eJournals unsere jugend 71/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Kernherausforderungen des Jugendalters als Anlässe für Kooperation

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2019
Stephan Maykus
Jugend ermöglichen – diese Leitformel steht im Mittelpunkt des 15. Kinder- und Jugendberichtes der Bundesregierung, der die Lebenslage Jugend in ihren gegenwärtigen Bedingungen für die Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung beschreibt. Es wird für eine neue Jugendorientierung plädiert: Inwiefern betrifft es auch die Kooperation von Schule und Jugendhilfe?
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402 unsere jugend, 71. Jg., S. 402 - 410 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art67d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kernherausforderungen des Jugendalters als Anlässe für Kooperation Impulse des 15. Kinder- und Jugendberichtes Jugend ermöglichen - diese Leitformel steht im Mittelpunkt des 15. Kinder- und Jugendberichtes der Bundesregierung, der die Lebenslage Jugend in ihren gegenwärtigen Bedingungen für die Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung beschreibt. Es wird für eine neue Jugendorientierung plädiert: Inwiefern betrifft es auch die Kooperation von Schule und Jugendhilfe? von Dr. phil. habil. Stephan Maykus Jg. 1971; Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Osnabrück und Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg Das Zusammenwirken von Jugendhilfe und Schule wird inzwischen in weitreichende gesellschaftliche Gestaltungsfelder eingeordnet: Die Maßgabe der Inklusion erfordert in Schulen erweiterte Förderkonzepte und interprofessionelle Kompetenzen, der weitere Ausbau von Ganztagsschulen wird untrennbar mit der Kinder- und Jugendhilfe als Bildungspartner verbunden und das Erkennen von Kindeswohlgefährdungen ist in den Schulgesetzen der Bundesländer als Auftrag kodifiziert worden. Schulsozialarbeit wurde als Arbeitsfeld weiter profiliert und schließlich sind es die Bemühungen um kommunale Bildungslandschaften, eine abgestimmte Schulentwicklungs- und Jugendhilfeplanung sowie die Betonung der kommunalen Gestaltungsverantwortung für Chancengerechtigkeit, die das Schul- und Jugendhilfesystem in ihren Ergänzungsmöglichkeiten hervorheben (vgl. für einen Überblick über Felder der Kooperation von Schule und Jugendhilfe Henschel u. a. 2009, zu Kooperationsforschung Speck u. a. 2011 und Bildungslandschaften Olk/ Schmachtel 2017). Eine erweiterte Perspektive auf ihr Verhältnis, die Möglichkeiten und Grenzen einer strukturell verankerten Vernetzung sowie auf pädagogische Zielvorstellungen des Zusammenwirkens ist daher in Theorie und Forschung ausdrücklich gefragt. Und die Innovation der Kooperationspraxis - das ist der Schwerpunkt des Beitrages - benötigt hierfür konzeptionelle Leitplanken sowie fachliche Orientierungsmaßstäbe, wie sie die Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung in regelmäßigen Zeitabständen (pro Legislaturperiode) bieten möchten: Welche Impulse liefert demnach der aktuell 15. Kinder- und Jugendbericht für die Praxis der Kooperation von Schule und Jugendhilfe? Dieser Frage geht der Beitrag nach, indem zunächst in knapper Form Kernbefunde und Positionen des Berichtes benannt und danach Rückschlüsse auf die Gestaltung und Ziele der Kooperation gezogen werden. Dafür werden von mir Transferthemen des 15. Kinder- und Jugendberichtes für die Kooperation von Schule und Jugendhilfe 403 uj 10 | 2019 Anlässe für Kooperation umrissen, sodass im Ergebnis Anregungen in Form reflexiver Impulse entstehen. Sie können von schul- und sozialpädagogischen Fachkräften in ihren unterschiedlichen Kooperationszusammenhängen