unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Von der Heimeinrichtung in die Eigenständigkeit
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2019
Christina Klug
Handlungsbefähigung ist eine zentrale Ressource im Umgang mit Herausforderungen. Sie wird besonders wichtig, wenn junge Erwachsene den Übergang von der Heimerziehung in ein eigenständiges Leben zu bewältigen haben. Daten aus der SOS-Längsschnittstudie zeigen, dass die Handlungsbefähigung vor und nach dem Auszug mit dem Übergangserleben in Beziehung steht.
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488 unsere jugend, 71. Jg., S. 488 - 496 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art79d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Von der Heimeinrichtung in die Eigenständigkeit Handlungsbefähigung und Auszugserleben von Care-LeaverInnen Handlungsbefähigung ist eine zentrale Ressource im Umgang mit Herausforderungen. Sie wird besonders wichtig, wenn junge Erwachsene den Übergang von der Heimerziehung in ein eigenständiges Leben zu bewältigen haben. Daten aus der SOS-Längsschnittstudie zeigen, dass die Handlungsbefähigung vor und nach dem Auszug mit dem Übergangserleben in Beziehung steht. von Dr. Christina Klug Jg. 1984; Soziologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sozialpädagogischen Institut des SOS-Kinderdorf e.V. (seit 1. 8. 2019 am Deutschen Jugendinstitut e.V.) Handlungsbefähigung als personale Ressource Der Weg ins Erwachsenenleben ist für junge Menschen mit vielen Herausforderungen verbunden: Auf der Suche nach einem Lebensentwurf, der ihren individuellen Zielen und Vorstellungen entspricht, müssen sie sich immer wieder neuen Situationen stellen, Unsicherheiten aushalten und Schwierigkeiten meistern. Wie gut sie all dies bewältigen, hängt zum einen von den äußeren Rahmenbedingungen ab. Zum anderen kommt es aber auch darauf an, über welche personalen Kompetenzen sie verfügen - ob es ihnen also gelingt, Herausforderungen mit einem stabilen Gefühl der Zuversicht und des Vertrauens in die eigenen Möglichkeiten zu begegnen. Dieses umfassende Gefühl der Zuversicht wird im Folgenden als Handlungsbefähigung bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine übergeordnete personale Ressource, die Menschen in die Lage versetzt, ihre eigenen Fähigkeiten angemessen einzuschätzen, Chancen im richtigen Moment zu ergreifen und mit Ambivalenzen und Widersprüchen konstruktiv umzugehen. Höfer et al. (2017) haben das Konzept der Handlungsbefähigung von Grundmann (2008) auf der Basis dreier zentraler Konstrukte weiterentwickelt: der Kohärenz (Antonovsky 1997), der Selbstwirksamkeit (Bandura 1977) und der Resilienz (Werner 2005). Dr. Wolfgang Sierwald Jg. 1958; Psychologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sozialpädagogischen Institut des SOS-Kinderdorf e.V. 489 uj 11+12 | 2019 Von der Heimeinrichtung in die Eigenständigkeit Der Übergang als kritisches Lebensereignis Die Handlungsbefähigung spielt über das gesamte Leben hinweg eine wichtige Rolle. Besonders relevant wird sie aber immer dann, wenn Veränderungen und Umbrüche anstehen, wenn Menschen gewohntes Terrain verlassen und sich fremden (und mitunter schwierigen) Situationen stellen müssen (Höfer et al. 2017; Straus/ Sierwald 2015). Eine solche Phase des Umbruchs ist für junge Erwachsene der Übergang vom Elternhaus in die Eigenständigkeit. In dieser Zeit gilt es, schulische und berufliche Bildungsprozesse voranzutreiben und abzuschließen, Entscheidungen über zukünftige Lebensorte und Lebensformen zu treffen, Verantwortung für das eigene Leben (und eventuell auch für das Leben anderer) zu übernehmen, soziale Beziehungen