unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art78d
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2019
7111+12
Umgang mit Intensivtätern in der Kinder- und Jugendhilfe
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2019
Eva Schölch
Sabine Haid
Das Heinrich-Wetzlar-Haus ist Teil der Jugendeinrichtung Schloss Stutensee gGmhB mit dem Schwerpunkt „Vermeidung von Untersuchungshaft“ gemäß §71,2 und 72,4 JGG (Jugendgerichtsgesetz). Diese Einrichtung war bundesweit die erste ihresgleichen, welche ein Angebot zur Untersuchungshaftvermeidung im Rahmen der Jugendhilfe bereitgestellt hat.
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479 unsere jugend, 71. Jg., S. 479 - 487 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art78d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Eva Schölch Jg. 1990; B. A. Soziale Arbeit, Hausleitung Heinrich- Wetzlar-Haus, Stutensee Umgang mit Intensivtätern in der Kinder- und Jugendhilfe Am Beispiel des Heinrich-Wetzlar-Hauses Das Heinrich-Wetzlar-Haus ist Teil der Jugendeinrichtung Schloss Stutensee gGmhB mit dem Schwerpunkt „Vermeidung von Untersuchungshaft“ gemäß § 71,2 und 72,4 JGG (Jugendgerichtsgesetz). Diese Einrichtung war bundesweit die erste ihresgleichen, welche ein Angebot zur Untersuchungshaftvermeidung im Rahmen der Jugendhilfe bereitgestellt hat. Kurze Vorstellung der Einrichtung Seit nunmehr 35 Jahren verbringen delinquente Jugendliche im Heinrich-Wetzlar-Haus (HWH) im Rahmen der Untersuchungshaftvermeidung ihre Zeit bis zur Hauptverhandlung. Allerdings kann der Weg bis zur offiziellen Eröffnung des Heinrich-Wetzlar-Hauses im Sommer 1984 als steinig betitelt werden: Seit den 70er Jahren drängte die Justiz darauf, schon während des Ermittlungsverfahrens die facettenreichen Möglichkeiten pädagogischer Arbeit zu nutzen. Klar war, dass schädigende Umgänge in den Untersuchungshaftanstalten nicht gerade förderlich für die positive Entwicklung der Jugendlichen waren. Im ganzen Bundesgebiet gab es kaum passende Heimplätze, obwohl ein deutlicher Bedarf zu verzeichnen war. Im Mai 1980 wurde eine Konferenz aller Justizminister und Justizministerinnen einberufen, in welcher an öffentliche Jugendhilfeträger appelliert wurde, weitere Plätze für die Jugendhilfe zu schaffen. In Baden-Württemberg hatte das Sozialministerium in Zusammenarbeit mit dem Justizminis- Sabine Haid Jg. 1979; Dipl. Soz.-Päd., Bereichsleitung Sondereinrichtungen Abb. 1: Außenansicht Heinrich-Wetzlar-Haus 480 uj 11+12 | 2019 Projekt Heinrich-Wetzlar-Haus terium vergeblich versucht, einen entsprechenden Träger zu finden, der bereit war, nach §§ 71, 72 des Jugendgerichtsgesetzes ein „geeignetes Heim der Jugendhilfe“ anzubieten. Auch wenn die Finanzierungsfrage geklärt schien - denn die Unterbringungskosten sind Verfahrenskosten und werden von der Staatskasse getragen - waren sowohl die Träger der Jugendhilfe als auch die Vertreter*innen der Justiz weiter zögerlich. Die Beteiligten waren sich dessen bewusst, welche Schwierigkeiten die Einführung und vor allem die Durchführung solch eines einzigartigen Projekts mit sich bringen könnten. Gemeinsam machten sich alle Instanzen die schwierige Aufgabe zuteil, das Spannungsfeld zwischen Jugendhilfe und Justiz auszutarieren: Zum einen sollte das Verfahren gesichert werden und zum anderen sollten Hilfen zur Erziehung innerhalb der Untersuchungshaftvermeidung geleistet und