unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art71d
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2019
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Sozialraumorientierte Gewaltprävention
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Sabine Behn
Miriam Schroer-Hippel
Ein dicht besiedelter Kiez in Nord-Neukölln. Auf den wenigen freien Flächen prallen Welten zusammen: neu hinzugezogene Mittelschichtsfamilien, Drogenkonsumierende, alteingesessene Familien mit Migrationshintergrund, viele Kinder und Jugendliche. Es entstehen Probleme mit Jugendgruppen auf dem Platz, z.B. Bedrohungen, mit Gewalt verbundene Überfälle, homophobe Beleidigungen.
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436 unsere jugend, 71. Jg., S. 436 - 443 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art71d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Sabine Behn Jg. 1960; M. A., Geschäftsführerin von Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH, Berlin Sozialraumorientierte Gewaltprävention Evaluation des Projekts „Auf die Plätze! “ im Berliner Bezirk Neukölln Ein dicht besiedelter Kiez in Nord-Neukölln. Auf den wenigen freien Flächen prallen Welten zusammen: neu hinzugezogene Mittelschichtsfamilien, Drogenkonsumierende, alteingesessene Familien mit Migrationshintergrund, viele Kinder und Jugendliche. Es entstehen Probleme mit Jugendgruppen auf dem Platz, z. B. Bedrohungen, mit Gewalt verbundene Überfälle, homophobe Beleidigungen. Jugendgewalt in einem verdichteten urbanen Raum: Ausgangslage und Projektentstehung Das Projekt „Auf die Plätze! “ wird seit 2017 im Berliner Bezirk Neukölln im Rahmen des Programms zur Förderung kiezorientierter Gewaltprävention der Landeskommission Berlin gegen Gewalt umgesetzt. Es richtet sich auf das zentrale Ziel aus, Jugendgewalt auf zwei (Spiel-)Plätzen im Norden Neuköllns zu verringern sowie Eltern und Kinder darin zu bestärken, die Plätze stärker für sich in Anspruch zu nehmen. Das Gebiet, in dem das Projekt umgesetzt wird, ist geprägt durch eine hohe Verdichtung. Es gehört zu den ärmsten Regionen der Stadt, im Monitoring Soziale Stadtentwicklung ist es als Gebiet mit hohem Entwicklungsbedarf, aber stabiler Dynamik gekennzeichnet (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2017). PraktikerInnen vor Ort berichten von steigenden Mieten und in der Folge von Prozessen der Verdrängung. Der Sozialraum ist jedoch weiterhin geprägt von einer hohen Armut, einer im Berliner Vergleich hohen Belastung mit allgemeiner Kriminalität, mit Jugendgewalt und weiteren Risikofaktoren für Jugendgewalt, wie z. B. Schuldistanz und häusliche Gewalt. Die Zahl der vom Jugendamt festgestellten Kindeswohlgefährdungen ist im Berliner Vergleich hoch (Lüter et al. 2017, 235, 150f ). Es handelt sich um ein von der Altersstruktur her relativ Dr. Miriam Schroer-Hippel Jg. 1974; Sozialwissenschaftlerin und Psychologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH, Berlin 437 uj 10 | 2019 Sozialraumorientierte Gewaltprävention junges Gebiet mit einem hohen Anteil junger Menschen mit Migrationshintergrund (Lüter et al. 2017, 252). In dem Quartier gibt es wenig Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen oder andere Angebote für Jugendliche; es besteht jedoch ein Quartiersmanagement, das kleinere Projekte vor Ort fördert bzw. umsetzt und die Bewohnerschaft aktiviert. Darüber hinaus sind in Neukölln langjährige Präventionsnetzwerke vorhanden (Schroer-Hippel/ Karliczek 2014, 93). Aktuelle Problemlagen, auf die das Projekt reagiert, sind Vandalismus, Bedrohungen, homophobe Beleidigungen, Gewalttaten und sexuelle Übergriffe. Grundsätzlich beschreiben erfahrene JugendarbeiterInnen, dass die Jugendlichen, die sich viel im öffentlichen Raum bewegen und zur Zielgruppe der aufsuchenden Jugendsozialarbeit zählen, häufig in ihren Familien selbst viel Gewalt und/ oder Vernachlässigung erfahren haben. Mädchen in diesen Gruppen sind besonders gefährdet, da sie, wenn sie sich auf körperliche Nähe eingelassen haben, oftmals der Gefahr sexueller Übergriffe ausgesetzt sind. Die beiden (Spiel-)Plätze waren zu Projektbeginn sehr stark von Nutzerkonflikten geprägt. Die Spielplätze wurden von den eigentlichen Zielgruppen, also Kindern mit ihren Eltern, nur eingeschränkt genutzt. Neben Vandalismus und öffentlichem Drogenkonsum kam es zudem zu teilweise massiven Beleidigungen und Bedrohungen durch die Jugendgruppen gegenüber AnwohnerInnen, PassantInnen, Eltern, aber auch SozialarbeiterInnen und Gewerbetreibenden. Häufig blieb es nicht bei verbalen Übergriffen, sondern es wurden gewalttätige Angriffe durch Jugendliche ausgeübt, die z. T. auch mit schweren Verletzungen der Opfer verbunden waren. Als Ursachen für diese Entwicklung werden u. a. der Verlust von Plätzen, Freiräumen und unkontrollierten Aufenthaltsorten, das Fehlen eines Treffpunktes, problematische Vorbilder, Langeweile sowie die Angst vor Verdrängung gesehen. Das Projekt „Auf die Plätze“ setzt an diesen Problemlagen an. Zum einen wird aufsuchend gearbeitet, zum anderen werden zielgerichtete Angebote für die Jungen und Mädchen des Quartiers vorgehalten. Ziel ist es, die Situation zu befrieden und Kinder, Jugendliche und Familien dabei zu unterstützen, „ihre“ Plätze zurückzugewinnen. Das Projekt setzt sich weiterhin zum Ziel, den sich dort aufhaltenden Kindern und Jugendlichen - insbesondere denjenigen, die durch Gewaltverhalten auffallen - soziale Kompetenzen und Konfliktlösungsstrategien zu vermitteln und sie in der Auseinandersetzung mit problematischen (Rollen-)Vorbildern zu unterstützen. Weiteres Projektziel ist, die Eigeninitiative und Verantwortungsübernahme von Eltern zu fördern. Das Projekt beinhaltet drei Säulen: 1. „Spielplatz für alle! “ auf dem Käpt’n-Blaubär- Spielplatz umfasst Elternaktivierung, um den Spielplatz wieder für alle nutzbar zu machen, sowie geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen und Mädchen in dem dort gelegenen Kinder- und Jugendtreff. Dabei werden Mütter aus dem Quartier dafür gewonnen, die Einrichtung sonntags für einen selbstverwalteten Frauentag zu öffnen und so das Gelände zu beleben und vor Vandalismus zu schützen. Sie werden zudem dabei unterstützt, soziale Kontrolle auf dem Spielplatz auszuüben, um Sachbeschädigungen und Konflikte unter Kindern und Jugendlichen zu verringern. Träger dieses Teilprojekts ist Outreach - Mobile Jugendarbeit Berlin. 2. „Boddin Power Play“ wird am Boddinplatz umgesetzt und beinhaltet aufsuchende gewaltpräventive Arbeit, Elternarbeit und Platzbespielung, um die Nutzerkonflikte am Platz zu bearbeiten. Im Rahmen der Platzbespielung werden unterschiedliche Spiele für die Kinder und Jugendlichen angeboten, z. B. Ballspiele oder Seilspringen, aber auch Bastelangebote und Workshops zu Akrobatik oder HipHop. Begleitet wird die niedrigschwellige Gewaltprävention durch die Vermittlung sozialer Kompetenzen. Träger dieses Teilprojekts ist MaDonna Mädchenkultur e.V. 438 uj 10 | 2019 Sozialraumorientierte Gewaltprävention 3. „Raus aus Neukölln“: In einer Bildungsstätte außerhalb Berlins werden Themen wie soziale Kompetenzen, alternative Konfliktlösungsstrategien, Cyber-Mobbing etc. bearbeitet. In jedem Jahr finden zwei Mädchen- und zwei Jungenfahrten statt. Ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Teilprojekten besteht darin, dass bei „Spielplatz für alle! “ die nahe dem Platz gelegene Kinder- und Jugendeinrichtung im Mittelpunkt steht: Hier wird mit den Kindern, jüngeren Jugendlichen und Eltern gearbeitet. Im Teilprojekt „Boddin Power Play“ hingegen werden die Aktivierung der Eltern und Platzbespielung mit aufsuchender Jugendsozialarbeit kombiniert. Das Projekt „Auf die Plätze! “ wird vom Sozialraumkoordinator des Jugendamtes Neukölln gesteuert und von einer ressortübergreifenden Auswertungsrunde begleitet. Die Auswertungsrunde dient dem Austausch über das Projekt und die Jugendlichen, mit denen das Projekt arbeitet, und trifft sich ca. halbjährlich. Die Evaluation: Zielsetzung und Vorgehen Mit der Evaluation des Projektes wurde Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich - im Jahr 2018 beauftragt. Im Rahmen der Evaluation wurde ein multimethodisches und -perspektivisches Vorgehen umgesetzt. Im ersten Schritt wurde ein Wirkmodell entwickelt, das auf einer Analyse der vorliegenden Dokumente - Projektanträge und -berichte, Protokolle der Auswertungsrunde und weiteren Unterlagen - sowie auf den Interviews mit den Projektverantwortlichen beruhte. Das Wirkmodell bildet die Problemlagen, die daraus entwickelten Ziele, die vorgesehenen und umgesetzten Aktivitäten sowie bislang feststellbare Wirkungen ab, ergänzt um zentrale Einflussfaktoren. Somit konnten die Wirkannahmen des Projektes expliziert werden (Behn/ Schroer-Hippel 2019). Anschließend wurde überprüft, inwieweit die formulierten Ziele erreicht worden sind und welche Wirkungen darüber hinaus festzustellen sind. Grundlage hierfür waren problemzentrierte Interviews mit den unterschiedlichen beteiligten Akteuren sowie Gruppendiskussionen, die mit den Zielgruppen des Projektes, also mit den Mädchen, Jungen und Eltern, geführt wurden. Darüber hinaus wurden Ortsbegehungen an beiden Plätzen sowie (nicht-)teilnehmende Beobachtungen ausgewählter Projektaktivitäten, z. B. bei Aktivitäten vor Ort und der überinstitutionellen Auswertungsrunde, vorgenommen. Die Interviews und Beobachtungsprotokolle wurden inhaltsanalytisch ausgewertet. Flankierend wurden die polizeilich erfassten Straftaten der Jugendgewaltdelinquenz sowie die Zahlen zu den Risikofaktoren für Jugendgewalt der Bezirksregion herangezogen. Friedliche Plätze - doch wo bleiben die Jugendlichen? „Spielplatz für alle! “ Wichtige Zielsetzungen werden im Rahmen des Teilprojektes „Spielplatz für alle! “ erreicht. Die Aktivierung von Müttern gelingt ausgesprochen gut. Väter wurden im Rahmen des Teilprojektes jedoch nicht explizit einbezogen. Eine Grundlage hierfür sind die langjährigen Kontakte der SozialarbeiterInnen des Kinder- und Jugendtreffs zu Familien im Sozialraum. Es bildete sich eine offene Müttergruppe, die einen regelmäßigen selbstverwalteten Frauentag auf dem Gelände des Kinder- und Jugendtreffs umsetzt. Die Frauen üben auf dem angrenzenden Spielplatz soziale Kontrolle aus. Sie vermitteln bei Streitigkeiten unter Kindern und jüngeren Jugendlichen, sie sprechen Cannabis-Konsumierende an, sich andere Orte zu suchen, sie sorgen bei starken