umzugestalten, Partnerschaften einzugehen und die eigene Identität weiterzuentwickeln. Über welchen Zeitraum sich dieser Prozess erstreckt, hängt von vielen Faktoren ab und kann mehr oder weniger selbstbestimmt sein. So führt zum Beispiel die Bildungsexpansion dazu, dass junge Erwachsene häufig später ins Berufsleben einsteigen und damit auch länger im Elternhaus bleiben. Eine hohe Handlungsbefähigung hilft Heranwachsenden dabei, Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten zu fassen und sich den Herausforderungen des Selbstständigwerdens mit Zuversicht zu stellen. Das gilt in besonderem Maße für diejenigen, die diesen Weg unter erschwerten Bedingungen und mit wenig Unterstützung gehen müssen. Dazu gehören junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe verbringen. Diese haben zumeist belastende Erfahrungen in ihren Herkunftsfamilien gemacht. Nach der Trennung von den Eltern mussten sie sich auf neue Betreuungs- und Bezugspersonen und auf eine Gruppe zunächst fremder, überwiegend ebenfalls belasteter Kinder und Jugendlicher einlassen. Ihr Alltag in der Einrichtung ist durch institutionelle Strukturen und Vorgaben geprägt. Wichtige Entscheidungen über ihre aktuelle und zukünftige Lebenslage werden im Rahmen der Hilfeplanung getroffen, an der sie mehr oder weniger beteiligt werden. Auch der Zeitpunkt des Auszugs ist häufig institutionell bestimmt: Oft sind die Betroffenen kaum 18 Jahre alt, wenn sie die Heimeinrichtung verlassen, während ca. 84 % aller Deutschen im Alter von 18 bis 24 Jahren noch bei ihren Eltern leben (Eurostat 2018). Den räumlichen, emotionalen oder finanziellen Rückhalt einer Familie erleben sie nicht oder nur sehr eingeschränkt. Im vorliegenden Beitrag nehmen wir die Handlungsbefähigung im Kontext des Übergangs genauer in den Blick: Verändert sie sich mit dem Auszug aus der stationären Einrichtung? Gibt es individuelle Unterschiede? Inwieweit hängen diese Unterschiede damit zusammen, wie die Betroffenen den Auszug erleben? Und was bedeutet dies für die pädagogische Gestaltung des Übergangs im Rahmen der stationären Betreuung? Stand der Forschung Internationale Studien zeigen, dass viele Betreute die Erziehungshilfe verlassen, bevor sie sich für die Selbstständigkeit bereit fühlen. Stein (2012) kommt zu dem Befund, dass die Hälfte der fremd untergebrachten Jugendlichen nicht zufrieden mit der Vorbereitung auf die Eigenständigkeit ist. Der Übergang wird häufig als schlecht geplant, plötzlich und komprimiert erlebt. Als positiv empfinden die jungen Menschen die Hilfe von Jugendämtern und Einrichtungen; informelle Netzwerke geben zusätzliche Sicherheit (Höjer/ Sjöblom 2014 b). In einem früheren Beitrag zur SOS-Längsschnittstudie stellen Sierwald et al. (2017) fest, dass die Heranwachsenden dem Auszug sehr unterschiedlich entgegensehen, und machen diesbezüglich vier verschiedene Typen aus: Der erste Typ nimmt die Verselbstständigung als natürlichen Prozess wahr, der zweite als Rauswurf, 490 uj 11+12 | 2019 Von der Heimeinrichtung in die Eigenständigkeit der dritte steht ihr ambivalent gegenüber und der vierte sieht sie als Befreiung. Im Rückblick bewerten vor allem diejenigen den Auszug eher negativ, die den Übergang als fremdbestimmt erlebt und sich fachlich wenig begleitet gefühlt haben. Es gibt verschiedene Faktoren, die sich darauf auswirken, wie das Leben nach der stationären Erziehungshilfe bewältigt wird. Ein starkes Beziehungsnetzwerk und eine zuversichtliche Lebenseinstellung (Dixon 2008) sowie ein hohes Maß an Resilienz (Stein 2008) steigern das Wohlbefinden nach der Verselbstständigung. Ein späteres Verlassen der Erziehungshilfe erhöht die Chance, einen besseren