bedacht werden. Befunde und Positionen des 15. Kinder- und Jugendberichtes „In den vergangenen Jahren hat sich das Jugendalter verändert. Jugendliche und junge Erwachsene übernehmen heute in sehr unterschiedlichen sozialen Lebenslagen Verantwortung für die Gestaltung ihres persönlichen Lebens und das soziale Zusammenleben. Das Jugendalter ist die zentrale Lebensphase, in der junge Menschen sich selbst in den sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Zusammenhängen unserer Gesellschaft platzieren. Doch wie den jungen Menschen Jugend heute ermöglicht wird, mit welchen Herausforderungen sie sich wie und wann in ihrem Leben auseinandersetzen und welche sozialen, rechtlichen und politischen Möglichkeiten sie haben, ist sehr unterschiedlich. Jugend zu ermöglichen, bedeutet darum, vor allem zu fragen, wie soziale Teilhabe von jungen Menschen sozial gerecht und die Bedingungen des Aufwachsens so gestaltet werden können, dass Jugendliche und junge Erwachsene die für sie alterstypischen Herausforderungen eigenständig und erfolgreich meistern können.“ Mit dieser Einschätzung ist das zentrale Ziel des 15. Kinder- und Jugendberichtes (BMFSFJ 2017, 17) umrissen: Der Jugendbegriff, das Verhältnis pädagogischer Institutionen zur Jugend und das von der Gesellschaft zu dieser Lebenslage sind wieder neu zu reflektieren und zu bestimmen. Die Sachverständigenkommission kommt - um hier nur wenige ausgewählte Positionen zu benennen - zu einer Bilanz, die in der Forderung nach einer neu akzentuierten Jugendorientierung in Gesellschaft, Politik und Pädagogik mündet (im Einzelnen vgl. BMFSFJ 2017 und Maykus 2018 a): 1. Jugend ist eine generationale Lebenslage und mehr als die eigenverantwortlich gestaltete Phase der Qualifizierung: Das öffentliche und gesellschaftliche Bild von Jugend betont den Aspekt der Qualifizierung und individualisiert diesen Prozess der vor allem berufsorientierten Bildung junger Menschen, d. h. auch die Verantwortung für mögliche Schwierigkeiten dabei. So wenig das in jedem Fall angemessen ist, so dominant ist dieses Bild dennoch. Der Bericht hebt hingegen hervor, dass Jugend neben Qualifizierung noch mit zwei weiteren wichtigen Aspekten einhergeht: Verselbstständigung und Selbstpositionierung. Dies sind die drei Kernherausforderungen des Jugendalters, die individuell gestaltet und bewältigt, gesellschaftlich und pädagogisch aber auch ermöglicht werden müssen. Sie machen einen bestimmten Integrationsmodus aus, der die Jugend im Unterschied zu anderen Lebensphasen kennzeichnet. Jugend ermöglichen ist daher die Leitperspektive des 15. Kinder- und Jugendberichtes (vgl. BMBFSJ 2017, 75f ). 2. Jugendliche vertreten ihre Interessen als politische Akteure in der Gesellschaft: Die politische Wirkung der Jugend wird allein mit Blick auf ihren demografischen Anteil an der Gesamtbevölkerung geringer, sodass Jugendlichen gerade explizit Orte der Äußerung, Partizipation und Einflussnahme auf politische Entscheidungen eröffnet werden müssen. Die Demokratieorientierung Jugendlicher ist hoch, gering ist lediglich ihr Interesse an eher klassischen Formen der politischen Betätigung wie in Parteien. Politische Aktionen Jugendlicher folgen heute eher wechselnden, kurzfristigen und lebensweltlich orientierten Interessen denn dem Engagement für eine jugendpolitische Position im allgemeinen Sinne. Sie sind vielfältig, flexibel und werden auch sozial ungleich praktiziert. Daher sind Freiräume und Beteiligung auch Kristallisationspunkte der Jugendpolitik als ermöglichende Bedingungen des politischen Engagements Jugendlicher (vgl. ebd. und 197f ). 