unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art03d
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Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen
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Ute Schaich
Psychische Erkrankungen von Eltern betreffen die ganze Familie, und das z.T. über Generationen. Sie stellen einen bedeutsamen Risikofaktor für die kindliche Entwicklung dar. Um negative Auswirkungen auf die Kinder zu vermeiden oder abzumildern, brauchen wir Kenntnisse darüber, welche Probleme auftreten können und welche Unterstützungsmöglichkeiten wirksam sind.
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12 unsere jugend, 71. Jg., S. 12 - 19 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art03d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen Ausgangslage, Entwicklungsbedingungen und professionelle Hilfen Psychische Erkrankungen von Eltern betreffen die ganze Familie, und das z. T. über Generationen. Sie stellen einen bedeutsamen Risikofaktor für die kindliche Entwicklung dar. Um negative Auswirkungen auf die Kinder zu vermeiden oder abzumildern, brauchen wir Kenntnisse darüber, welche Probleme auftreten können und welche Unterstützungsmöglichkeiten wirksam sind. von Prof. Dr. Ute Schaich Jg. 1961; Diplom-Pädagogin, Professorin an der Frankfurt University of Applied Sciences Ausgangslage Ausgehend von Erhebungen des Robert Koch Instituts im Rahmen des Deutschen Gesundheitssurveys (2008 - 2011) sind jährlich etwa 30 % der Erwachsenen von einer psychischen Störung betroffen (Mattejat 2014, 69). Die häufigsten Störungen sind Angststörungen (14,5 %), affektive Störungen - insbesondere Depressionen (11,9 %), somatoforme Störungen, d. h. körperliche Beschwerden ohne explizite organische Ursachen (11,0 %), Sucht- und Abhängigkeitsstörungen (4,5 %) und psychotische Störungen, also Störungen, bei denen die Betroffenen zumindest zeitweise den Bezug zur Realität verlieren (2,6 %) (Lenz/ Brockmann 2013, 14ff ). Da psychisch kranke Menschen im Durchschnitt genauso häufig Eltern werden wie psychisch gesunde, wird geschätzt, dass im Verlauf eines Jahres rund drei Millionen Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil aufwachsen (Mattejat 2014, 75). Verlässliche Daten liegen nicht vor. Nach Lenz/ Wiegand-Grefe (2017, 1) haben etwa ein Drittel aller stationären psychiatrischen Patienten minderjährige Kinder. Rund 70 % leben mit ihnen zusammen oder haben Kontakt zu ihnen (ebd., 2). Lenz/ Brockmann (2013, 22) verweisen auf Studien, wonach bei Kindern psychisch kranker Eltern ein deutlich höheres Erkrankungsrisiko vorliegt als bei Kindern von psychisch gesunden Eltern. Das allgemeine Erkrankungsrisiko, d. h. das Risiko, irgendeine psychische Störung zu entwickeln, wird bei Kindern betroffener Eltern mit bis zu 60 % angegeben und ist damit verhältnismäßig hoch. Das spezifische Erkrankungsrisiko, also die Gefahr, dieselbe psychische Störung zu entwickeln wie der Elternteil, liegt bei 10 %. Es ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung merklich vergrößert, absolut betrachtet gering (Mattejat 2014, 79; Lenz/ Brockmann 2013, 22f ). 