Bildungsabschluss zu erreichen und weniger psychische Probleme zu haben. Dies hängt jedoch ebenso von der erfahrenen Stabilität während des Aufwachsens, von den vorhandenen sozialen Beziehungen sowie von der Motivation ab (Höjer/ Sjöblom 2014 a). Zu den personalen Ressourcen, die die jungen Erwachsenen beim Übergang in die Eigenständigkeit stärken, gibt es bisher kaum empirische Belege - insbesondere nicht dazu, wie sich diese Ressourcen im Zeitraum vor und nach dem Auszug verändern. Die SOS-Längsschnittstudie zur Handlungsbefähigung junger Menschen auf dem Weg in die Eigenständigkeit Die „SOS-Längsschnittstudie zur Handlungsbefähigung junger Menschen auf dem Weg in die Eigenständigkeit“ befasst sich mit dem Aufwachsen junger Menschen in der Heimerziehung sowie mit ihrem Übergang in die Selbstständigkeit. Das Sozialpädagogische Institut (SPI) des SOS-Kinderdorf e.V. führt in Kooperation mit dem Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) regelmäßig schriftliche Befragungen durch. Diese richten sich zunächst an alle Jugendlichen ab zwölf Jahren, die in stationären Einrichtungen des SOS-Kinderdorfvereins leben. Diese Personen werden im weiteren Verlauf auch als Care-LeaverInnen befragt, also als junge Erwachsene, die die Jugendhilfe inzwischen verlassen haben (zum Design siehe Straus/ Sierwald 2015). In den Befragungen geht es um Aspekte der Betreuung, des Wohlergehens und der aktuellen Lebenssituation sowie um die Handlungsbefähigung. Die Stichprobe, die der vorliegenden Analyse zugrunde liegt, umfasst diejenigen Care-LeaverInnen, die während ihres stationären Aufenthalts mindestens einmal an einer Erhebung teilgenommen haben. Verwendet wurden jeweils die Daten aus der letzten Befragung im Rahmen der Betreuung und aus der ersten Befragung als Ehemalige (Erhebungsjahrgänge 2015, 2016 und 2018). Zwischen diesen beiden Zeitpunkten liegt der Auszug aus der SOS-Einrichtung. Bei der letzten Befragung während der Betreuung waren die Jugendlichen im Durchschnitt 16,8 Jahre alt; bei der ersten Erhebung als Ehemalige 19,7 Jahre. Der Auszug fand durchschnittlich im Alter von 17,6 Jahren statt. Die Stichprobe ist nachwachsend: Seit 2011 wurden über 1000 Jugendliche während der Betreuung befragt, häufig sogar mehrmals. 607 von ihnen sind bis zur Erhebung 2018 ausgezogen und damit zu Care-LeaverInnen geworden. Von diesen haben bisher 234 Personen mindestens einmal als Ehemalige an einer Befragung teilgenommen. Das sind 46 % derjenigen, die nach der Betreuung mindestens einmal erreicht werden konnten. Da es sich um eine trägergebundene Erhebung handelt, ist die Stichprobe nicht repräsentativ für die stationäre Kinder- und Jugendhilfe. Zudem muss von Prozessen der Selbstselektion hinsichtlich der Erreichbarkeit und des Antwortverhaltens ausgegangen werden. So nehmen häufiger Frauen (ca. zwei Drittel) an der Ehemaligenbefragung teil als Männer (ca. ein Drittel), während in den SOS-Einrichtungen annähernd gleich viele Jungen wie Mädchen stationär betreut werden. 491 uj 11+12 | 2019 Von der Heimeinrichtung in die Eigenständigkeit Instrumente und Methoden Das zentrale Konstrukt der SOS-Längsschnittstudie ist die Handlungsbefähigung, die mit den bewährten Subskalen Kohärenz (Singer/ Brähler 2007), Resilienz (Schumacher et al. 2005) und Selbstwirksamkeit (Schwarzer/ Jerusalem 1999) erfasst wird. Diese drei Skalen mit insgesamt 34 Items werden zu einer Gesamtskala zusammengeführt und auf Werte von 0 bis 100 standardisiert, wobei 0 den Skalentiefstwert und 100 den Skalenhöchstwert repräsentiert (Straus 2018). Für die Erfassung des Auszugserlebens wurden 11 Items entwickelt, die im Weiteren mit vier Faktorwerten (Mittelwert 0, Standardabweichung 1) dargestellt werden. 