eJournals unsere jugend 71/9

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
91
2019
719

Sozialräumliche Orientierung und Inklusion im neuen SGB VIII

91
2019
Rolf Diener
Die fortgeschrittenen fachlichen Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere im Bereich der Sozialraumorientierung sowie der Inklusion lassen sich auf der bestehenden gesetzlichen Basis des SGB VIII aus Sicht der Praxis nur unzureichend abbilden. Im Folgenden werden daher die Anforderungen an die anstehende SGB-VIII-Reform aus Sicht eines Jugendamtes formuliert.
4_071_2019_009_0382
382 unsere jugend, 71. Jg., S. 382 - 388 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art62d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Rolf Diener Jg. 1962; Diplom-Sozialarbeiter, Leiter des Jugendamtes im Amt für Soziale Dienste Bremen Sozialräumliche Orientierung und Inklusion im neuen SGB VIII Die fortgeschrittenen fachlichen Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere im Bereich der Sozialraumorientierung sowie der Inklusion lassen sich auf der bestehenden gesetzlichen Basis des SGB VIII aus Sicht der Praxis nur unzureichend abbilden. Im Folgenden werden daher die Anforderungen an die anstehende SGB-VIII-Reform aus Sicht eines Jugendamtes formuliert. Ich kann nicht vertieft auf alle Bereiche der geplanten großen Reform des SGB VIII eingehen und werde daher den Schwerpunkt auf die beiden aus meiner Sicht wichtigsten Bereiche für eine SGB-VIII-Reform legen: die sozialräumliche Orientierung sowie die inklusive Ausrichtung („große Lösung“). Andere wichtige Bereiche werde ich lediglich oberflächlich anreißen. Mein Schwerpunkt liegt dabei zwar auf den Anforderungen an den gesetzlichen Rahmen, ich beziehe in Teilen aber auch die aus meiner Sicht abzuleitenden organisatorischen und strukturellen Rahmensetzungen in den Jugendämtern mit ein. Meine Sicht ist dabei geprägt von dem Blickwinkel eines Großstadtjugendamtes. Wesentliche Aussagen werden aber in abgewandelter Form auch für Jugendämter kleiner Städte oder Kreise gelten. Sozialräumliche Orientierung In den letzten Jahren haben sich sozialräumliche und lebensweltorientierte Ansätze in der Fachwelt der Kinder- und Jugendhilfe deutlich weiterentwickelt. Ressourcen-, lösungs- und sozialraumorientierte Ansätze erweisen sich immer mehr als erfolgreicher Weg, Familien, Kinder und Jugendliche zu unterstützen. In vielen Jugendämtern durchgeführte (Modell-)Projekte (u. a. in Bremen, Nordfriesland, Hamburg, Stuttgart, Graz), teilweise mit wissenschaftlicher Evaluation, haben sich als äußerst erfolgreich erwiesen. Vor diesem Hintergrund sollte die Gesetzesreform diese Ansätze auch aktiv mit einbeziehen. Der Sozialraum wird hier nicht im Rahmen von Verwaltungsgrenzen definiert, sondern als der Raum, an dem sich der jeweilige Mensch aufhält (Wohnort, Freizeit, Schule etc.). Er verändert sich mit den verschiedenen Lebensphasen. So hat er i. d. R. im Jugendalter einen wesentlich größeren Radius als bei kleineren Kindern. Wie gerade die zahlreichen Erfahrungen einzelner Jugendämter zeigen, bietet der bestehende gesetzliche Rahmen hier schon viele Möglichkeiten. Diese werden aber von den Be- 383 uj 9 | 2019 Sozialräumliche Orientierung und Inklusion teiligten sehr unterschiedlich interpretiert und ausgelegt. In der momentanen Praxis der Jugendämter und der Träger lässt sich noch viel Verunsicherung darüber beobachten, was genau und mit welcher rechtlichen Absicherung umgesetzt werden kann, beispielsweise im Spannungsfeld zwischen präventiven sozialräumlichen Angeboten und dem individuellen Rechtsanspruch der Hilfeempfänger. Fallübergreifende, fallunspezifische und insbesondere niedrigschwellige präventive