404 uj 10 | 2019 Anlässe für Kooperation 3. Die Kernherausforderungen von Jugend sind in ihren Bedingungen sozial beeinflusst: Jugend ist zunächst zu betrachten im Kontext der Migrationsgesellschaft, in deren Lebenslage allerdings nur ca. ein Drittel der Jugendlichen auch eine eigene Migrationserfahrung hat, mit einer neuen Ausprägung kamen Jugendliche mit Fluchterfahrung hinzu. Jugend bedeutet oft auch das Leben in prekären Beschäftigungsverhältnissen, denn obwohl Jugendliche selten arbeitslos sind, stellen sich die Arbeitsverhältnisse nicht in gleichem Maße umfänglich, sicher und entsprechend vergütet dar. Die Bildungsexpansion und das steigende Qualifikationsniveau halten an, Jugend ist mehr denn je eine institutionell erlebte und qualifizierungsorientierte Bildungszeit, die aber den Integrationsmodus nicht ändert, sondern die Wahrnehmung lediglich auf diesen Aspekt überbetont. Dieser Modus und die drei Kernherausforderungen sind immens beeinflusst von der sozialen Lebenslage, die Ermöglichung von Jugend stellt sich also nicht allen Jugendlichen gleich dar und offenbart bestehende Ungleichheitsrelationen (vgl. ebd., 135f ). 4. Ausdrucksformen und Handlungsräume sind jugendkulturell vielfältig und dynamisch: Familiale Beziehungen sind für Jugendliche exklusiv und wichtig (familiäre Bedingungen prägen auch die Ermöglichungsräume), Gleichaltrigenkontakte sind aber weiterhin der zentrale soziale Rahmen, sie werden querschnittartig in allen relevanten Lebenswelten erfahren (Schule, Freizeit, Medien, Jugendhaus, Verein usw.) und sind das wichtigste Trägermedium sozialer Erfahrung. Jugendkulturen und Jugendszenen sind besondere Ausdrucksformen Jugendlicher, sie zeigen sich vielfältig, z. B. ausgedrückt in Themen, Interessen, Moden, Sprache, Ästhetik, aber auch Religion, in Engagement, genauso wie in extremistischen Verhaltensformen (vgl. ebd., 197f ). 5. Digitale Lebenswelten bedeuten eine permanente Grenzarbeit der Jugendlichen: Jugendliche leisten im Internet digitale Grenzarbeit zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, sie erfahren dabei nicht selten einen Mitmach- und Mithaltedruck. Mediales Handeln ist hoch different und sozial ungleich unter den Jugendlichen ausgeprägt, Ungleichheit wird auch digital reproduziert. Digitale Qualifizierungen und Umgang mit Datenschutz sowie Gefährdungspotenzialen müssen selbst hergestellt werden, die jugendliche Eigenverantwortung ist digital zugespitzt, gesellschaftlich aber nicht beachtet. Medien sind Teil des Jugendlebens und des Erlebens von Institutionen sowie Jugendräumen, die Aufgabe pädagogischer Institutionen ist es daher, Jugend auch digital zu ermöglichen (vgl. ebd., 273f ). 6. Einer Ganztagsschule des Jugendalters mangelt es an Profil: Es fehlt an einem klaren Konzept, an Zielen einer jugendbezogenen Ganztagsschule und Vorstellungen über ihre Vernetzung. Je älter, desto geringer fällt die Teilnahme aus, und zudem ist der Ganztag in der Sekundarstufe zeitlich überschaubar. Schulleistungen werden nicht unmittelbar besser durch den Besuch der Ganztagsschule, ebenso ist der Effekt auf Chanceneröffnung unklar. Soziales Lernen und die Fortsetzung von Schulkarrieren werden durch Ganztagsschulen jedoch eher unterstützt. Die Auswirkungen auf Familie, Umfeld/ Freizeit, peers sind noch nicht eindeutig darstellbar. Jugendliche bewerten Ganztagsschule sehr ambivalent: zwischen sozialem Ort, Erleben von Leistungsdruck und Frust, klarer Funktion für die Berufsbiografie und als „Vermeidungsort“. Die Einschätzungen Jugendlicher sind bisher noch kein kontinuierliches Forschungsthema, als Qualitätsmerkmale deuten sich aber an: Je partizipativer, vielfältiger und interessenorientierter, desto attraktiver stellen sich Ganztagsschulen für Jugendliche dar. Dennoch: Freiwilligkeit und Pflicht