1. Begleitung - vor und nach dem Auszug wird eine gute fachliche Begleitung erlebt: ➤ Ich wurde im Kinderdorf gut auf den Auszug vorbereitet. ➤ Mit dem Jugendamt gab es ein Abschlussgespräch zur Hilfe und zu meinem weiteren Werdegang. ➤ Mit der Nachbetreuung durch das Kinderdorf bin ich zufrieden. 2. Beteiligung - die Entscheidung für den Zeitpunkt des Auszugs wird als selbstbestimmt erlebt: ➤ Ich habe mich vom Jugendamt unter Druck gesetzt gefühlt. ➤ Ich konnte mitentscheiden, wann ich aus dem Kinderdorf ausziehe. 3. Positives Erleben - der Auszug wird mit positiven Erfahrungen verknüpft: ➤ Ich wusste gut, was nach dem Auszug auf mich zukommt. ➤ Ich habe mich für den Schritt in die Selbstständigkeit bereit gefühlt. ➤ Der Zeitpunkt des Auszugs war für mich passend. 4. Negatives Erleben - die Zeit vor und nach dem Auszug wird mit Sorgen und Belastungen verbunden: ➤ Ich hatte vor dem Auszug viele Befürchtungen, wie es weitergeht. ➤ In der ersten Zeit nach dem Auszug habe ich mich mit der Selbstständigkeit sehr schwergetan. ➤ Der Auszug aus dem Kinderdorf war für mich ein harter Einschnitt. Damit bei allen Faktoren positive Werte für positive Erfahrungen stehen, wurde beim Aspekt „Negatives Erleben“ wie auch beim Item „Ich habe mich vom Jugendamt unter Druck gesetzt gefühlt“ die ursprüngliche Skalenausrichtung umgedreht. Ein hoher Wert drückt hier also aus, dass der Auszug mit wenig Belastungen und Sorgen verknüpft wird. Handlungsbefähigung - Stabilität und Veränderung Um zu untersuchen, wie sich die Handlungsbefähigung über den Auszug hinweg entwickelt, betrachten wir zunächst die durchschnittlichen Handlungsbefähigungswerte zu den beiden Erhebungszeitpunkten. Dabei zeigt sich, dass die Mittelwerte der Skala auf einem konstanten Niveau bleiben (siehe Abbildung 1): Vor dem Auszug haben die Care-LeaverInnen einen durchschnittlichen Handlungsbefähigungswert von ca. 60,7 Punkten, danach liegt er bei 61,7 Punkten. Dabei zeigen die Werte jeweils eine breite Streuung zwischen 26 und 95 Punkten; 25 % der Werte liegen unter 53 Punkten und 25 % der Werte über 69 Punkten. Die stabilen Mittelwerte deuten darauf hin, dass sich die Handlungsbefähigung insgesamt durch den Übergang nicht verändert. Allerdings wird bei diesem zusammenfassenden Blick nicht erkennbar, ob sich auf der individuellen Ebene verschiedene Entwicklungsmuster 492 uj 11+12 | 2019 Von der Heimeinrichtung in die Eigenständigkeit zeigen. Das Längsschnittdesign der Studie ermöglicht es, solchen individuellen Veränderungen der Handlungsbefähigung nachzugehen. Da sich die unterschiedlichen Handlungsbefähigungswerte nach dem Auszug nur zu 22,8 % durch die Werte vor dem Auszug erklären lassen (R = 0,48, p < 0,1 %), werden sie im Folgenden näher untersucht. Dazu teilen wir die Befragten hinsichtlich der Veränderung ihrer Handlungsbefähigungswerte in vier gleich große Gruppen ein (siehe Abbildung 1). Die 25 % mit der stärksten positiven Veränderung bilden die Gruppe Verbesserung. Vor dem Auszug hat diese Gruppe im Mittel einen Handlungsbefähigungswert von 52,5, danach liegt er bei etwa 71,0. In der Gruppe Verminderung sinken die durchschnittlichen Handlungsbefähigungswerte im Verlauf des Übergangs von 69,5 auf 53,6 Punkte. Die Gruppe Verbesserung und die Gruppe Verminderung tauschen also nahezu ihre Niveaus. Die verbleibenden Personen weisen hingegen relativ geringe Veränderungen in ihren Handlungsbefähigungswerten auf. Sie wurden nach ihrem mittleren Niveau in zwei weitere Gruppen aufgeteilt, von denen jede wiederum etwa 25 % der Stichprobe umfasst. Die Gruppe Stabil gering hat vor dem Auszug einen Handlungsbefähigungswert von 52,7 und danach von 53,2 Punkten. Die Handlungsbefähigung der Gruppe Stabil hoch liegt zunächst bei 68,9 und danach bei 70,3 Punkten. Anhand der vier Gruppen wird deutlich, dass sich die Handlungsbefähigung auf individueller Ebene unterschiedlich entwickelt, auch wenn die Mittelwerte in der Gesamtgruppe vor und nach dem Auszug nahezu gleich bleiben. 