sozialräumlich orientierte Angebote sollten daher durch ein reformiertes SGB VIII weiter gestärkt und als verbindlicher Bestandteil in das Gesetz mit aufgenommen werden, damit die Finanzierung unabhängig von der jeweiligen kommunalen Haushaltslage abgesichert werden kann. Vor dem Hintergrund der in der Praxis immer wieder formulierten unterschiedlichen Rechtsauffassungen gilt es hier, einen rechtssicheren Rahmen für die Ausschreibung und Finanzierung entsprechender Angebote zu schaffen, ohne aufwendige Vergabe- und Ausschreibungsprozesse durchführen zu müssen. Vor dem Hintergrund entsprechender in der Praxis immer wieder geäußerter Befürchtungen sollte noch einmal klargestellt werden, dass der individuelle Rechtsanspruch und das Wunsch- und Wahlrecht im Einzelfall Bestand haben. Vielmehr sollte für den Einzelfall auch der Rahmen für flexible Hilfen (§ 27 Abs. 2 SGB VIII) präzisiert und deutlich gestärkt werden. Dabei sollte explizit auch die Möglichkeit eines Mixes der Professionen z. B. in der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) formuliert werden. Es gibt eine ganze Reihe von Fallkonstellationen, in denen neben einer sozialpädagogischen auch eine Begleitung durch z. B. hauswirtschaftliche Fachkräfte, Babysitter o. Ä. eine große Unterstützung für die Familien darstellen kann. Ebenso sollten die Möglichkeiten von semiprofessionellen Angeboten und Peer-Learning offensiv gestärkt werden. Auch wenn entsprechende Angebote im derzeitigen gesetzlichen Rahmen (§ 27 Abs. 2 und 3 SGB VIII) grundsätzlich schon möglich sind, zeigen die Praxiserfahrungen in vielen Jugendämtern, dass die vorhandenen Öffnungsklauseln noch nicht im vollen Umfang genutzt werden. Hier sollte daher eine deutliche Klarstellung erfolgen, dass im Sinne einer Entwicklung von nachhaltigen und passgenauen Hilfen in enger Kooperation mit den jeweiligen Empfängern der Hilfe ein breites Spektrum sowohl an unterschiedlichen Professionen als auch z. B. von Unterstützungen aus dem semiprofessionellen Bereich oder der Nachbarschaft gewünscht ist und als Erweiterung des Angebotes genutzt werden kann. Perspektivisch sollten in diesem Zusammenhang über die reine SGB-VIII-Reform hinaus die Möglichkeiten von rechtskreisübergreifenden Angeboten und Finanzierungsmöglichkeiten (insbesondere mit den SGBs V, II, III und IX) deutlich ausgeweitet werden. Mehrdimensionale Wirksamkeitsforschung: Im Bereich der Hilfen zur Erziehung ist die Erforschung von mittel- und langfristigen Wirkungen und Zielerreichungen noch sehr unterentwickelt. Wenn, dann beschränken sich schon durchgeführte Forschungsvorhaben im Wesentlichen auf familienersetzende und in Teilen die klassischen ambulanten Angebote wie z. B. die SPFH. Eine mehrdimensionale Wirksamkeitsforschung sollte deutlich gestärkt werden. Ein besonderes Forschungsinteresse liegt dabei m. E. insbesondere auf der Wirkung von sozialräumlichen und semiprofessionellen Angeboten. Große Lösung - inklusive Strukturen Im Prozess der Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) ist davon ausgegangen worden, dass parallel das SGB VIII reformiert wird. Da die SGB-VIII-Reform in der letzten Legislaturperiode trotz in Teilen schon fortgeschrittener Debatten nicht mehr ins Ziel gekommen ist, hat dies zur Folge, dass der Bereich der Menschen unter 18 Jahren im vorliegenden BTHG m. E. nur unzureichend berücksichtigt wird und hier viele lose Fäden vorhanden sind, die im SGB VIII noch nicht verknüpft wurden. 