ermöglicht werden. Sowohl Jugendhilfe als auch Justiz haben das gemeinsame Ziel einer möglichst wirksamen Bekämpfung der Jugendkriminalität. Schnell war man sich einig: Es wird schwierig sein, Freiheitsentziehung auf der einen Seite und Erziehung auf der anderen Seite zu vereinen. „Menschen statt Mauern“ war die Devise, nachdem sich die beiden Seiten angenähert hatten: Im Frühjahr 1981 trafen sich Vertreter und Vertreterinnen der Justiz, um geeignete Möglichkeiten zu durchdenken, jugendliche Straftäter alternativ zur Untersuchungshaft unterzubringen - mit Erfolg. Am 15. Juni 1984 eröffnete der damalige Justizminister Baden- Württembergs, Dr. Heinz Eyrich, das Heinrich- Wetzlar-Haus. Das Haus verdankt seinen Namen dem Gründer der Jugendeinrichtung Schloss Stutensee. Gemeinsam mit seiner Frau Therese übernahm Dr. Heinrich Wetzlar am ersten April 1919 das Schloss Stutensee und führte dort sein bisher betriebenes Erziehungsheim aus Karlsruhe fort. Seit der Eröffnung wurden im Heinrich-Wetzlar-Haus knapp 1300 Jugendliche zur Vermeidung von Untersuchungshaft aufgenommen. Ein regelmäßig tagender Fachbeirat aus Vertretern der Justiz und der Sozialen Arbeit, dessen Vorsitz Prof. Dr. Dieter Dölling vom Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg innehat, sichert die regelmäßige Reflexion, überprüft die Standards und die damit verbundene qualitative Weiterentwicklung der Einrichtung. Im Heinrich-Wetzlar-Haus sind pädagogische Fachkräfte im Wechselschichtbetrieb, Arbeitserzieher, eine Lehrerin, Psychologen, Nachtdienstmitarbeitende und eine Bereichsleitung tätig. Die Jugendlichen werden einem Bezugserzieher-Team zugeordnet, welches für die Hilfe und Unterstützung im Umgang mit Behörden und Instanzen des Strafverfahrens und für die pädagogische Betreuung und Beratung zuständig ist. Ziele, Zielgruppen, Konzept und Grundprinzipien in der Arbeit mit Intensivtätern Das Heinrich-Wetzlar-Haus bietet 14 Plätze für männliche Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren, die sich entweder bereits in Untersuchungshaft befinden oder denen die Untersuchungshaft droht. Verhängung und Vollstreckung von Untersuchungshaft sind im Jugendstrafrecht eingeschränkter im Vergleich zur StPO (Bindel- Kögel/ Heßler 2003, 3), da das Jugendgerichtsgesetz (im folgenden JGG abgekürzt) vom Erziehungsgedanken geprägt ist (§ 2 Abs. 1 S. 1 JGG i. V. M. Hintz 2004, 1). Von vielen Fachkräften und Gefangenen wird die Untersuchungshaft als „die härteste Form strafrechtlicher Freiheitsentziehung“ (Cornel 2009, 262) angesehen. Sie stellt ein beträchtliches Eingreifen u. a. in das Grundrecht der Freiheit einer Person dar und bedeutet im Ermittlungsverfahren die drastischste Maßnahme zur Sicherstellung des Strafverfahrens (Bindel-Kögel/ Heßler 2003, 3). Hintz beklagt, dass die Untersuchungshaft bei Jugendlichen negative Konsequenzen mit sich bringe. Die unter Umständen überraschende Festnahme, unterstrichen von der zwangsläufigen Trennung vom sozialen Umfeld und die 481 uj 11+12 | 2019 Projekt Heinrich-Wetzlar-Haus Ungewissheit über den Ausgang des Verfahrens können den Jugendlichen möglicherweise psychisch belasten (Hintz 2004, 1). Die Belastung könne Hintz zufolge in einer Depression oder Entwicklungsstörung münden. Demzufolge ist infrage zu stellen, ob der „Schock über den Freiheitsentzug wirklich nutzbar ist“ (ebd., 24). Durch die Isolation der Beschuldigten, die Unsicherheit