13 uj 1 | 2019 Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen Erleben der Situation Auszug aus dem Bericht einer Jugendlichen: „Ich bin damit eigentlich aufgewachsen, ich habe es nie wirklich gemerkt, gewusst. Ich habe nur gemerkt, dass sie immer sehr schnell reizbar ist oder sehr empfindlich, ich habe es allerdings als normal angesehen - bis es zu manchen Situationen kam. Ich kam nach Hause und eine Scheibe in der Tür war zerschlagen oder ich wachte nachts auf wegen eines Streits meiner Mutter und ihrem Freund. Mir wurde immer erzählt, dass die Tür vom Wind zugeschlagen wurde, ich habe es nie wirklich geglaubt. Bis ich dann erfahren habe, dass sie die Scheibe zerschlagen hat. Es war ein Schock für mich, so kannte ich meine Mutter gar nicht. Es kamen immer mehr Geschichten und Ausraster von ihr, und ich war die, die sich alles angehört hat. Eigentlich war ich dann die Erwachsene und stand ihr bei. Doch dann kam es so schlimm, dass sie in die Psychiatrie eingewiesen wurde … Ich war natürlich auch in der Aufnahme dabei, wir saßen vier Stunden dort … und hatte dann auch ein Gespräch mit dem Arzt und der hat mir gesagt, dass sie manisch-depressiv ist.“ (Plass/ Wiegand-Grefe 2012, 15f ) Auszug aus dem Bericht der Mutter: „Schon damals, wenn es mir richtig schlecht ging, hat meine Tochter sich sorgend um mich gekümmert, mir Essen gemacht, mich getröstet. Sie war direkt mit dem Thema konfrontiert und das Verhältnis Mutter - Kind war zunehmend vertauscht. Mit der Folge, dass sie das Erlebte nicht verarbeiten konnte und sicherlich auch deshalb anfing, sich selbst zu verletzen.“ (ebd., 17) Dieses Beispiel vorangestellt, werden die von den Kindern subjektiv erlebten Belastungen ausgeführt. ➤ Elterliche Erkrankung: Das Belastungserleben der Kinder ist durch Symptome der elterlichen Krankheit geprägt wie Rückzugsverhalten, Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Grübeln, Vernachlässigung der Alltagsaufgaben, eventuell auch Suizidalität bei depressiven Erkrankungen sowie Misstrauen, Verwirrung, Wahnerleben bei psychotischen Störungen (Plass/ Wiegand-Grefe 2012, 23). Für Kinder ist es schwer, die Anzeichen zu verstehen und einzuordnen. Klinikeinweisungen des Elternteils können sowohl als belastend als auch als entlastend erlebt werden (Lenz/ Wiegand- Grefe 2017, 5). ➤ Wissen über die Krankheit: Erwachsene Kinder geben in retrospektiven Studien an, dass ihnen häufig eine angemessene Aufklärung durch Fachpersonen fehlte, während eine Informationsvermittlung, die alters- und entwicklungsangemessen ist, von den Kindern als angstmildernd erlebt wird (ebd., 24f ). ➤ Tabuisierung, Isolierung und Kommunikationsverbot: Manche Eltern vermeiden es aufgrund falsch verstandener Rücksichtnahme bzw. aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen, mit den Kindern über die Erkrankung oder die damit verbundene Behandlung oder ihre eigenen Gefühle zu sprechen (ebd., 25f ). Bei den Kindern entstehen Gefühle des Alleingelassenseins, wenn sie nicht wissen, an wen sie sich mit ihren Fragen und Ängsten wenden können (Mattejat 2014, 88). ➤ Fehlende soziale Unterstützung: Es besteht eine Wechselwirkung zwischen der Tabuisierung der Erkrankung und der Möglichkeit, nach außerfamiliärer Hilfe zu fragen, wenn der Elternteil z. B. in die Klinik muss oder mit der Erziehung überfordert ist (Plass/ Wiegand-Grefe 2012, 27). ➤ Familienalltag: Belastungen entstehen, wenn in Krisensituationen Alltagsstrukturen (Aufstehen, Essenszubereitung etc.) beeinträchtigt werden (Plass/ Wiegand-Grefe 2012, 27). 