sind ein „Grundwiderspruch“. Und die hohen Erwartungen an eine multiprofessionelle Ganztagsschule sind nur im Ansatz erfüllt. Der Einbezug von Partnern in Ganztagsangebote wird 405 uj 10 | 2019 Anlässe für Kooperation zwar allmählich zur Regel, ohne jedoch die Bedingungen dafür automatisch zu sichern (und zu verbessern): Ressourcensicherheit, Kontinuität, Kooperationszeit, Konzeptentwicklung und verlässliche Strukturen sind unverändert Dauerthemen der Ganztagsschulentwicklung in Kooperation mit außerschulischen Partnern. Schulentwicklung als Voraussetzung für eine neue, jugendorientierte Ganztagsschule sollte aber von vornherein ein multiprofessionelles Anliegen sein, das weitere Partner in die Konzipierung einbezieht. Es gilt: Ohne dezidiertes jugendorientiertes Konzept der Ganztagsschule keine neue Qualität der Schule für und mit Jugendlichen (vgl. ebd., 329f und Maykus 2017). 7. Zutrauen in Jugendliche durch konsequente Partizipation in demokratischen Strukturen ausdrücken: Um Beteiligung wird gegenwärtig gerungen, denn sie ist gefordert, um die Stimmen der Jugendlichen stärker in die gesellschaftliche und institutionelle Gestaltung einzubeziehen, das Ringen ist aber auch Ausdruck schwieriger Erfahrungen dabei. Oft wird beklagt, dass Jugendliche nicht erreicht werden oder Partizipationsprozesse nur einen geringen Grad an aktiver Mitwirkung und Einflussnahme haben (vgl. ebd., 113f ). Das entsteht vor allem dann, wenn Partizipation vor allem auf das Ziel eines besseren Verhältnisses von z. B. Schule oder Jugendhilfeangeboten zu den Jugendlichen verkürzt wird und eine Orientierung an den Nutzern ausdrückt, nicht aber Inbegriff einer politischen Demokratiebildung ist. Die kommt erst zustande, wenn die lebensweltlich relevanten Themen Jugendlicher Eingang finden in Institutionen und die kommunale Öffentlichkeit, dort aufgegriffen, beraten werden in demokratischen Strukturen der Teilnahme und zu einer aktiven Vermittlung von Interessen in der Öffentlichkeit führen - in der Schulöffentlichkeit, im Jugendhaus oder im Stadtteil in Gremien, Aktionen, Vereinen (vgl. Maykus 2018 b). Transferthemen und Anlässe für Kooperation Mit der Leitformel „Jugend ermöglichen“ betont der 15. Kinder- und Jugendbericht entlang der geschilderten Kernbefunde nicht nur eine Zielvorgabe, sondern auch den Anspruch einer ausgewogenen Sicht auf die Lebenslage Jugend. Schule und Jugendhilfe können ihren Teil zur Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung der Jugendlichen beitragen, indem sie darauf abgestimmte Lern- und Erfahrungsräume bieten. So wie die subjektive Balance der drei Kernherausforderungen eine gelingende Persönlichkeitsbildung Jugendlicher unterstützt, sollten auch die Angebote für sie diesem Gleichklang konzeptionell folgen. Der Bericht erörtert ausführlich Bilder und Bedingungen der Ermöglichung von Jugend und bietet damit ein erstes Transferziel, um sich Realität und Anspruch dessen auch in Kooperationskontexten zu vergegenwärtigen (Transferthema: Zuschreibungen und Jugendbilder): Welches Bild von Jugend und Jugendlichen haben wir an unserer Schule? Denken wir an verallgemeinerbare Merkmale oder an bestimmte Zielgruppen und Problemstellungen? Welche Bewertungen gehen damit einher und wie prägen sie unser pädagogisches Handeln bzw. die Konzipierung von Angeboten? Die Vergewisserung über Jugendbilder (vgl. Hagedorn 2014) sensibilisiert für die nicht veränderbare Tatsache, dass Schulen ein ambivalenter Jugendraum zwischen Pflicht und Freiräumen sind, was zu einer konflikthaften Passung jugendlicher Bedürfnisse und schulischer Anforderungen führen kann. Auch Ganztagsschulen verändern diesen Charakter zunächst nicht, so dass es umso wichtiger