über den Verfahrensablauf und die Behandlung der Straffälligen habe die Untersuchungshaft laut Abenhausen einen erziehungsfeindlichen Charakter (Abenhausen 1983, 99). Auch Rauchfleisch verweist auf die „autonomieeinschränkenden, dissozialisierenden Folgen für die Identitäts- und Persönlichkeitsbildung“ während des Aufenthalts in einer Justizvollzugsanstalt (Rauchfleisch 1981, 29). Liegen Haftgründe vor, darf Untersuchungshaft nur angeordnet und vollzogen werden, wenn diese nicht durch eine „vorläufige Anordnung über die Erziehung“ (§ 72 Abs. 1 JGG) oder durch „andere Maßnahmen“ (§ 72 Abs. 1 JGG) erzielt werden können. § 1 Abs. 2 JGG beschreibt die „einstweilige Unterbringung in einem geeigneten Heim der Jugendhilfe“ (§ 71 Abs. 2 JGG), die als Alternative zur Untersuchungshaft gilt („Untersuchungshaftvermeidung“). Die Unterbringung erfolgt auf Anordnung eines Gerichts gemäß § 71 Abs. 2 oder § 72 Abs. 4 des JGGs. Die Anfrage zur Untersuchungshaftvermeidung im Heinrich-Wetzlar-Haus kann durch das Gericht, die Staatsanwaltschaft, einen Rechtsanwalt, die Jugendhilfe im Strafverfahren, den Allgemeinen Sozialen Dienst des zuständigen Jugendamtes, den sozialen Dienst in der Justizvollzugsanstalt oder durch den Jugendlichen bzw. durch einen Personensorgeberechtigten selbst erfolgen. Der Jugendliche wird von einer Fachkraft im Rahmen eines Aufnahmegesprächs in der Untersuchungshaft besucht. Im Gespräch werden Tagesablauf und Regelkatalog mit dem Jugendlichen besprochen und es soll festgestellt werden, inwieweit der Jugendliche auch die Bereitschaft zeigt, die ihm gebotene Chance zu nutzen. Wenn der Jugendliche sich im Aufnahmegespräch offen und bereit zeigt, über sich, seinen Werdegang und die ihm vorgeworfene(n) Straftat(en) zu sprechen, kann prinzipiell eine Aufnahme ins Heinrich-Wetzlar-Haus erfolgen. Die Mitarbeitenden im Heinrich-Wetzlar-Haus sind angehalten, alle Beteiligten des Verfahrens über die mögliche Aufnahme des Jugendlichen zu informieren. Es wird im nächsten Schritt um Rückmeldung des zuständigen Gerichts und der Staatsanwaltschaft gebeten, ob die Aufnahme erfolgen kann. Die Konzeption des Heinrich-Wetzlar-Hauses weist darauf hin, dass akut Suchtkranke, geistig behinderte und psychisch kranke Jugendliche nicht aufgenommen werden können. Zwei weitere Ausschlusskriterien sind unkontrollierte Gewaltanwendung und die Nichtbeherrschung der deutschen Sprache. Vonseiten der Einrichtung ist die Schwere der Tat kein Ausschlusskriterium für die Aufnahme ins Heinrich-Wetzlar-Haus. Seitens des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft können u. a. die Haftgründe oder die Schwere der Taten Gründe für eine Ablehnung der Unterbringung sein. Nach positiver Rückmeldung von Gericht und Staatsanwaltschaft über die Aufnahme des Jugendlichen im Heinrich-Wetzlar-Haus wird ein Termin zur mündlichen Haftprüfung vereinbart, bei der der Haftbefehl in einen Unterbringungsbefehl umgewandelt wird. Von dort aus wird der Jugendliche von einer pädagogischen Fachkraft in das Heinrich-Wetzlar-Haus gebracht. Das Gebäude ist durch bauliche Maßnahmen an den Fenstern und Eingangstüren fluchthemmend. Entweichungen werden in erster Linie durch pädagogische Mittel versucht zu verhindern, in dem Einzelgespräche, Krisenintervention etc. regelmäßig stattfinden. Die Jugendlichen bewohnen je ein Einzelzimmer mit Nasszelle, das den Jugendlichen eine Privatsphäre ermöglicht. 