Verschmutzungen für Sauberkeit. Es kommt auf dem Spielplatz aber gelegentlich durchaus zu Konflikten unter Erwachsenen, die von den Müttern allein nicht befriedet werden können. Durch den Kontakt zur Präventionsbe- 439 uj 10 | 2019 Sozialraumorientierte Gewaltprävention auftragten der Polizei Berlin wurde zudem das Vertrauen der Mütter in die Polizei gestärkt. Bei Spritzenfunden oder anderen Vorfällen riefen sie die Polizei, ein Mittel, das sie bis dato nicht genutzt hatten. Im Rahmen der Mädchenarbeit werden insbesondere ältere Mädchen erreicht und weiter gestärkt, von denen einige bereits als Peer-Helferinnen über ausgeprägte Konflikt- und Interventionskompetenzen verfügen. Die Arbeit mit den überwiegend jüngeren Jungen bildet einen guten Rahmen, um einen kooperativen Umgang einzuüben. Beide - Jungen und Mädchen - schätzen die Arbeit in geschlechtsspezifischen Gruppen. Die Aktivierung der Mütter führt aus Sicht der befragten Erwachsenen und Jugendlichen zu einer Befriedung des Spielplatzes. Es gibt in den Sommermonaten weniger Gewaltvorfälle und Streitigkeiten unter Kindern und Jugendlichen. Die Jugendgruppe, die für Unruhe gesorgt hatte, zog sich vom Spielplatz zurück. Die an den Projektaktivitäten beteiligten Kinder und Jugendlichen sind in ihren sozialen Kompetenzen gestärkt. Die Problematik der Jugendlichen und Heranwachsenden, die zur gewaltauffälligen Gruppe gehörten, konnte durch das Projekt bislang jedoch nicht gelöst werden. Ein Teil von ihnen bleibt auffällig. Einen wichtigen Ansatzpunkt zur weiteren Begleitung bildet die Auswertungsrunde unter Leitung des Jugendamtes. Die kriminalpräventiven Akteure vor Ort tauschen sich über den Verbleib der Jugendgruppe aus und stimmen ihre Aktivitäten, sofern möglich, aufeinander ab. Während das Projekt auf dem Platz gute Wirkungen zeigt, bleibt die Frage der Weiterarbeit mit den auffälligen Jugendlichen auch jenseits des Platzes ein wichtiger Aspekt. Boddin Power Play Das Teilprojekt „Boddin Power Play“ kann seine zentralen Zielsetzungen erreichen: Durch die Aktivierung der in der Nähe des Boddinplatzes lebenden Mütter und Väter, die Platzbespielungen und die regelmäßige Präsenz der ProjektmitarbeiterInnen wird der Spielplatz wieder verstärkt von Eltern, Kindern, Mädchen und jungen Frauen genutzt, beispielsweise auch am frühen Abend, also zu Zeiten, in denen früher ein Unsicherheitsgefühl vorherrschte. Insgesamt betrachtet, lassen sich weniger Konflikte zwischen den Nutzergruppen feststellen, soziale Kontrolle und Sicherheitsgefühl haben zugenommen. Der Drogenkonsum und -verkauf auf dem neben dem Spielplatz gelegenen Areal bleibt allerdings unverändert. Bei den Jugendlichen, die durch das Projekt erreicht wurden, lassen sich bemerkenswerte positive Entwicklungen feststellen: Sie werden als ansprechbarer wahrgenommen, einige haben schulische und/ oder berufliche Perspektiven entwickelt, sie haben an unterschiedlichen Projektaktivitäten teilgenommen, unter anderem auch an einer Mediation mit einem Gewerbetreibenden vor Ort, die von allen Beteiligten als erfolgreich wahrgenommen wurde. Allerdings ist die Befriedung des Platzes auch in nicht geringem Maße darauf zurückzuführen, dass die Jugendlichen durch unterschiedliche Maßnahmen, insbesondere der Polizei, von dem Platz verdrängt wurden und teilweise auch Platzverweise erhalten haben. Hier lässt sich ein projektinterner Zielkonflikt ausmachen: Das Projekt stand und steht vor der Herausforderung, sowohl Präsenz