80 75 70 65 60 55 50 45 40 Handlungsbefähigung (0 bis 100) Verminderung (n = 51) Stabil gering (n = 56) Stabil hoch (n = 45) Verbesserung (n = 53) Gesamt (n = 205) vorher Auszug nachher Abb. 1: Mittelwerte der Handlungsbefähigung vor und nach dem Auszug in der Gesamtgruppe sowie getrennt nach Veränderungsgruppen (Quelle: Ehemaligenbefragung der SOS-Längsschnittstudie; letzte Erhebung vor und erste Erhebung nach dem Auszug; Jahrgang 2015, 2016 und 2018; eigene Berechnungen) 493 uj 11+12 | 2019 Von der Heimeinrichtung in die Eigenständigkeit Das Auszugserleben und die Veränderung von Handlungsbefähigung Welche Rolle spielt nun das Auszugserleben in Bezug auf die Entwicklung der Handlungsbefähigung? Um dieser Frage nachzugehen, nehmen wir die oben skizzierten Veränderungsgruppen nochmals in den Blick und untersuchen, wie innerhalb dieser Gruppen der Auszug aus der Heimeinrichtung beurteilt wird. Dazu betrachten wir die Faktorwerte zu den vier Aspekten des Übergangserlebens. Abbildung 2 veranschaulicht die Mittelwertunterschiede in den Faktorwerten je nach Veränderungsgruppe. Von allen Gruppen hat die Verminderungsgruppe beim Auszug am wenigsten institutionelle Begleitung erlebt. Gleichzeitig wurden die betreffenden Care-LeaverInnen überdurchschnittlich viel beteiligt. Den Auszug bewerten sie tendenziell etwas seltener positiv als der Durchschnitt; mit ihren negativen Erfahrungen liegen sie genau im Mittel. Die Gruppe mit den stabil geringen Handlungsbefähigungswerten erlebt alle Aspekte des Übergangs deutlich negativer als die anderen. Im Vergleich zur vorher beschriebenen Gruppe geben die Ehemaligen aus dieser Gruppe allerdings seltener an, keine fachliche Begleitung gehabt zu haben. Verminderung Stabil gering Stabil hoch Verbesserung Subj. Bewertung negativ (umgepolt) Subj. Bewertung positiv Beteiligung Begleitung 0,00 -0,07 0,11 0,19 0,00 0,27 0,24 0,36 0,10 0,14 -0,23 -0,31 -0,43 -0,24 -0,14 -0,01 -0,50 -0,25 0,00 0,25 0,50 Abb. 2: Auszugserleben je nach Veränderungsgruppe (Quelle: Ehemaligenbefragung der SOS-Längsschnittstudie; letzte Erhebung vor und erste Erhebung nach Auszug; Jahrgang 2015, 2016 und 2018; eigene Berechnungen) Anmerkungen: Die Nulllinie stellt die mittlere Bewertung des Auszugs der gesamten Stichprobe dar. Die Unterschiede zwischen den Gruppen (Multivariate Varianzanalyse) sind auf dem 1 %-Niveau signifikant. 494 uj 11+12 | 2019 Von der Heimeinrichtung in die Eigenständigkeit Am häufigsten spricht die Gruppe mit den stabil hohen Handlungsbefähigungswerten von einer guten Begleitung durch die Einrichtung. Diese Care-LeaverInnen verknüpfen den Auszug eher selten mit negativen Erfahrungen. Die Angaben zur Beteiligung und die positiven Bewertungen unterscheiden sich kaum vom Durchschnittswert. Das insgesamt positivste Bild ergibt sich bei denjenigen, deren Handlungsbefähigung sich verbessert. Sie sehen den Übergang deutlich positiver und verbinden ihn seltener mit Belastungen als andere. Außerdem ist die Beteiligung ähnlich hoch wie in der Gruppe Verminderung. Zugleich fand vor und nach dem Auszug eine gute fachliche Begleitung statt. Resümee und Interpretation Die Annahme, dass sich mit dem Übergang die Handlungsbefähigung insgesamt verändert, bestätigt sich nicht in der Gesamtbetrachtung aller Befragten. Erst