384 uj 9 | 2019 Sozialräumliche Orientierung und Inklusion Vor diesem Hintergrund ist es aus jugendamtlicher Sicht gerade für diesen Themenbereich dringend erforderlich, dass der begonnene Reformprozess noch in dieser Legislaturperiode zu einem erfolgreichen Abschluss kommt und ein reformiertes SGB VIII in Kraft gesetzt wird. Auch Kinder und Jugendliche mit Einschränkungen und Handicaps, egal ob die Einschränkungen schon bei der Geburt vorhanden sind oder erst im Laufe der Entwicklung festgestellt werden oder sich entwickeln, sind in erster Linie Kinder und Jugendliche, die sich zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) entwickeln wollen und sollen. Hierbei sollen sie durch die Jugendhilfe in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung gefördert und ihre Eltern bei der Erziehung beraten und unterstützt werden. Behinderungen und Einschränkungen von jungen Menschen bedeuten in einer Vielzahl von Fallkonstellationen auch eine zusätzliche erzieherische Herausforderung für die Eltern und können daher m. E. nur im Gesamtzusammenhang bewertet und bearbeitet werden. Dies gilt für alle Ebenen: die gesetzliche, die organisatorische und die Ebene der praktischen Arbeit mit den Familien. Aus jugendamtlicher Sicht sollten daher alle Hilfen/ Leistungen für junge Menschen unter 18 Jahren sowie die entsprechenden erzieherischen Unterstützungsleistungen im SGB VIII verankert werden, sowohl im pädagogischen Bereich als auch bei der Leistungsgewährung sowie bei den entsprechenden Fachverfahren (Software). Im Gesetz sollte sich ein einheitlicher Leistungstatbestand (Erziehung, Entwicklung, Teilhabe) wiederfinden. Außerdem sollte es einheitliche Regelungen in Bezug auf Zuständigkeiten und Heranziehung in Federführung des Jugendamtes geben. Wichtig aus der Sicht eines Jugendamtes mit langjähriger Praxiserfahrung eines integrierten Fachdienstes aus Jugendhilfe und Eingliederungshilfe für die unter 18-Jährigen ist ein Dienst als einheitlicher Ansprechpartner für Kinder, Jugendliche und Familien für Unterstützung, Hilfe und Förderung. Dies ist zwar vor allem eine Empfehlung für die strukturelle Ebene, kann allerdings durch einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen deutlich erleichtert werden. Die Jugendämter, die zumindest in Teilen (i. d. R. im pädagogischen Bereich) eine entsprechende Struktur in einer einheitlichen Organisationsform entwickelt haben, berichten überwiegend von positiven Ergebnissen und Erfahrungen. Die Grenzen liegen hier weniger in der pädagogischen Fachlichkeit als in den noch vorhandenen unterschiedlichen gesetzlichen (System-)Logiken. Der/ die Casebzw. Fall-ManagerIn im Jugendamt sollte unter Berücksichtigung der neuen Regelungen zum Gesamt- und Teilhabeplanverfahren nach dem BTHG (SGB IX) für Eltern, Jugendliche und Kinder als einheitlicher Ansprechpartner fungieren und die möglicherweise aus unterschiedlichen Systemen zu erbringenden Unterstützungsleistungen koordinieren. Ggf. werden hier organisatorisch in den jeweiligen Stadtteil- oder Regionalteams der Jugendämter Spezialisierungen erforderlich sein. Gerade vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention und der Inklusion als gesellschaftlichem und politischem Ziel ist so viel Normalität (z. B. Kita, Schule) in den jeweiligen Lebenswelten und Sozialräumen der Menschen anzustreben wie möglich. Sowohl in der UN-Kinderrechtskonvention als auch in der UN- Behindertenkonvention ist das „Normalitätsprinzip“ verankert. Daher sollten zur Umsetzung einer umfassenden Teilhabe in erster Linie die „Regeleinrichtungen“ (z. B. Kita oder Schule) im Sozialraum qualitativ und quantitativ gestärkt werden und nur bei im Einzelfall evtl. vorhandenem zusätzlichen Unterstützungsbedarf dieser durch entsprechende Ergänzungsleistungen flankiert werden. Auch das BTHG bezieht sich hier an unterschiedlichen Stellen auf„Unterstützung zu einer […] selbstbestimmten und eigenverantwortliche Lebensführung […] im