482 uj 11+12 | 2019 Projekt Heinrich-Wetzlar-Haus Die durchschnittliche Verweildauer von Jugendlichen im Heinrich-Wetzlar-Haus beträgt zwischen vier und fünf Monaten. Angebote und Methoden in der Arbeit mit delinquenten Jugendlichen Die Zeit vor der Hauptverhandlung soll unter Partizipation der Jugendlichen erzieherisch gestaltet werden. Weiter werden die Jugendlichen mit einer für sie neuen sozialen Situation konfrontiert, bei der ihnen die Möglichkeit gegeben wird, positives Sozialverhalten einzuüben und Perspektiven für den weiteren Verlauf des Verfahrens zu entwickeln. Im Fokus steht hierbei auch die Auseinandersetzung mit der begangenen Straftat. Ziel ist, dass die Jugendlichen künftig ihr Leben ohne das Begehen von Straftaten leben und bewältigen können. Die Fachkräfte realisieren im HWH für die Jugendlichen einen sozialpädagogisch strukturierten Alltag. Dabei steht ein pädagogisches Pflichtprogramm im Vordergrund, das aktives gemeinsames Tun und kreatives Miteinander beinhaltet (sportliche und musische Aktivitäten, schulische und handwerkliche Förderung). Dabei entdeckt der Jugendliche seine Fähigkeiten und Begabungen und entwickelt sie weiter. Auch die Defizite des Jugendlichen greifen die pädagogischen Fachkräfte auf und versuchen sie kontinuierlich abzubauen. In Einzel- und Gruppengesprächen werden Gefühle und Einstellungen der Jugendlichen thematisiert. Jährlich finden zwei Vorbereitungskurse für den Hauptschulabschluss im Rahmen der Schulfremdenprüfung statt. Die Hauptschulabschlussprüfungen werden von einer Kooperationsschule in Karlsruhe durchgeführt. Seit 26 Jahren haben mehrere hundert Jugendliche im Heinrich-Wetzlar-Haus einen Schulabschluss absolviert. Ein Baustein des pädagogischen Pflichtprogramms im Heinrich-Wetzlar-Haus ist das lebenspraktische Training (LPT). Zielgruppe des LPTs sind die Jugendlichen, die nicht im hausinternen Schulkurs aufgenommen werden können. Diese Jugendlichen sind entweder in Besitz eines Schulabschlusses oder haben enorme Defizite im schulischen Bereich, sodass ein Schulbesuch im Heinrich-Wetzlar-Haus nicht realisierbar ist. Dadurch ist die Zielgruppe vielschichtig und differenziert zu behandeln. Im LPT liegt der Schwerpunkt auf individueller Förderung und Vermittlung von lebensnahen Praktiken. Das LPT wird von den pädagogischen Mitarbeitenden des HWHs durchgeführt. Das Angebot soll vielseitig sein, möglichst viele Lebensbereiche der Jugendlichen abdecken und bedarf entsprechender Vorplanung. Ein Bereich des LPT umfasst den Arbeitsschwerpunkt „berufliche Hilfen“. Dies wird durch das hausinterne Werkprogramm mit Schwerpunkt Holzverarbeitung umgesetzt. Im „Werken“ werden arbeitsalltägliche Abläufe erprobt, ähnlich eines Ausbildungsverhältnisses. Die Jugendlichen werden zusätzlich durch einen Arbeitserzieher angelernt und sie erfahren theoretische Wissensvermittlung im Bereich Holzverarbeitung. Der zweite Bereich des LPTs greift vornehmlich pädagogische Themen auf. So werden in diesem Rahmen die Jugendlichen auf unterschiedlichste Weise gefördert. Schwerpunkte bilden: Anti-Aggressions-Training, Coolness-Training, Methoden des Psychodramas, Tataufarbeitung anhand entwickelter Bausteine, Biografiearbeit, Perspektivplanung, aber auch alltagspraktische Themen wie angewandte Mathematik, gesellschaftspolitische Themen, Kunst und Kultur. Um die Partizipation der Jugendlichen sicherzustellen, findet