14 uj 1 | 2019 Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen ➤ Parentifizierung: In den meisten Familien mit psychisch krankem Elternteil sind parentifizierende Rollenumkehrungen zu beobachten, d. h. dass die Kinder Eltern- oder Partnerfunktionen übernehmen (Lenz/ Wiegand-Grefe 2017, 8). Die Übernahme von familiären Aufgaben durch die Kinder kann stärkend wirken, wenn ihre Bedürfnisse berücksichtigt und ihre Leistungen gewürdigt werden. Kennzeichnend für Parentifizierungsprozesse ist die destruktive Erfahrung, dass das Kind seine Bedürfnisse den Erwachsenenbedürfnissen unterordnet und gleichzeitig den Wünschen und Erwartungen der Eltern nicht genügen kann (Lenz/ Wiegand-Grefe 2017, 8). ➤ Gefühle der Kinder: Belastende Gefühle der Kinder im Zusammenhang mit der elterlichen Erkrankung können Ängste, Verlustgefühle, Schuld, Scham, Trauer, Wut, Frustration sein (ebd., 9). Für Eltern stellt die Angst vor einer „Vererbung“ der Krankheit und die Sorge um die kindliche Entwicklung einen Belastungsfaktor dar (Lenz/ Brockmann 2013, 47). Risikofaktoren Anlage und Umwelt Nach Mattejat (2014, 80) ist der Erbfaktor bei den einzelnen Störungsbildern unterschiedlich, bei der Mehrzahl liegt er bei über 50 %. Die Beziehung zwischen Anlage und Umwelt ist aber nicht additiv, sondern ko-aktiv. Vererbt wird die Vulnerabiliät für eine psychische Störung. Ob jemand eine Erkrankung entwickelt oder nicht, hängt wesentlich von den Umweltbedingungen und dem Umgang mit Belastungen ab (ebd., 83). Kindbezogene Faktoren In ihrem Überblick über kindbezogene Risikofaktoren nennen Plass und Wiegand-Grefe (2012, 42f ) u. a. mögliche prä-, peri- und postnatale Komplikationen wie z. B. Drogen- und Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft oder frühe Trennungen, die wegen stationärer Aufenthalte der Bezugsperson notwendig werden. Das Alter ist bedeutsam, denn je jünger das Kind bei der Erstmanifestation der Erkrankung der Eltern ist, desto höher sind die Wirkungen auf deren Beziehungs- und Erziehungskompetenz einzuschätzen. Auch das Geschlecht spielt eine Rolle. Während Jungen in der Kindheit anfälliger für Risikobelastungen sind und zu externalisierenden Störungen neigen, tendieren Mädchen eher zu internalisierenden Störungen und gelten in der Pubertät als gefährdeter. Temperamentsfaktoren des Kindes (u. a. Stimmungslage, Ablenkbarkeit, Anpassungsfähigkeit) beeinflussen die Eltern- Kind-Beziehung und die Bindungssicherheit des Kindes. Kinder mit einem zeitweise schwierigen Temperament sind unruhiger und unausgeglichener. Sie rufen weniger leicht positive Aufmerksamkeit hervor, sondern werden eher als Auslöser für Gereiztheit und Ablehnung empfunden (ebd.). Risikofaktoren der Eltern Dem Überblick von Lenz und Wiegand-Grefe (2017, 11ff ) folgend, lassen sich eine Reihe von Risikofaktoren seitens der Eltern differenzieren. Dazu gehört der Zusammenhang zwischen der Art der elterlichen Erkrankung und den Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung, zu dem es aber keine eindeutige Befundlage gibt. Ein hohes Risiko wird übereinstimmend bei Eltern mit Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen sowie mit komorbiden Störungen angegeben (ebd., 11). Eltern mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung z. B. wurden in ihrer Kindheit selbst durch Deprivation, Misshandlung oder Missbrauch traumatisiert. In Interaktion mit ihrem Säugling oder Kleinkind können diese Traumatisierungen als dissoziative Zustände, Flashbacks oder Impulsdurchbrüche reaktiviert werden, sodass das 15 uj 1 | 2019 Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen Kind mit hohen Stimmungsschwankungen und