im öffentlichen Raum, also auf dem Platz, zu zeigen als auch mit den Jugendlichen aufsuchend zu arbeiten, d. h. die Orte aufzusuchen, an denen sie sich nach ihrer Verdrängung vom Platz aufhalten, und sozialpädagogisch mit ihnen zu arbeiten. Ein Spagat, der bei der knappen personellen Ausstattung nicht immer gelingt. Weiter konnten im Teilprojekt „Boddin Power Play“ tragfähige Kooperationsstrukturen zwischen Projekt, Jugendamt, Polizei und Quartiersmanagement entwickelt werden, wenngleich Verbesserungsbedarf bei der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Projekt auf der operativen Ebene konstatiert wird, um die o. g. Verdrängungsprozesse zu vermeiden. 440 uj 10 | 2019 Sozialraumorientierte Gewaltprävention Darstellung und Bewertung der zentralen Ansätze der Projektarbeit Im Folgenden werden die zentralen Ansätze der im Rahmen von „Auf die Plätze! “ geleisteten Projektarbeit zusammenfassend dargestellt und bewertet. Aufsuchende Arbeit mit sozial benachteiligten gewaltauffälligen Jugendlichen Soziale Arbeit mit überwiegend migrantischen, häufig bildungsbenachteiligten Jugendlichen, deren Leben von widersprüchlichen Anforderungen - durch Familie, Schule, Gesellschaft etc. - geprägt ist, stellt eine besondere Herausforderung dar. SozialarbeiterInnen, die diese Jugendlichen erreichen wollen, befinden sich auf einer permanenten Gratwanderung zwischen lebensweltlicher Nähe zu den Jugendlichen und Vorbildfunktion. Lebensweltliche Nähe kann beispielsweise bedeuten, dass sie auch einen Migrationshintergrund haben, eine ähnliche Sozialisation durchlaufen haben, vielleicht aus demselben Quartier stammen. Sie wissen aus eigener Erfahrung, was Diskriminierungserfahrungen sind, aber zeigen durch ihr Verhalten, dass es verschiedene - auch konstruktive - Möglichkeiten gibt, damit umzugehen - nicht nur als Opfer, das alle Schuld an persönlichen Schwierigkeiten und Problemen auf „die Gesellschaft“ schiebt, oder als „Rächer“, der sich mit Gewalt durchzusetzen versucht. Gleichzeitig kennen sie die vielfältigen Schwierigkeiten, mit denen diese Jugendlichen zu kämpfen haben, ganz praktisch, nicht nur theoretisch: Sie haben gleiche oder ähnliche Erfahrungen gemacht - mit einer restriktiven, konservativen Familie, mit LehrerInnen, die Jugendlichen mit Migrationshintergrund nichts zutrauen, mit rassistischen Vorurteilen. Als SozialarbeiterInnen können sie Vorbilder sein und stehen dafür, dass es möglich ist, in dieser Gesellschaft anzukommen und einen anerkannten Beruf auszuüben. Eine Interviewpartnerin führt dazu aus: „Sie [die SozialarbeiterInnen aus dem gleichen Umfeld] haben den Biss, was aus ihrem Leben zu machen. Und sie sind Vorbilder, sie bauen sich was auf, sei es mehr Freiheit gegenüber der Familie, wenn es um Mädchen geht, sei es das Vorankommen, Abitur machen.“ Elternarbeit Im Projekt „Auf die Plätze! “ spielt die Aktivierung der Eltern eine wichtige Rolle. Es ist gelungen, Eltern, insbesondere Mütter, aus der unmittelbaren Umgebung zu Akteuren auf den Spielplätzen zu machen. Dies führt in beiden Projekten dazu, dass die Spielplätze wieder stärker von Familien mit Kindern genutzt werden. Die auffälligen Jugendgruppen haben sich zurückgezogen, Pöbeleien und Gewaltvorfälle haben dort abgenommen. Zum einen bauten die SozialarbeiterInnen des Projekts Kontakt zu den Eltern auf den Spielplätzen auf, um Väter und Mütter aus verschiedenen sozialen Schichten und Herkunftsgemeinschaften zu stärken, sich gemeinsam für den