Sozialraum“ (§ 113 Abs. 1 SGB IX), die Beachtung der Kriterien„f ) lebensweltbezogen und g) sozialraumorientiert“ (§ 117 Abs. 1 SGB IX) 385 uj 9 | 2019 Sozialräumliche Orientierung und Inklusion im Gesamtplanverfahren. Die Fachkräfte sollten „umfassende Kenntnisse über den regionalen Sozialraum und seine Möglichkeiten […] haben“ (§ 97 SGB IX). „Die Beratung umfasst insbesondere […] 5. Hinweise auf Leistungsanbieter […] im Sozialraum […] 6. Hinweise auf andere Beratungsangebote im Sozialraum“ (§ 106 Abs. 2 SGB IX). An dem hier definierten Rahmen sollten sich sowohl die entsprechenden gesetzlichen Vorgaben im reformierten SGB VIII als auch die Hilfesysteme und die entsprechenden Organisationen orientieren. Vor diesem Hintergrund ist die Verankerung einer sozialräumlichen Struktur auch für den Bereich der Eingliederungshilfe zwingend umzusetzen. Auf der gesetzlichen Ebene sollte es auch für den Bereich der Leistungen für junge Menschen mit Einschränkungen einen offenen Leistungskatalog mit der Möglichkeit von flexiblen Hilfen geben, der explizit auch für diesen Bereich fallübergreifende und fallunspezifische Möglichkeiten eröffnet. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Leistungen für junge Menschen mit Einschränkungen im schulischen Bereich (sowohl junge Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen als auch seelisch Behinderte oder von seelischer Behinderung Bedrohte, § 53 SGB XII alt bzw. § 35 a SGB VIII). Die erforderlichen Unterstützungsleistungen zur Sicherstellung des Teilhabebedarfes können m. E. in vielen Konstellationen durch systemische Lösungen und eine Ertüchtigung der Systeme wesentlich effektiver und weniger exkludierend organisiert werden als durch persönliche Assistenzen. Im Sinne einer inklusiven Gesamtstruktur und vor dem Hintergrund der Tatsache, dass auf der Seite der Anbieter von Leistungen zumindest auf Zeit weiterhin Einrichtungen mit einem Schwerpunkt in der Eingliederungshilfe erforderlich sein werden, könnte in den (Landes-)Jugendhilfeausschüssen auch ein Sitz für einen Träger aus diesem Bereich vorgesehen werden, vielleicht in der Übergangszeit zumindest mit beratender Funktion. Weitere Reformbedarfe Elternunabhängiger Beratungsanspruch: Die in der Reformdebatte vorgesehene Ausweitung eines umfassenden eigenständigen und „elternunabhängigen“ Beratungsanspruchs für Kinder und Jugendliche auch außerhalb von Not- und Konfliktlagen muss auf jeden Fall umgesetzt werden. Ombudsstellen: Die in den vorliegenden Entwürfen (§ 9 a Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG)) schon vorgesehenen Ombudsstellen müssen aus meiner Sicht zumindest als Soll-Vorschrift umgesetzt werden. Sie müssen möglichst unabhängig sein und weder bei einem öffentlichen Träger noch direkt bei einem freien Träger der Jugendhilfe verortet sein. Angeregt wird hier eine Begleitung durch einen Beirat, dem beispielsweise der öffentliche Träger, die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, ggf. eine örtliche Hochschule und das Familiengericht angehören, um eine breite Wirkung in die unterschiedlichen Systeme erzeugen zu können. Schutz kindlicher Bindungen bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie: Die diskutierte systematische Verankerung der Perspektivklärung für den jungen Menschen im Hilfeplanprozess wird ausdrücklich unterstützt mit dem Ziel einer „längerfristigen“ Lebensperspektive. Phasen der Unsicherheiten für den jungen Menschen sollten auf das absolut notwendige Maß reduziert werden. Die Möglichkeit einer Dauerverbleibensanordnung im Bereich der Pflegefamilien sollte mit der Einschränkung eines Widerrufs möglich sein. Eine Rückkehroption zu den leiblichen Eltern muss auch nach längeren