mit angstauslösendem Verhalten konfrontiert wird. Ebenso nehmen einigen Studien zufolge Schweregrad und Chronizität der elterlichen Erkrankung Einfluss auf das Störungsrisiko des Kindes. Je intensiver es in die psychische Symptomatik einbezogen wird (z. B. durch zeitweise feindselige Verhaltensweisen), desto stärker sind die Auswirkungen (Lenz/ Wiegand-Grefe 2017, 12). Auch das subjektive Erleben der Krankheit zeigt Auswirkungen auf die psychische Gesundheit des Kindes. Je stärker die Eltern ihre Belastung empfinden, desto höher sind die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit des Kindes. Darüber hinaus wird die Art der Krankheitsverarbeitung als bedeutsam angeführt. Tabuisierung und Verleugnung stellen einen Risikofaktor für die emotionale Befindlichkeit des Kindes dar (ebd.). Als weiteres Moment werden Beeinträchtigungen der elterlichen Kompetenz beschrieben, stabile Bindungsbeziehungen herzustellen, wenn das kommunikative Repertoire aufgrund der Erkrankung eingeschränkt ist: In Form von mangelnder Responsivität, geringer emotionaler Beteiligung und vermehrt negativen Gefühlen (ebd., 12f, 94f ). Die Signale des Kleinkindes werden nicht oder verzögert wahrgenommen und nicht kontingent beantwortet (Unterstimulation). Oder es wird versucht, das Kind übermäßig stark zu Reaktionen herauszufordern, ohne dass dabei seine Bedürfnisse berücksichtigt werden (Überstimulation). Ebenso können beide Interaktionsmuster wechseln. Die Kinder reagieren mit der Zeit mit Rückzug, Passivität, Protest, angstvoller Erstarrung. In Folge kommt es gehäuft zu hochunsicheren oder desorganisierten Bindungsmustern. Auch für die spätere Eltern-Kind-Beziehung werden krankheitsbedingte Beeinträchtigungen in Form von feindseligem und mangelnd responsivem Verhalten beschrieben. Die Voraussetzungen für eine zuverlässige emotionale Beziehung sind dadurch erschwert. Angeführt werden überdies häufig auftretende Eheprobleme, die nicht nur die Eltern, sondern auch das Kind belasten sowie Unsicherheiten im Erziehungsverhalten der Eltern wie Inkonsequenz, widersprüchliches Verhalten, unangemessene Disziplinierungsmaßnahmen (ebd., 13). Jedoch sollten keine einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge hergestellt werden, da die Auswirkungen einer psychischen Erkrankung komplex sind und sich gegenseitig verstärken (Mattejat 2014, 86). Die Auswirkungen des Elternverhaltens auf die Eltern- Kind-Beziehung können sich je nach Art der Erkrankung unterscheiden. Gemeinsam ist „eine Tendenz zur Vernachlässigung mit weniger Wärme und Kontrolle“ im Zusammenhang mit einer hohen Konzentration auf das eigene Befinden, insbesondere in Krisensituationen (NZFH 2016, 5). Soziale Faktoren und Kindeswohlgefährdung Das Merkmal elterliche psychische Erkrankung steht in Wechselwirkung mit sozialen Faktoren wie niedriger sozioökonomischer Status und Armut, Arbeitslosigkeit, unzureichende Wohnverhältnisse, soziale Isolation, fehlende oder geringe außerfamiliäre Unterstützungssysteme, wenige oder keine Bezugspersonen außerhalb der Familie (Lenz/ Wiegand-Grefe 2017, 15f; Mattejat 2014, 84f ). Es besteht kein direkter Zusammenhang zwischen Kindeswohlgefährdung und dem Vorliegen einer psychischen Erkrankung eines Elternteils. D. h. die elterliche Erkrankung an sich stellt kein hinreichendes Gefährdungsmoment dar. Das Risiko ist aber größer, wenn verschiedene Belastungsfaktoren kumulieren, wie es in Familien mit Eltern mit psychischen Erkrankungen häufig der Fall ist (Lenz/ Wiegand-Grefe 2017, 19ff ). Ob vom Verhalten der Eltern schädigende Wirkungen auf die körperliche, geistige und seelische Entwicklung des Kindes ausgehen, muss jeweils fachlich bewertet werden. 