ist, dieser Ambivalenz offen zu begegnen: Schulen können für Jugendliche auch Orte der Mitgestaltung und Teilhabeerfahrung sein, was die Akzeptanz ganztägiger Schulformen erhöhen kann. Damit wäre zumindest die Ambivalenz auch im pädagogischen Zugehen auf Jugendliche authentisch vermittelt, indem Schulen gesellschaftliche Orte im Kleinen abbilden, innerhalb gegebener Struktu- 406 uj 10 | 2019 Anlässe für Kooperation ren (und manchmal Zwängen) Partizipation bieten, sie so weit wie möglich demokratisch strukturieren und auch lebensweltlich anreichern wollen. Den Transferthemen Partizipation, Subjektbezug und Passungsproblem wäre auf diese Weise schon deutlicher entsprochen als bisher üblich (vgl. ein beispielhaftes Konzept der Jugendarbeit bei Sturzenhecker 2015). Der 15. Kinder- und Jugendbericht verbindet dies mit einer Neubetonung der politischen Demokratiebildung. Hierfür gilt es, auch im Zusammenspiel von Schule und Jugendhilfe eine Pädagogik derTeilnahme, eine lebensweltorientierte Pädagogik der Partizipation zu etablieren, die Gestaltungsmacht an junge Menschen abgibt. Demokratische Milieus, Gelegenheiten und Prozesse werden dann gefördert und sind Voraussetzung für die Stärkung einer politischen Kultur in Schule, Jugendhilfe und Kommune. Kommunikation und Partizipation in geregelten Verfahren, zu denen alle gleichrangig Zugänge haben, das ist dann das Ziel pädagogischer Arbeit, deren Anliegen sich vor allem auf den Abbau von Barrieren dafür und auf die Eröffnung von Orten der Artikulation von Interessen konzentriert (vgl. Maykus 2018 b). Diese ersten Transferthemen des 15. Kinder- und Jugendberichtes auf die Kooperation von Schule und Jugendhilfe drücken einen (sozial-) pädagogischen Anspruch aus, dem Ganztagsschulen durch ihre erweiterten zeitlichen, interprofessionellen und räumlichen Spielräume potenziell gut gerecht werden könnten (vgl. Coelen/ Stecher 2014). Genau diese Spielräume entstehen jedoch nicht automatisch, sie bedürfen einer dezidierten Ganztagsschulentwicklung, die ein jugendorientiertes Denken und Handeln durchgehend als Konzeptlinie verfolgt, mithin in der Schule und sozialräumlich Angebote in Kooperation mit der Jugendhilfe bietet (Transferthemen: Organisationswandel gestalten und der Konzeptlosigkeit begegnen). Der 15. Kinder- und Jugendbericht resümiert ernüchtert die Erkenntnisse zur Kooperationsqualität von Schule und Jugendhilfe, die sich in ihren Einschränkungen und Schwierigkeiten auch in der Ganztagsschule fortsetzt. Das deutet strukturelle Mängel an, die nicht pädagogisch und im Handeln der Fachkräfte verändert werden können. Realistische Kooperationsmodelle schöpfen hingegen ein Kontinuum zwischen loser und enger Zusammenarbeit aus, die je nach Anlass unterschiedlich intensiv erfolgt. Eine gute Koordination der Berufsgruppen erweist sich dann als die beste (Basis der) Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe (vgl. Maykus 2011). Jugendorientierte Schulen kommen lebensweltorientierten Ansprüchen als lose Netzwerke und Verbindungen von Räumen näher, die Jugendlichen ein Zusammenspiel relevanter Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten bieten (Transferthemen: Kooperationsgrad und Strukturmängel plausibel einordnen). Letztlich beschreibt der Bericht eine Fülle an direkten Anlässen für die Kooperation von Schule und Jugendhilfe, wie etwa Inklusion und Diversität im Jugendalter, soziale Integration in einer internationaler werdenden Gesellschaft, berufliche Integration und soziale Absicherung von Beschäftigungsperspektiven Jugendlicher, die Virtualität von Jugendräumen in ihren Auswirkungen auf Persönlichkeitsbildung und gesellschaftliche Teilhabe oder auch Gesundheitsförderung. Diese