außerfamiliären Hilfeverläufen noch möglich sein, wenn es das Wohl des Kindes erlaubt und wenn eine Rückkehr dem altersangemessen geäußerten Willen des jungen Menschen entspricht. Letzterer muss dabei handlungsleitend sein. 386 uj 9 | 2019 Sozialräumliche Orientierung und Inklusion Die Elternarbeit mit den leiblichen Eltern und kindgemäße Umgangsregelungen müssen, auch bei unklarer oder nicht vorhandener Rückkehrperspektive, weiter gestärkt werden, denn die leiblichen Eltern bleiben für die Kinder stets auch Eltern. Eltern sollten konsequent in der Stärkung ihrer Erziehungsfähigkeit unterstützt werden, auch um mögliche Rückkehroptionen zu eröffnen. Das beinhaltet die Einführung eines eigenständigen Rechtsanspruchs auf Beratung und Unterstützung für Eltern, selbst wenn das Sorgerecht entzogen wurde. Auch in der Pflegekinderhilfe muss die Elternarbeit weiter gestärkt und als verbindliche Aufgabe verankert werden. Der Beratungsanspruch von Pflegeeltern muss weiterentwickelt werden. Insbesondere sollte klargestellt werden, dass auch Pflegepersonen, die Kinder/ Jugendliche auf der Grundlage des § 54 Abs. 3 SGB XII respektive § 113 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX aufnehmen, einen Anspruch auf umfassende Beratung und Unterstützung haben. Auslandsmaßnahmen: In speziellen und herausfordernden Fallkonstellationen und Einzelfällen insbesondere mit sogenannten „Systemsprengern“ haben sich Auslandsmaßnahmen als sehr erfolgreiche Unterstützungsform erwiesen. Vor dem Hintergrund der teilweise sehr kritischen Diskussion in der (Fach-)Öffentlichkeit werden die klarstellenden und die auch am Auslandsstandort Qualität sichernden Standards im § 36 c KJSG ausdrücklich begrüßt. Kooperation und verbesserter Kinderschutz: Zur Stärkung der bisher zumeist nur im SGB VIII verankerten Kooperationsverpflichtung sollten entsprechende Kooperationsverpflichtungen parallel zur Reform des SGB VIII auch in anderen Gesetzbüchern und Bereichen (u. a. Gesundheit, Bildung, Justiz) verankert werden. Vor diesem Hintergrund ist die im Rahmen des KJSG vorgeschlagene Einführung des neuen § 37 a im Jugendgerichtsgesetz (JGG) zur Ermöglichung der fallübergreifenden Zusammenarbeit von Jugendrichtern und Jugendstaatsanwälten ein erster Schritt. Auch im Bereich des Kinderschutzes müssen die Kooperationen weiter gestärkt werden und, wie in § 8 a KJSG vorgesehen, die Berufsgeheimnisträger, die dem Jugendamt im Rahmen des § 4 KJSG-KKG (Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz) Informationen übermittelt haben, in geeigneter Weise bei der Gefährdungseinschätzung beteiligt werden. Vor dem Hintergrund entsprechender Praxiserfahrungen und häufig geäußerter Erwartungshaltungen ist aber sicherzustellen, dass die Entscheidung über Art und Umfang der Beteiligung allein der fachlichen Einschätzung des Jugendamtes obliegt. Die in § 4 Abs. 4 KJSG-KKG vorgenommene Klarstellung, dass sich die Verpflichtung des Jugendamtes zu einer Rückmeldung darauf beschränkt, ob es die gewichtigen Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls des Kindes oder Jugendlichen bestätigt sieht und ob es zum Schutz des Kindes oder Jugendlichen tätig geworden ist und noch tätig wird, ist vor dem Hintergrund der in der Praxis oft deutlich weitergehenden Erwartungen anderer Beteiligter ausdrücklich zu begrüßen. Die in § 50 KJSG vorgesehene verpflichtende Übermittlung des Hilfeplans in familiengerichtlichen Verfahren konterkariert den Zweck des Hilfeplanverfahrens und wird aus meiner Sicht als nicht notwendig erachtet. Hier wird der bestehende gesetzliche Rahmen als ausreichend bewertet. Auch jetzt schon ist das Jugendamt verpflichtet, alle wesentlichen erzieherischen und sozialen