuausrichtung der gesamtgesellschaftlichen Funktion der Kinder- und Jugendhilfe verbunden mit einer (fach)politischen Positionierung und aktiven Einmischung in Politik. Der dafür erforderliche Diskurs muss auch junge Menschen und ihre Familien selbst als ExpertInnen in eigener Sache beteiligen. Dies eröffnet eine echte Chance nicht nur auf ein besseres, sondern auch gerechteres SGB VIII, welches junge Menschen und ihre Familien bei der Realisierung eines guten und eigenverantwortlichen Lebens in einer demokratisch verfassten Gemeinschaft unabhängig von sozio-ökonomischer oder geografischer Herkunft unterstützt. Eva Dittmann Heinz Müller Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz E-Mail: eva.dittmann@ism-mz.de heinz.mueller@ism-mz.de Literatur Böllert, K. (2017): SGB VIII-Reform. Eine never-ending Story mit ungewissem Ausgang. In: Widersprüche 146 (37), 9 - 20 Cohen, J. (1989): Deliberation and Democratic Legitimacy. In: Hamlin, A., Petit, P. (Hrsg.): The Good Polity. Normative Analysis of the State. Blackwell, Oxford/ New York, 17 - 34 Fink, P., Hennicke, M., Tiemann, H. (2019): Ungleiches Deutschland. Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2019. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Fuchs-Rechlin, K., Schilling, M. (2018): Vom „Ende des Wachstums“ zum „Wachstum ohne Ende“. In: Komdat 1 (21), 2 - 6 Habermas, J. (1991): Erläuterungen zur Diskursethik. Suhrkamp, Frankfurt Koalitionsvertrag (2013): Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode. Union Betriebs-GmbH, Rheinbach, https: / / doi.org/ 10.9785/ ovs-ur-2010-8 Koalitionsvertrag (2018): Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 19. Legislaturperiode. https: / / doi.org/ 10.9785/ ovs-ur-2010-8 Rawls, J. (1996): Political Liberalism. Columbia University Press, New York Rohrmann, A. (2018): Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention für ein „inklusives SGB VIII“. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 1 (49), 4 - 15 Schilling, M. (2018): Ausgabenanstieg - 48,5 Mrd. EUR für die Kinder- und Jugendhilfe in 2017. In: Komdat 3 (21), 1 - 4 Wiesner, R. (2019): Die Kinder und Jugendhilfe und ihr Recht. Ein Kurzporträtaus verschiedenen Perspektiven. In: Von zur Gathen, M., Meysen, T., Koch, J. (Hrsg.): Vorwärts, aber nicht vergessen! Beltz, Weinheim/ Basel, 54 - 68 www.mitreden-mitgestalten.de, 7. 6. 2019