Fülle ist so plausibel wie schwierig, da sie als Aufgabenkatalog unweigerlich mit einer Profilschwäche der Kooperationskontexte einhergeht. Der Bericht legt die Konzentration auf eine lebensweltorientierte Pädagogik der Partizipation zumindest im Jugendalter nahe, so dass z. B. auch die Schulsozialarbeit ihr Bild von der Jugend und Jugendlichen, die Balance von Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung sowie ihren Beitrag zu einer jugendorientierten Ganztagsschulentwicklung prüfen sollte (vgl. zur Entwicklung Stüwe/ Ermel/ Haupt 2015). Denn ihre Expansion hat in den letzten Jahren vornehmlich damit zu tun, dass die sozialintegrativen Funktionen der Sozialarbeit an Schulen deutlich gefragter sind, als eine sozialpädagogisch inspirierte Schulentwicklung, die Elemente der Partizipation und 407 uj 10 | 2019 Anlässe für Kooperation sozialen Persönlichkeitsentwicklung mit einem breiten Bildungsverständnis einbringt (Transferthemen: Profilschwäche eindämmen und emanzipatorische Schulsozialarbeit betonen). Die jugendorientierte Ganztagsschule - das kann man festhalten - hebt der 15. Kinder- und Jugendbericht besonders als Rahmen für die Kooperation von Schule und Jugendhilfe hervor und wendet die Merkmale einer Ermöglichung von Jugend auf dieses pädagogische Feld an, lotet fachliche Maßstäbe dafür aus und plädiert im Ergebnis für eine neue Jugendorientierung. Das betrifft auch die kommunale Steuerung und Planung der Kooperation und ginge mit dem Vorsatz einher, mit Bildungsplanung die Verwaltung und Planung vor Ort zu sensibilisieren für Bildungsthemen junger Menschen und für die Praxisbedingungen der Fachkräfte in Schule und Jugendhilfe. Ein Ziel davor wäre es dann, junge Bildungs- und Beteiligungsräume mit einer dauerhaften Struktur zu sichern und abgestimmte Planungsprozesse zwischen dem Schul- und Jugendhilfesystem als Mittel zum Zweck dessen zu sehen. Die Gestaltung von Bildungsangeboten als Teil einer kommunalen Entwicklungsstruktur und -kultur rückt dann deutlich stärker in den Mittelpunkt, als es die gegenwärtig verbreiteten Leitgedanken eines kommunalen Bildungsmanagements allein ermöglichen würden (vgl. Lindner u. a. 2015). Leitfragen für die Praxis der Kooperation: Der 15. Kinder- und Jugendbericht als reflexiver Impuls Eine jugendorientierte Ganztagsschule berührt die Kooperation von Schule und Jugendhilfe auf unterschiedlichen Ebenen, löst verschiedene Anlässe des Zusammenwirkens aus und bietet einen konzeptionellen Rahmen, der beide Seiten entlang pädagogischer Ziele in ein konstruktives Zusammenspiel bringen kann. Dafür sind die in diesem Beitrag genannten Kernbefunde des 15. Kinder- und Jugendberichtes eine systematische Anregung, die nicht nur von Lehr- und Fachkräften in Schulkooperationen beachtet werden, sondern auch im Rahmen der kommunalen Steuerung und Planung von Bildungsangeboten Berücksichtigung finden können. Da die Leserinnen und Leser dieses Beitrages sicher in sehr unterschiedlichen Feldern der Kooperation von Schule und Jugendhilfe tätig, bereits erfahren sind, sich am Beginn der gemeinsamen Arbeit befinden oder auch in außerschulischen, jugendbezogenen Angeboten Bildung junger Menschen fördern, möchte ich zum Abschluss - anstatt eines Fazits - den übergreifenden Transfer des 15. Kinder- und Jugendberichtes auf Kooperation anregen: Denn obwohl ein solches Dokument mit seinem fachpolitischen Charakter zunächst oft eine ungewohnte Lektüre ist, so kann es doch als Leitfaden für eine jugendorientierte Praxis gelesen werden. Daher sind in der Tabelle 1 zehn Fragen aus dem Bericht abgeleitet und die Anforderungen für Kooperationen jeweils pointiert. Jugend ermöglichen bedeutet als Formel vor