Gesichtspunkte zur Entwicklung des Kindes/ Jugendlichen sowie über angebotene und erbrachte Leistungen zu berichten. Die Erweiterung um den § 5 KJSG-KKG zu Mitteilungsverpflichtungen von in Strafverfahren bekannt gewordenen erheblichen Kindeswohlgefährdungen wird ausdrücklich begrüßt. Inobhutnahme: Im Bereich der Inobhutnahme ergeben sich aus jugendamtlicher Sicht folgende wesentliche Handlungsbedarfe. Zum 387 uj 9 | 2019 Sozialräumliche Orientierung und Inklusion einen ist in vielen Jugendamtsbereichen in einer großen Zahl an Fallkonstellationen eine Verweildauer festzustellen, die einen fachlich angemessenen Rahmen deutlich übersteigt. Hier muss eine verbindlichere Übergangsplanung verankert werden, verbunden mit einer Rahmensetzung, die schnellere Entscheidungen für Übergänge in Anschlusshilfen ermöglicht, auch wenn beispielsweise familiengerichtliche Entscheidungen oder Gutachten noch nicht abschließend vorliegen. Eine mögliche Rückführung in die Herkunftsfamilie kann auch aus einer Anschlusshilfe heraus erfolgen. In der momentanen Praxis wird der Zeitpunkt für eine Perspektiventscheidung oft zu stark von den familiengerichtlichen Entscheidungen abhängig gemacht. Im Bereich der Bereitschaftspflegen wird es aufgrund sich verändernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für die Jugendämter immer schwerer, eine ausreichend große Zahl an potenziellen Bereitschaftspflegefamilien zu akquirieren (mehr Doppelverdienerhaushalte; viele Bereitschaftspflegen geben ihre Tätigkeit altersbedingt auf, ohne dass entsprechender Nachwuchs gewonnen werden kann; aufgrund des hohen Fachkräftemangels attraktivere Beschäftigungsmöglichkeiten im pädagogischen und gesundheitlichen Bereich etc.). Hier sollten die Rahmenbedingungen für die Bereitschaftspflege z. B. im Bereich der gesetzlichen Unfall- und Rentenversicherung, im Steuerrecht oder in der Grundvergütung verbessert werden. Als weiterer Punkt muss die Schnittstelle zwischen Inobhutnahme und Eingliederungshilfe betrachtet werden. In der Praxis müssen in Einzelfällen, bei allen Bemühungen zur umfassenden Inklusion in Jugendhilfeeinrichtungen, junge Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe untergebracht werden, wenn die Inobhutnahme-Stellen im Rahmen der Jugendhilfe hierfür im Einzelfall nicht ausgestattet sind, ohne dass es hierfür klare Rahmensetzungen gibt. Diese gilt es im Rahmen der Reform zu schaffen. Unterstützung bei der Verselbstständigung/ Übergangsgestaltung: Für die Unterstützung bei der Verselbstständigung junger Menschen ist eine verpflichtende Verankerung einer frühzeitigen Planung und der Vereinbarung entsprechender Ziele im Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII sowohl für den öffentlichen als auch für die freien Träger der Jugendhilfe erforderlich. Das Jugendamt muss bei Zuständigkeitsübergängen in Verbindung mit der Kooperationsverpflichtung nach § 81 SGB VIII die Federführung behalten (siehe auch § 36 b KJSG). Auch hier würde eine stärkere Kooperationsverpflichtung auch in anderen Gesetzbüchern unterstützend wirken. Junge Menschen sollten auch nach der Beendigung der (stationären) Hilfe weiterhin einen Anspruch auf Beratung und Unterstützung haben. Diese sollten aber degressiv und mit einem hohen Grad an Flexibilität bei gleichzeitig möglichst hoher persönlicher Kontinuität gestaltet sein. Hier sind öffentliche und freie Träger der Jugendhilfe auf der Grundlage eines entsprechenden gesetzlichen Rahmens gefordert, entsprechende flexible Unterstützungsformen zu entwickeln. Unterstützend könnten hier offene Anlaufstellen für Care Leaver ggf. in enger Kombination mit den sich gerade entwickelnden Selbsthilfeorganisationen der Care Leaver wirken. Ggf. sollten