einmal wöchentlich ein Gruppengespräch zu frei wählbaren Themen - meist das Alltagsleben des HWH betreffend - statt, in welchem den Jugendlichen demokratische Verhaltensprinzipien spielerisch beigebracht 483 uj 11+12 | 2019 Projekt Heinrich-Wetzlar-Haus werden. Das Gruppengespräch soll die Moralentwicklung fördern anhand von Übertragung von Verantwortung, Eigenhandlung, Erlernen positiver Wahrnehmung und verantwortlichem Denken und Handeln. Ein Gruppensprecher und sein Stellvertreter bereiten die Gruppensitzung vor, sie führen Protokoll und leiten das Gruppengespräch. Bis zur Vorbereitung des Gesprächs können die Jugendlichen sogenannte Anträge abgeben, welche dann in der Sitzung vorgestellt und demokratisch abgestimmt werden. Die pädagogischen Fachkräfte sind Teil der Gruppe und nehmen die abgestimmten Anträge mit in die Mitarbeiterbesprechung. Das Ergebnis wird in der Hausversammlung mitgeteilt. Alle fünf Wochen werden der Gruppensprecher und sein Stellvertreter von der gesamten Gruppe gewählt. Zweimal in der Woche sind die Jugendlichen angehalten, eine angeführte Reflexion über ihren Tag, das Wochenende oder den derzeitigen „Stand im Leben“ unter Einbeziehung verschiedenster Methoden durchzuführen. Ziel soll sein, dass die Jugendlichen lernen, sich selbst wertzuschätzen und Selbst- und Fremdreflexion zuzulassen. Es ist unabdingbar, dass regelmäßige Impulse und Anregungen im Hinblick auf eine sinnvolle und abwechslungsreiche Beschäftigung in der Freizeit angeboten werden. Mit diesen Aktivitäten soll nicht nur der Alltag aufgelockert werden, vielmehr sollen Anstöße gegeben werden, um den oft sehr passiven bzw. konsumorientierten Jugendlichen eine sinnvolle und alternative Beschäftigungsmöglichkeit zu zeigen. Einen besonderen Stellenwert haben hierbei die erlebnisorientierten Aktivitäten: Wanderungen im Hochgebirge von Hütte zu Hütte, Hochseilgarten oder Kletterpark, Kanufahrten und -Freizeiten sowie mehrtägige Reitfreizeiten. Dabei werden nicht nur gruppenbezogene Erlebnisaktivitäten angeboten, sondern auch Einzelbetreuungen mit einem oder zwei Jugendlichen, um zum Beispiel eine krisenhafte Situation zu überbrücken bzw. zu überwinden. Die erzieherischen Bemühungen sind vor allem darauf gerichtet, die Erlebnisfähigkeit in ihrer Vielfalt zu erweitern und eine tragfähige Beziehung zu dem Jugendlichen aufzubauen bzw. herzustellen, Verantwortung zu übernehmen, Ängste zuzulassen und zu überwinden. Verlässlichkeit und die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung sind wichtige Voraussetzungen für die zunehmende Öffnung der Unterbringung. Dadurch werden auch jene Entwicklungskräfte der Jugendlichen angesprochen, die dazu beitragen, dass sie sich akzeptiert fühlen und wieder Vertrauen fassen. Die Jugendlichen sollen selbst zeigen können, dass es ihnen wichtig ist, an der Veränderung ihrer Situation aktiv mitzuarbeiten. Konzeptionell verankert ist daher auch die zunehmende Öffnung der zunächst geschlossenen Unterbringung im Heinrich-Wetzlar-Haus. Nach einer Aufnahme eines Jugendlichen können frühestens zwei Wochen nach der Aufnahme Lockerungen erfolgen. Die weitere Öffnung erfolgt über einen Stufenlockerungsplan. Die höchste Stufe ist der sogenannte Einzelausgang in Verbindung mit einer Heimfahrt. Diese Lockerungen müssen durch das zuständige Gericht auf Antrag des Jugendlichen genehmigt werden. Möglichkeiten, Erfolge und Wirkungen