allem ein reflexiver Prozess der pädagogischen Lehr- und Fachkräfte, die sich der ermöglichenden und erschwerenden Bedingungen, Ziele sowie Formen eines jugendorientierten Handelns immer wieder bewusst werden. Die darauffolgende Abbildung 1 kann in einer Teamsitzung eine Diskussion der Jugendbilder fördern und z. B. in Form einer Wandzeitung die weitere Entwicklung jugendorientierter Konzepte begleiten. Mit diesen beiden Anregungen können sich schul- und sozialpädagogische Fachkräfte (gemeinsam) mit den umfassenden Themen von Jugend der Zukunft auseinandersetzen, wie sie ein Jugendbericht der Bundesregierung erwartungsgemäß in komplexerer Größenordnung entwirft. Impulse für die Weiterentwicklung der Kooperation von Schule und Jugendhilfe werden dabei deutlich: Eine differenzierte Sicht auf die Lebenslage Jugend und die Reflexion von Auswirkungen sozialer Benachteiligung gehören zum Beispiel genauso dazu wie die Klärung des Profils einer Ganztagsschule des Jugendalters. Der 15. Kinder- und Jugendbericht hat 408 uj 10 | 2019 Anlässe für Kooperation Themenkomplex im 15. Kinder- und Jugendbericht (Kapitel) Anforderung für die Kooperation von Schule und Jugendhilfe Reflexiver Impuls für (sozial-)pädagogische Akteure ➤ Kapitel 5, insbesondere die Seiten 330 - 338 ➤ Kapitel 2.2 Schule ist ein ambivalenter Jugendraum (Passungsproblem) Inwiefern können (von mir und uns) die Spannungsfelder zwischen schulischer Funktion und dem Eigensinn der Jugendphase reduziert werden? ➤ Kapitel 5 Ganztagsschule bietet erweiterte Modalitäten der Schulpraxis (Organisationswandel) Wie können die Merkmale der ganztägigen Schulorganisation für eine jugendorientierte Praxis wirksam werden? ➤ Kapitel 5, insbesondere die Seiten 349 - 354 ➤ Kapitel 4.4.2 Das schulische Erleben von Jugendlichen spiegelt ihre lebensweltlichen Bedürfnisse wider (Subjektbezug) Wie können Ganztagsangebote eine Bedürfnisorientierung unterstützen und Jugendlichen dafür Raum bieten? ➤ Kapitel 5, insbesondere die Seiten 350 - 352 ➤ Kapitel 1.3.4.2 und 3.6 Beteiligung Jugendlicher ist ein zentrales Qualitätsmerkmal von Ganztagsschule (Partizipation) Wie können Themen, Interessen und Aktivitäten Jugendlicher Eingang in die Schule erhalten? ➤ Kapitel 1.1 - 1.3 und 2 Das Bild von Jugend steuert deutlich pädagogische Konzepte und Erwartungen (Zuschreibungen) Was ist unser Bild von Jugend? Denken wir entlang von Zielgruppen oder auch an eine Lebenslage mit ihren Merkmalen für alle jungen Menschen? ➤ Kapitel 5 und 8.2.1 Ganztagsschule des Jugendalters ist eine bildungspolitische Leerstelle (Konzeptlosigkeit) Wie haben wir Ganztagsschulen auf die Lebenslage Jugendlicher (bislang) begründet? Warum? ➤ Kapitel 5, insbesondere die Seiten 355 - 361 Jugendhilfe ist oft Partner, aber bisher nicht erkennbarer Motor der Ganztagsschulentwicklung (Kooperationsgrad) Welche Rolle hat die Jugendhilfe in der Schulentwicklung (wirklich)? Soll sie anders eingebunden werden? Was wären Voraussetzungen dafür? ➤ Kapitel 5, insbesondere die Seiten 355 - 361 ➤ Kapitel 6.6.2 und 6.6.3 Die bekannten Probleme der Kooperation setzen sich in der Ganztagsschule fort (Strukturmängel) Was kann dazu beitragen, die Kooperation zu intensivieren? Was davon haben wir selbst in der Hand? Was sind Grenzen der Innovation? ➤ Kapitel 5, insbesondere die Seiten 355 - 361 Die vielfältigen Möglichkeiten der Mitwirkung von Jugendhilfe und der Einbeziehung sozialpädagogischer Angebote erschwert ihre Klarheit der Rolle (Profilschwäche) Was ist der Markenkern sozialpädagogischer Angebote an Schulen? Was kennzeichnet ihre Professionalität und unterscheidet sie von anderen Berufsgruppen? ➤ Kapitel 7.4.4 Jugendsozialarbeit an Schulen sollte nicht nur