Platz verantwortlich zu fühlen, also z. B. Verantwortung für die angebotenen Spielgeräte zu übernehmen, für Sauberkeit zu sorgen, aber ebenfalls Konflikte unter den Kindern auf eine unaufgeregte Weise zu regulieren. Somit entstand ein Netzwerk von Eltern, die im Bereich des Spielplatzes für ein konstruktives Miteinander sorgen. Zum anderen bildete die gewachsene Struktur der Elternschaft rund um die Kinder- und Jugendeinrichtung die Grundlage für die Aktivierung. Hier stehen also die alteingesessenen Mütter aus dem unmittelbaren Umfeld im Mittelpunkt der Elternaktivierung und -begleitung und werden dabei unterstützt, auf dem Spielplatz eine soziale Kontrolle auszuüben. 441 uj 10 | 2019 Sozialraumorientierte Gewaltprävention Die Evaluation des Projektes zeigt, dass die Aktivierung von Eltern bzw. Müttern auf unterschiedlichen Wegen möglich ist, nämlich sowohl durch aufsuchende Arbeit auf dem Platz als auch aus der langjährigen Arbeit eines Kinder- und Jugendtreffs heraus. Weiterhin wird deutlich, dass die Aktivierung von Eltern bzw. Müttern ein geeignetes Instrument darstellt, um Spielplätze wieder stärker für Eltern und Kinder nutzbar zu machen. Die Aktivierung von Eltern zur Befriedung von Plätzen stößt aber auch an Grenzen: ➤ Die Eltern bzw. Mütter können einen Teil der Nutzerkonflikte auf dem Platz positiv beeinflussen, stoßen aber an Grenzen, sobald dies über die Kinder und Jugendlichen hinausgeht. ➤ Die von Eltern bzw. Müttern ausgeübte soziale Kontrolle transportiert auch Normen über den Umgang mit Konflikten oder über Erwartungen an Jungen und Mädchen im öffentlichen Raum. Hier gilt es, die geschlechterbezogenen Projektziele im Blick zu behalten, etwa das Ziel, Mädchen darin zu stärken, ihre Anliegen angemessen vertreten und umsetzen zu können. ➤ Die Stärkung eines konstruktiven Miteinanders zwischen Alteingesessenen und Neuhinzugezogenen auf dem Spielplatz kann nicht über den Konflikt hinwegtäuschen, dass Verdrängungsprozesse stattfinden, die zu Lasten der ärmeren Bevölkerungsgruppen gehen und auch unter den Jugendlichen für Konfliktstoff sorgen. Kompetenzvermittlung Das Projekt zielt nicht nur auf eine Befriedung der Plätze, sondern zentral auch auf die Stärkung der sozialen Kompetenzen und die Reduzierung des Gewaltverhaltens der Jugendlichen. Wichtig hierfür ist aufsuchende Arbeit mit den auffälligen Jugendlichen. Im Rahmen des Teilprojektes „Boddin Power Play“ gelang es z. B., eine (gewalt-)auffällige Jugendgruppe teilweise an ein nahe gelegenes Jugendzentrum heranzuführen, das u. a. für die Durchsetzung klarer Regeln bekannt ist. Darüber hinaus gelang es, mehrere Jugendliche zu einem Schülerpraktikum zu bewegen und sie dabei zu unterstützen, ihren Schulabschluss zu machen. Einige Jugendliche konnten darüber hinaus in weitere jugendbezogene Aktivitäten des Trägers eingebunden werden. Im Vordergrund der aufsuchenden Sozialarbeit steht somit, die Jugendlichen in Alltagskompetenzen zu stärken und dabei zu unterstützen, einen Platz in vorhandenen Strukturen und Angeboten zu finden. In der Kinder- und Jugendeinrichtung wurden ein Mädchen- und ein Jungentag eingerichtet. Die Evaluation zeigt, dass die Kinder und Jugendlichen es sehr schätzen, einen eigenen Mädchenbzw. Jungentag verbringen und mitgestalten zu können. Insbesondere bei den Jungen lassen sich Veränderungen im Miteinander beobachten. Somit lernen die Jungen einen Rahmen kennen, der nicht, wie ihr Umfeld, vom „Recht des Stärkeren“ bestimmt