in der Arbeit mit Intensivtätern Über die Zeit der Unterbringung und die mit dem Jugendlichen gesammelten Erfahrungen wird bei der Hauptverhandlung ein ausführlicher Bericht erstellt, der die Ausführungen der Jugendhilfe im Strafverfahren ergänzt und der mündlich durch den Bezugsmitarbeiter vorgetragen wird. Auf der Basis der Entwicklung des Jugendlichen und seiner Beteiligung sowie im engen Kontakt mit dem Jugendamt werden geeignete Perspektiven abgeklärt und entschieden, welche dem Gericht zur Urteilsfindung empfohlen werden. 484 uj 11+12 | 2019 Projekt Heinrich-Wetzlar-Haus Die Entlassung eines Jugendlichen findet im Regelfall am Tag der Hauptverhandlung oder bei Eintritt der Rechtskraft des Urteils statt. Nur in Ausnahmefällen (s. o., bei Beendigung des Hauptschulabschlusses oder dem „Warten auf die Anschlusshilfe“) kann die Unterbringungszeit verlängert werden. Ein wichtiger Punkt der pädagogischen Arbeit stellt die Einbeziehung des Familiensystems der Jugendlichen - vor allem auch im Hinblick auf die Zukunftsperspektiven - dar. Deshalb sind regelmäßige Gespräche mit der Familie erwünscht und für den Austausch über die Entwicklung des Jugendlichen dringend notwendig. Hier gilt es, die Eltern über den Verlauf der Unterbringung zu informieren und eine verbindende Stütze darzustellen für das Familiensystem. Diese Elternarbeit findet im Rahmen von Besuchskontakten, Perspektivplanungsgesprächen und telefonisch statt. Die Jugendlichen haben je nach Lockerungsstufe die Möglichkeit, mit ihrer Familie für zwei bzw. vier Stunden das Haus zu verlassen („Besuchsausgang“). Durchschnittlich werden 28 Jugendliche pro Jahr im Heinrich-Wetzlar-Haus pädagogisch intensiv betreut. Als Erfolg kann verzeichnet werden, dass durchschnittlich mehr als 85 % Prozent der Jugendlichen nach der Hauptverhandlung eine Jugendstrafe zur Bewährung erhalten und somit nicht in die Strafhaft entlassen werden (vgl. Abb. 2). Eine positive Entwicklung im Rahmen der Unterbringungszeit begünstigt maßgeblich die Entscheidung über die Bewährung. Nach der Zeit der Unterbringung im Heinrich- Wetzlar-Haus wird der Großteil der Jugendlichen in Jugendhilfeeinrichtungen weiterhin betreut oder kann zurück ins Elternhaus entlassen werden (vgl. Abb. 3). Des Weiteren ist als Erfolg zu verzeichnen, dass im Jahr 2016 zwei Jugendliche, im Jahr 2017 vier Jugendliche und im Jahr 2018 lediglich ein Jugendlicher entwichen sind und erneut in Untersuchungshaft genommen wurden. Es zeigt, dass die Jugendlichen mit dem Lockerungsprinzip vertrauensvoll umgehen können. Weiter scheinen sie die 25 20 15 10 5 0 § 27 JGG bis 1 Jahr bis 1,5 Jahre bis 2 Jahre über 2 Jahre 2016 2017 2018 Abb. 2: Strafmaß der in der Einrichtung betreuten Jugendlichen nach Verurteilung. (Quelle: Statistik Heinrich- Wetzlar-Haus 2016, 2017, 2018, eigene Darstellung) Erklärung zur Legende: § 27 JGG Feststellung der Schuld. Jugendstrafen bis zu 2 Jahren können zur Bewährung ausgesetzt werden. 