der (aus-)bildungsbezogenen Sozialintegration dienen, sondern auch den Lebenslagenbezug Jugendlicher in seiner Vielfalt und ermächtigend hervorheben (Emanzipatorische Schulsozialarbeit) Wie kann einem reduzierten Auftrag der Sozialintegration Jugendlicher widerstanden werden, der lediglich normative Bilder von Jugend reproduziert? Wie kann Jugendsozialarbeit an Schulen einen erweiterten Blick auf jugendliche Lebenslagen bewahren? Tab 1: Leifragen zur Jugendorientierung in der Kooperation von Schule und Jugendhilfe (Quelle: Eigene Darstellung) 409 uj 10 | 2019 Anlässe für Kooperation erstmals ausschließlich die Lebenslage Jugend analysiert. Er hat hoffentlich eine Kooperationspraxis und fachpolitische Steuerung zwischen Schule und Jugendhilfe zur Folge, die letztmalig die Frage nach einer jugendorientierten Begründung ihrer Konzepte (nicht nur in der Ganztagsschule) unbeantwortet lässt. Stephan Maykus Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Caprivistr. 30 a 49076 Osnabrück E-Mail: s.maykus@hs-osnabrueck.de Qualifizierung Was verstehen wir unter Können und Kompetenzen? Welche Rolle spielen Verwertung und Berufsintegration? Verselbstständigung Was verstehen wir unter Freiräumen und Vielfalt? Wie ermöglichen wir Teilhabe und Partizipation? Lebenslagen und lebensweltliche Themen bzw. Aktivitäten Jugendlicher in unserem Schulumfeld/ in unserer Kommune Selbstpositionierung Welches Bild von Jugend haben wir? Was trauen wir zu und gewähren an Selbstbestimmtheit? Unsere Arbeit, Einrichtung oder Angebote Abb. 1: „Jugendbild-Check“ im Team: Balance oder Schieflage alltäglicher Praxis der Jugendorientierung? (Quelle: Eigene Darstellung) Literatur BMFSFJ (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht. Berlin Coelen, T., Stecher, L. (Hrsg.) (2014): Die Ganztagsschule: eine Einführung. Weinheim und Basel Hagedorn, J. (Hrsg.) (2014): Jugend, Schule und Identität. Selbstwerdung und Identitätskonstruktion im Kontext Schule. Wiesbaden, DOI: https: / / doi.org/ 10. 1007/ 978-3-658-03670-6_1 Lindner, M., Niedlich, S., Klausing, J., Brüsemeister, T. (2015): Regelungsbereiche des kommunalen Bildungsmanagements im Programm „Lernen vor Ort“. In: Coelen, T., Heinrich, A. J., Million, A. (Hrsg.): Stadtbaustein Bildung. Wiesbaden, S. 283 - 293, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-658-07314-5_25 Maykus, S. (2011): Kooperation als Kontinuum. Erweiterte Perspektiven auf eine schulbezogene Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.10 07/ 978-3-531-94177-6_3 Maykus, S. (2017): Ganztagsschule des Jugendalters - eine jugendpädagogische Perspektive. Positionen des 15. Kinder- und Jugendberichtes als Angebot zum Weiterdenken. In: deutsche jugend 2017 (H. 7/ 8), 316 - 323 Maykus, S. (2018 a): In der Großstadt Jugend ermöglichen - Stadtteile als junge Bildungs- und Beteiligungsräume. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins 2018 (H. 3), 112 - 118 Maykus, S. (2018 b): Praxis kommunaler Sozialpädagogik. Das Gemeinwesen der Stadt als Handlungszusammenhang. Leitstandards und Arbeitshilfen. Weinheim und Basel Olk, T., Schmachtel, S. (Hrsg.) (2017): Educational Governance in kommunalen Bildungslandschaften. Weinheim und Basel Speck, K., Stimpel, T., Olk, T. (Hrsg) (2011): Ganztagsschulische Kooperation und Professionsentwicklung. 410 uj 10 | 2019 Anlässe für Kooperation Studien zu multiprofessionellen Teams und sozialräumlicher Vernetzung. Weinheim und München Stüwe, G., Ermel, N., Haupt, S. (2015): Lehrbuch Schulsozialarbeit. Weinheim und München Sturzenhecker, B. (2015): Gesellschaftliches Engagement von Benachteiligten fördern - Band 1: Konzeptionelle Grundlagen für die Offene Kinder- und Jugendarbeit. Gütersloh