ist. In der Gruppe der älteren Mädchen wird vor allem die Auseinandersetzung mit vielfältigen Frauenbildern gestärkt. Die Erfolge stellen angesichts der hoch gesteckten Zielsetzungen und vor dem Hintergrund der mächtigen Einflussfaktoren in der Familie und im sozialen Umfeld kleine Schritte dar. Diese sind aber im Rahmen eines vergleichsweise kleinen Projektes positiv zu bewerten. Im Zuge des Projektes gelingt es demnach, soziale Kompetenzen bei den Zielgruppen zu stärken. Ein Gelingensfaktor ist, dass mit niedrigschwelligen, im Kiez verankerten Konzepten gearbeitet wird. Ein weiterer Gelingensfaktor für die aufsuchende Arbeit besteht darin, dass die ProjektmitarbeiterInnen eine jugendkulturelle Nähe zu den TeilnehmerInnen haben, das kollektive Selbstverständnis und die Strukturen im Kiez kennen, für die Jugendlichen notfalls auch nach Feierabend da sind, aber gleichfalls kämpferische Vorbilder darstellen, die zeigen, dass sich auch aus schwierigen Verhältnissen heraus etwas erreichen lässt. 442 uj 10 | 2019 Sozialraumorientierte Gewaltprävention Geschlechterreflektierte Arbeit Das Projekt arbeitet mit einem geschlechterreflektierten Ansatz. Insbesondere in der niedrigschwelligen aufsuchenden Sozialarbeit spielt die Vorbildfunktion der MitarbeiterInnen eine zentrale Rolle. So wurde in einem der beiden Teilprojekte die Leitungsposition bewusst mit einer Frau besetzt. Das führt dazu, dass sich gerade weibliche Jugendliche von der aufsuchenden Arbeit angesprochen fühlen und zum Teil in bestehende Angebote integriert werden können. Die männlichen Jugendlichen erfahren eine Erweiterung ihres Frauenbildes, wenn sie einer weiblichen Projektleitung gegenüberstehen. Weiterhin werden in der Arbeit mit gewaltauffälligen männlichen Jugendlichen insbesondere die Sozialarbeiter zu Vorbildern. So berichtet ein Sozialarbeiter, dass viele der männlichen Jugendlichen, mit denen er arbeitet, als Berufswunsch angeben, sie wollten Sozialarbeiter werden wie er. Die Evaluation hat gezeigt, dass es darüber hinaus wichtig ist, im Kontakt mit den Jugendlichen übliche Geschlechterbilder und den damit verbundenen Druck auf die Jugendlichen zu hinterfragen und ihnen Alternativen aufzuzeigen. Weiterhin ist positiv zu bewerten, dass es im Kinder- und Jugendtreff einen eigenen Tag für Jungen und einen für Mädchen gibt. Im Rahmen der Jungenarbeit gelingt es in kleinen Schritten, Alternativen zum Prinzip des „Rechts des Stärkeren“ erlebbar zu machen. Im Rahmen der Mädchenarbeit setzen sich die Teilnehmerinnen mit weiblichen Rollenbildern auseinander. Wünschenswert ist nach Einschätzung der Evaluation ein stärkerer Austausch zwischen Mädchen- und Jungenarbeit auf der Ebene der MitarbeiterInnen und der TeilnehmerInnen. Auf diese Weise könnten die Ergebnisse der Gruppenarbeit stärker auf die offene Arbeit ausstrahlen. Wünschenswert ist zudem, dass die Geschlechterrollen auch im Rahmen der Mütterarbeit weiter thematisiert und den Möglichkeiten entsprechend bearbeitet werden. Auf dieser Grundlage können perspektivisch auch schwierigere Themen angegangen werden, wie z. B. Fragen über Sexualität und sexuelle Gewalt sowie die Stigmatisierung und sexuelle Erpressbarkeit von Mädchen. In dem Projekt wird deutlich, dass die geschlechterreflektierte Perspektive einen wichtigen Ansatzpunkt bildet, um die Problematiken von Gewalt zu bearbeiten. Für beide Projekte gilt, dass die Grundlage für die geschlechterreflektierte Arbeit der Beziehungsaufbau zu den Jugendlichen (und Eltern) ist. Sozialraumorientierte Gewaltprävention: Arbeit im öffentlichen Raum und mit den Zielgruppen Die Ergebnisse der Evaluation legen die folgenden Schlussfolgerungen für eine sozialraumorientierte Jugendgewaltprävention nahe. Kiezorientierte Gewaltprävention braucht beides - die Arbeit mit Zielgruppen und die Arbeit im öffentlichen Raum. Wichtig sind Konzepte, die sowohl eine friedliche Nutzung der Plätze befördern als auch mit den als problematisch betrachteten Nutzergruppen arbeiten. In beiden Teilprojekten gelingt es, Eltern zu aktivieren und die Spielplätze zu befrieden. Gleichzeitig ist es notwendig, mit den Jugendgruppen weiter zu arbeiten. Für die aufsuchende Arbeit ist vor allem die Zielgruppe der 14bis 16-Jährigen wichtig, sie fallen aus den Angeboten für Kinder heraus, sind aber noch auf der Suche nach Orientierung - hier gelang es im Rahmen des Projektes, einige Jugendliche zu erreichen, an bestehende Angebote heranzuführen und sie in Richtung des Schulbesuches zu orientieren. Im Rahmen der sozialraumorientierten Arbeit ist die geschlechterreflektierte Perspektive wichtig. Hier gilt es gerade in der aufsuchenden Arbeit, auf die Mädchen zuzugehen, ihre oftmals multiplen Gewalterfahrungen und Gefährdungen zu erkennen und zu bearbeiten. Im Rahmen der stärker an die Einrichtung gebun- 443 uj 10 | 2019 Sozialraumorientierte Gewaltprävention denen geschlechterflektierten Arbeit in geschlechtergetrennten Gruppen gilt es, die Reflexion von Geschlechterbildern auszuweiten, nicht nur im Rahmen der Jungen- und Mädchenarbeit, sondern beispielsweise auch mit den Eltern. Grundsätzlich ist die Elternaktivierung positiv zu betrachten, eine weitere Begleitung der Eltern und Arbeit mit ihnen ist jedoch empfehlenswert, um die Konflikte kontinuierlich zu bearbeiten und beispielsweise auch Geschlechterbilder zu reflektieren. Perspektivisch ist eine Stärkung der Fachkräftegewinnung und -förderung aus den betroffenen Sozialräumen erforderlich. Darüber hinaus wird die Lebenssituation der Jugendlichen vor Ort weiter angespannt bleiben. Hier gilt es, auch städtebaulich und sozialpolitisch entgegenzu- Literatur Behn, S., Schroer-Hippel, M. (2019): „Auf die Plätze! “ Kiezorientierte Gewaltprävention im Sozialraum. Evaluation eines Projekts in Berlin-Neukölln. Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 67, Heft 1, Berlin Lüter, A., Schroer-Hippel, M., Bergert, M., Glock, B. (2017): Berliner Monitoring Jugendgewaltdelinquenz. Vierter Bericht 2017. Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 62, Berlin Schroer-Hippel, M., Karliczek, K. (2014): Berliner Monitoring Jugendgewaltdelinquenz. Erster Bericht 2014. Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 53, Berlin Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen (2017): Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2017. Gesamtindex Soziale Ungleichheit (Status/ Dynamik- Index) 2017. https: / / bit.ly/ 2I9fcIk, 12. 6. 2019: https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-663-01302-0_9 wirken. Mangel an Perspektiven und bezahlbarem Wohnraum werden Themen bleiben; der Mangel an unbeobachteten Aufenthaltsorten sollte stärker auf die Agenda der städtebaulichen und stadtplanerischen Diskussionen gesetzt werden. Sabine Behn Miriam Schroer-Hippel Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH Boppstraße 7 10967 Berlin Tel. (0 30) 6 10 73 72-0 E-Mail: sabinebehn@camino-werkstatt.de miriamschroer@camino-werkstatt.de