durch die Fokussierung auf die individuelle Entwicklung der Handlungsbefähigung werden Dynamiken erkennbar, die sich anhand von vier Gruppen beschreiben lassen. Bei zwei dieser Gruppen bleibt der Handlungsbefähigungswert konstant (Gruppe Stabil gering, Gruppe Stabil hoch), bei den anderen beiden Gruppen verändert er sich (Gruppe Verminderung, Gruppe Verbesserung). Die vier Gruppen unterscheiden sich deutlich im Hinblick auf das Auszugserleben. Besonders interessant sind dabei die Unterschiede zwischen denjenigen Personen, die jeweils mit einem gleich hohen bzw. gleich niedrigen Handlungsbefähigungswert gestartet sind. Die Gruppe mit der stabil geringen Handlungsbefähigung hat den Übergang insgesamt am negativsten erlebt. Die betreffenden Care- LeaverInnen haben wenig Unterstützung und Selbstbestimmung erfahren, fühlten sich alleingelassen und zum Auszug gedrängt. Mit dem Übergang verbinden sie kaum Positives, dafür aber viele Sorgen und Belastungen. Bereits im Vorfeld hatten sie wenig Zuversicht, neue Situationen gut bewältigen zu können. Dies bestätigt sich für sie auch im Übergang. Die Verbesserungsgruppe, die anfangs über ähnlich geringe Handlungsbefähigungswerte verfügte, berichtet von ganz anderen Erfahrungen. Hier haben sich die Befragten gut begleitet und beteiligt gefühlt; im Nachhinein betrachtet waren sie bereit für den Übergang und verbinden ihn mit wenig negativen Erfahrungen. Diese Gruppe kann den Übergang offensichtlich als Erfolg für sich wahrnehmen und dadurch eine deutliche Stärkung ihrer Handlungsbefähigung verzeichnen. Bei den beiden Gruppen, die mit hohen Werten gestartet sind, zeigt sich ein differenzierteres Bild in den einzelnen Aspekten des Auszugserlebens. Am größten sind die Unterschiede in Bezug auf die fachliche Begleitung: Diese wird von den Personen mit stabil hoher Handlungsbefähigung am besten, von den Befragten aus der Verminderungsgruppe am schlechtesten eingeschätzt. Bei Letzterer kommt eine relativ hohe Beteiligung hinzu, während diese bei der stabil hohen Gruppe im Mittel liegt. Außerdem ist der Auszug bei der Verminderungsgruppe mit Befürchtungen und Sorgen verknüpft, während die Ehemaligen mit stabil hoher Handlungsbefähigung den Auszug positiv bewerten. Die überdurchschnittliche Beteiligung in Kombination mit der geringen Begleitung legt den Schluss nahe, dass sich die Verminderungsgruppe während des Übergangs alleingelassen fühlte und mit dem Auszug tendenziell überfordert war. Folgerungen für den Leaving-Care-Prozess Die Ergebnisse bestätigen die besondere Bedeutung der fachlichen Begleitung vor, während und nach dem Auszug. Wenn die Jugendlichen 495 uj 11+12 | 2019 Von der Heimeinrichtung in die Eigenständigkeit im Übergang Menschen an ihrer Seite wissen, von denen sie sich ernst genommen, wertgeschätzt und unterstützt fühlen, fällt es ihnen leichter, den Weg in die Eigenständigkeit zuversichtlich zu gehen. Durch eine gute Vorbereitung auf den Auszug lassen sich Ängste und Unsicherheiten bereits im Vorfeld bearbeiten. So können die Heranwachsenden etwa im Verselbstständigungswohnen schon einmal das Leben im eigenen Haushalt erproben. Mindestens ebenso wichtig ist aber auch eine zuverlässige Nachbetreuung: Hier gilt es, den meist fehlenden Rückhalt aus der Herkunftsfamilie zumindest teilweise auszugleichen und den jungen Menschen eine verlässliche Anlaufstelle zu bieten, wo sie in finanziellen, bürokratischen oder persönlichen Fragen wie auch in Krisen Unterstützung finden, bis sich ihre Lebenssituation stabilisiert hat. Und nicht zuletzt sollten Care-LeaverInnen (beispielsweise im Rahmen von Ehemaligentreffen) dazu ermuntert werden, sich untereinander zu vernetzen