485 uj 11+12 | 2019 Projekt Heinrich-Wetzlar-Haus Chance der Vermeidung von Untersuchungshaft im Hinblick auf die bevorstehende Hauptverhandlung zu erkennen. Der Bedarf an Einrichtungen zur Untersuchungshaftvermeidung ist gegeben. Die Auslastung im Jahr 2018 lag im Heinrich-Wetzlar-Haus bei 95 %. Herausforderungen und Grenzen in der Arbeit mit delinquenten Jugendlichen Beim Aufnahmegespräch in der JVA erleben die Mitarbeitenden lediglich eine kurze Momentaufnahme der geschilderten Situation des Jugendlichen und seiner Lebensumstände. Deshalb ist ein geschultes Auge bzw. die kritische Beurteilung dessen, was der Jugendliche der pädagogischen Fachkraft im Rahmen des Aufnahmegesprächs mitteilt, vonnöten. Die folgenden Informationen entstammen der Expertise des psychologischen Dienstes im Heinrich-Wetzlar-Haus. Vonseiten des psychologischen Dienstes ist in vielen Fällen Diagnostik gefordert. In den Gefängnissen sitzt ein Großteil Jugendlicher, die meist im Kindesbzw. frühen Jugendalter Vordiagnosen wie beispielsweise ADHS bekommen haben, welche dann zwar mit Medikamenten behandelt wurden, jedoch auch oft eine „Selbstmedikation“ der Symptome durch den Konsum von Marihuana erfolgte. Meist verbrachten Jugendliche ihre ersten Lebensjahre in katastrophalen Lebensverhältnissen, in denen sie mitunter emotional vernachlässigt oder gar körperlich misshandelt und dadurch belastet wurden. Viele Jugendliche tragen das Label „auffällig“ und „verhaltensgestört“ und die Ursachen gehen oftmals auf frühkindliche Bindungsstörungen zurück, in denen „Beziehungstraumatisierungen“ stattgefunden haben. 2016 2017 2018 Psychiatrie Strafhaft Therapie nach Hause Heimerziehung 25 20 15 10 5 0 Abb. 3: Anschließende Unterbringung nach Beendigung der Maßnahme im Heinrich-Wetzlar-Haus (Quelle: Statistik Heinrich-Wetzlar-Haus 2016, 2017, 2018, eigene Darstellung) 486 uj 11+12 | 2019 Projekt Heinrich-Wetzlar-Haus Die Arbeit des psychologischen Dienstes im Heinrich-Wetzlar-Haus dient aufgrund der relativ kurzen Verweildauer meist lediglich der Weichenstellung. Fragen hierbei sind: Bedarf es einer psychiatrischen Abklärung? Sind nach der Hauptverhandlung ambulante Gespräche in psychologischen Beratungsstellen ausreichend? In vielen Fällen gilt es auch, bei den Jugendlichen primär Motivation und Bereitschaft zu schaffen, das verpflichtende Angebot des psychologischen Dienstes anzunehmen. Deshalb sollen die Jugendlichen die Gesprächseinheiten als hilfreich empfinden und nicht als unangenehm oder gar peinlich. Wichtig ist auch die Psychoedukation im Familiensystem. Elementar für den Aufenthalt ist die Entwicklung von Selbstdisziplin und intrinsischer Motivation, vor allem in Bezug auf die Hauptverhandlung und die Zeit danach. Der pädagogische „Einfluss“ während der Zeit im Heinrich-Wetzlar- Haus ist groß, allerdings ist die Verweildauer von durchschnittlich 4,3 Monaten zu gering, um lebensprägend, konstant und langfristig grundlegende Veränderungen zu schaffen, sodass das Heinrich-Wetzlar-Haus lediglich als Weichensteller dient und die folgenden Hilfen dann die Ergebnisse der Arbeit aufgreifen und weiter bearbeiten. In der Hausordnung des Heinrich-Wetzlar-Hauses ist aufgeführt, dass der Besitz und der Konsum von Alkohol und Drogen verboten sind. Glücksspiele und jegliche Spiele um Geld sind nicht erlaubt. Gleiches gilt für Spiele, die Verletzungen hervorrufen können. Geldgeschäfte, Tauschgeschäfte und Schenkungen sind ebenso verboten. Körperliche Auseinandersetzungen werden nicht geduldet und in der Regel angezeigt. Auf die Regelverstöße erfolgt unverzüglich eine Konsequenz, beispielsweise die Wegnahme eines oder mehrerer Ausgänge oder eine Ausgangssperre. In gravierenden Fällen wird eine Anhörung beim zuständigen Gericht beantragt, welche mit sich bringen kann, dass der Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt werden kann. Empfehlungen für Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe Oftmals sind den Praktizierenden der Sozialen Arbeit und der Justiz weder die Möglichkeit zur Vermeidung von Untersuchungshaft noch das Heinrich-Wetzlar-Haus bekannt. Durch eine stärkere Öffentlichkeitsarbeit bei Gerichten und durch den pädagogischen Erfolg wird versucht darauf hinzuwirken, dass stärker über diese pädagogische Möglichkeit gesprochen wird. Während des Aufenthalts der Jugendlichen ist eine enge Zusammenarbeit mit dem zuständigen Gericht, der Staatsanwaltschaft, dem Jugendamt und der Jugendhilfe im Strafverfahren unabdingbar. Die Untersuchungshaftvermeidung im Heinrich-Wetzlar-Haus der Jugendeinrichtung Schloss Stutensee gGmbH ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass die Jugendhilfe ihren Handlungsraum gegenüber den justiziellen Instanzen nutzt. Die Konzeption „Erziehungshilfe statt Untersuchungshaft“ zeigt die großen Chancen, welche die Jugendlichen im Kontext ihrer Straffälligkeit wahrnehmen können. Ückers Forderung, gegen Jugendkriminalität sozialpädagogisch vorzugehen (Ücker 2008, 67) kommt die Untersuchungshaftvermeidung in der Jugendeinrichtung Schloss Stutensee mit jahrelangem Erfolg nach. Die Wichtigkeit dieser Einrichtung spiegelt sich auch auf politischer Ebene wider: So war der Besuch des baden-württembergischen Justizministers Wolf Ende Januar 2019 wegbereitend für das Großprojekt „Neubau des Heinrich-Wetzlar- Hauses“. Der Justizminister Wolf sicherte vor Ort seine Unterstützung des Landes Baden- Württemberg zu, ein neues, zeitgemäßes Gebäude für dieses tolle Angebot zu refinanzieren. Aus diesem Grund ist die Jugendeinrichtung optimistisch, im Jahr 2022 gemeinsam mit dem Land ein neues Gebäude einweihen zu können. 487 uj 11+12 | 2019 Projekt Heinrich-Wetzlar-Haus Das Spannungsfeld von Jugendhilfe und Justiz in Form der Untersuchungshaftvermeidung für jugendliche Straftäter zusammen zu führen, zeugt von der Prozesshaftigkeit und Dynamik Sozialer Arbeit und ermöglicht so den Jugendlichen, positiv in die Zukunft zu blicken. Sabine Haid Bereichsleitung Sondereinrichtungen Jugendeinrichtung Schloss Stutensee gGmbH E-Mail: S.Haid@jugend-schloss.de Literatur Abenhausen, F. (1983): Statistische und empirische Untersuchungen zu Untersuchungshaft. In: Jung, H., Müller-Diez, H. (Hrsg.): Reform der Untersuchungshaft - Vorschläge und Materialien - Fachausschuss I „Strafrecht und Strafvollzug“ des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe. Bonn, 99 - 169, https: / / doi.org/ 10.1515/ 9783110895841.200 Bindel-Kögel, G., Heßler, M. (2003): Vermeidung von Untersuchungshaft bei Jugendlichen im Spannungsfeld zwischen Jugendhilfe und Justiz. Das Berliner Modell. 2. Aufl. Centaurus Verlag, Herbolzheim, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-86226-492-6_4 Cornel, H. (2009): Strafvollzug. In: Cornel, H., Kawamura- Reindl. G., Maelicke, B., Sonnen, B.-R. (Hrsg.): Resozialisierung. Handbuch. 3. Aufl. Nomos, Baden-Baden, 292 - 321, https: / / doi.org/ 10.5771/ 0934-9200-2009-3-118 Hintz, S. (2004): Untersuchungshaft und Erziehung. Centaurus, Herbolzheim Rauchfleisch, U. (1981): Dissozial. Entwicklung, Struktur und Psychodynamik psychosozialer Persönlichkeiten. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Ücker, M. (2008): „… statt Knast? “ Alternativen anstatt Inhaftierung junger Männer. VDM-Verlag, Saarbrücken