hier (ähnlich der Entwicklung bei den Ombudsstellen) zunächst Modellversuche gestartet werden, um hieraus eine größere konzeptionelle Klarheit und Schärfe zu entwickeln. Unbegleitete minderjährige AusländerInnen: Vor dem Hintergrund der entsprechenden Debatten in den letzten Jahren sollte im reformierten SGB VIII noch einmal ausdrücklich klargestellt werden, dass auch unbegleitete minderjährige AusländerInnen (umA) Jugendliche bzw. junge Erwachsene sind, die genau die gleichen Ansprüche auf Beratung und Unterstützungsleistungen haben wie jeder andere junge Mensch. Hier darf es keine Zwei-Klassen-Jugendhilfe geben. Eine (auch zeitweise) Unterbringung von 388 uj 9 | 2019 Sozialräumliche Orientierung und Inklusion umAs in sogenannten ANKER-Zentren ist mit Jugendhilfestandards in keiner Weise zu vereinbaren und daher auf jeden Fall zu vermeiden. Hier sind in den Jahren nach 2015 genügend geeignete Unterbringungs- und Unterstützungsformate entwickelt worden. Heimaufsicht: Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Stärkung der Heimaufsicht (§§ 45ff KJSG) insbesondere in den Bereichen Kindeswohl und Schutz vor Gewalt, aber auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Seite und einer ordnungsgemäßen Buch- und Aktenführung werden ausdrücklich begrüßt. Auch die gegenseitigen Informationspflichten und -möglichkeiten der örtlichen und überörtlichen Träger der Jugendhilfe über kindeswohlgefährdende Ereignisse oder Entwicklungen in Einrichtungen sollten weiter gestärkt werden. Klarzustellen ist, dass Einrichtungen nach § 19 SGB VIII ebenfalls unter die Heimaufsicht gestellt werden (auch als Beschwerdestelle). Starke Jugendämter: Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe auch von entsprechend stark aufgestellten Jugendämtern mit einer auskömmlichen personellen Ausstattung abhängt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um die personelle Ausstattung darf die Bewertung dabei auf keinen Fall auf eine reine Fallzahlrelation reduziert werden, da die Arbeit des Jugendamtes wesentlich mehr Bereiche und Prozesse umfasst (z. B. umfassende Beratung der Familien im Vorfeld möglicherweise erforderlicher Hilfe zur Erziehung; fallübergreifende, fallunspezifische und sozialräumliche Anteile; Aufbau und Entwicklung von sozialräumlichen Netzwerken). Hier sind vielmehr prozessorientierte Personalbemessungssysteme anzustreben, die die komplette Arbeit des ASD sowie der anderen Aufgaben der Jugendämter inkl. beispielsweise Controlling und Jugendhilfeplanung umfänglich abbilden. Finanzielle Folgewirkungen: Eine umfassende und die fachlichen Entwicklungen und Erfordernisse abbildende Reform des SGB VIII kann zumindest auf Zeit nicht kostenneutral sein. Es werden entsprechende finanzielle Ressourcen sowohl für die Ausstattung der Jugendämter als auch für die Finanzierung der weiterentwickelten sozialräumlichen und flexibleren Angebotslandschaft erforderlich sein, wobei es in Teilen auch zu Umsteuerungen zwischen den unterschiedlichen Gesetzes- oder Ressortbereichen kommen kann. Für eine erfolgreiche Umsetzung der Reform auch im politischen Raum ist es m. E. dringend erforderlich, dass die entstehenden finanziellen Mehraufwendungen in einem angemessenen Rahmen zwischen Bund, Ländern und Kommunen aufgeteilt werden. Perspektivisch bin ich fest davon überzeugt, dass sich insbesondere höhere Investitionen im präventiven und sozialräumlichen Bereich mittel- und langfristig sowohl bei den Kosten der Kinder und Jugendhilfe als auch langfristig in noch größerem Maße volkswirtschaftlich rechnen werden. Rolf Diener Amt für Soziale Dienste Bremen Breitenweg 29 - 33 28195 Bremen Tel. (04 21) 3 61 - 1 68 62 E-Mail: Rolf.Diener@afsd.bremen.de