und auszutauschen. Die Beteiligung spielt hinsichtlich der Veränderung von Handlungsbefähigung vor allem im Wechselspiel mit der fachlichen Begleitung eine Rolle. Wenn Care-LeaverInnen mit geringen personalen Ressourcen weder das Gefühl haben, den Zeitpunkt des Auszugs beeinflussen zu können, noch eine gute Begleitung erleben, kann der Übergang für sie zu einer kaum zu bewältigenden Herausforderung werden, die ihr eher negatives Selbstbild noch weiter verstärkt. Diejenigen, bei denen Beteiligung und eine auf ihre Person bzw. ihren Bedarf abgestimmte Begleitung zusammenkommen, verknüpfen den Auszug hingegen mit positiven Erfahrungen. Indem sie sich im Übergang als selbstbestimmt und wenig belastet wahrnehmen, können sie ihre Handlungsbefähigung weiterentwickeln. Unsere Ergebnisse zeigen aber auch, dass die Anforderung, über den Zeitpunkt des Auszugs selbst zu entscheiden, mit einer Verminderung der Handlungsbefähigung verbunden sein kann, wenn sie fachlich nicht adäquat begleitet wird. Nicht zuletzt sollten Care-LeaverInnen dabei unterstützt werden, ihren Auszug aus der Jugendhilfeeinrichtung trotz aller Herausforderungen für sich positiv zu bewerten. Wenn es gelingt, Ängste und Sorgen im Vorfeld zu reduzieren und den Übergang so zu gestalten, dass er gut bewältigt werden kann, verfügen die jungen Menschen über eine wichtige Grundlage, um auch künftigen Herausforderungen zuversichtlich zu begegnen. Gerade für diejenigen, deren Handlungsbefähigung sich auf einem eher niedrigen Niveau bewegt, wäre es hilfreich, den Auszug Schritt für Schritt vollziehen zu können. Dies böte ihnen die Chance, sich Erfolge und positive Erfahrungen immer wieder bewusst zu machen und so Prozesse der negativen Selbstbestätigung zu durchbrechen. Die in diesem Beitrag dargestellten Zusammenhänge zwischen dem Auszugserleben und der Entwicklung der Handlungsbefähigung helfen dabei, den Prozess des Übergangs von der Heimeinrichtung in die Eigenständigkeit immer besser zu verstehen. Damit die jungen Menschen im Erwachsenenleben Fuß fassen können, muss für sie während des gesamten Leaving-Care-Prozesses eine bedarfsgerechte Begleitung gewährleistet sein, die sie selbstbestimmt wahrnehmen können. Dafür gilt es, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen und abzusichern. Im Rahmen der SOS-Längsschnittstudie werden wir weiter verfolgen, ob sich die beobachteten Entwicklungen auch über eine längere Zeit hinweg bestätigen, welche externen und personalen Faktoren dazu beitragen und wie gut es den Care- LeaverInnen letztlich gelingt, ein eigenständiges Leben nach ihren Vorstellungen zu führen. Dr. Christina Klug Dr. Wolfgang Sierwald SOS-Kinderdorf e.V. Sozialpädagogisches Institut Renatastr. 77 80639 München E-Mail: info.spi@sos-kinderdorf.de Tel.: (0 89) 1 26 06-4 61 496 uj 11+12 | 2019 Von der Heimeinrichtung in die Eigenständigkeit Literatur Antonovsky, A. (1997): Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. dgvt-Verlag, Tübingen Bandura, A. (1977): Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavioral change. Psychological Review 2, 191 - 215, https: / / doi.org/ 10.1037/ / 0033-295x.84.2. 191 Dixon, J. (2008): Young people leaving care: health, well-being and outcomes. Child & Family Social Work 13, 207 - 217, https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1365-2206.20 07.00538.x Eurostat (2018): Living conditions in Europe. In: https: / / ec.europa.eu/ eurostat/ documents/ 3217494/ 9079 352/ KS-DZ-18-001-EN-N.pdf, 18. 7. 2019 Grundmann, M. (2008): Handlungsbefähigung - eine sozialisationstheoretische Perspektive. In: Otto, H.-U., Ziegler,H. 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