16 uj 1 | 2019 Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen Auf der Grundlage des § 8 a SGB VIII haben das Jugendamt und die Dienste der Kinder- und Jugendhilfe die Pflicht, eine Gefährdungseinschätzung vorzunehmen, wenn gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen. Falls es nicht gelingt, dass die Eltern Hilfen zur Sicherstellung des Kindeswohls in Anspruch nehmen, ist das Jugendamt verpflichtet, das Familiengericht anzurufen. Die Übersicht über die kindbezogenen, elterlichen und sozialen Risikofaktoren zeigt, dass die Kinder häufig mit multiplen und konstanten Belastungen konfrontiert werden. Mögliche Folgen sind die Entwicklung von körperlichen Erkrankungen, Verhaltensproblemen oder kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen (NZFH 2016, 5). Doch entwickeln nicht alle Kinder psychisch kranker Eltern Verhaltensauffälligkeiten. Resilienz und Bewältigung In der Resilienzforschung wird gefragt, welche Ressourcen Kinder haben, die sich trotz bestehender Belastungen psychisch gesund entwickeln. Ebenso wie bei den Risikofaktoren der kindlichen Entwicklung gibt es auch bei den Schutzfaktoren persönliche, familiäre und soziale Aspekte. Spezifische Schutzfaktoren für Kinder psychisch kranker Eltern sind (Lenz/ Wiegand-Grefe 2017, 36ff ): ➤ Beziehungsqualität: Ein positives Familienklima und eine emotional sichere Bindung zu mindestens einer Bezugsperson, außerdem das Vorhandensein und die Nutzung sozialer Unterstützung durch Personen außerhalb der engeren Familie (Verwandte, Lehrer, Erzieher, Freunde). Protektiv wirken zudem anregende und unterstützende Freundschaftsbeziehungen, positive Erfahrungen in Kita und Schule, Integration in Gruppen und Vereine. ➤ Krankheitsbewältigung: Offener und aktiver Umgang mit der Krankheit in der Familie, Organisation des täglichen Lebens und des Haushalts, Nutzung von Hilfe aus dem sozialen Netzwerk sowie Inanspruchnahme professioneller Hilfe. ➤ Krankheitswissen und -verstehen: Angemessene Aufklärung des Kindes, anknüpfend an seine Fragen und Sorgen, um ein Verständnis für die elterlichen Verhaltensweisen, die Auswirkungen der Krankheit auf die Familie und die Alltagsbelastungen herzustellen. ➤ Umgang mit der Krankheit in der Familie: Insbesondere eine realistische Krankheitseinsicht des betroffenen Elternteils und der Partnerin oder des Partners, d. h. weder Verleugnung noch Überbewertung. Schröder-Korf et al. (2013, 104f ) filterten in einer qualitativen Analyse familientherapeutischer Gespräche fünf unterschiedliche Typen von kindlichen Bewältigungsstrategien heraus: ➤ Extrovertiert: Die Kinder handeln willensstark und impulsiv. Sie setzen (rücksichtslos) eigene Bedürfnisse durch und fordern viel Aufmerksamkeit ein. ➤ Parentifiziert: Die Kinder übernehmen die Verantwortung für das Familienklima, nehmen die Elternrolle ein und stellen eigene Bedürfnisse zurück. Sie versuchen, Streit zu schlichten und Eskalationen zu verhindern. Jedoch sind sie mit der Situation überfordert und hilflos. Sie nehmen viel Rücksicht auf andere und äußern Selbstvorwürfe. ➤ Unsichtbar: Die Kinder sind passiv und kennen ihre Bedürfnisse nicht. Sie verhalten sich sehr angepasst und werden leicht übersehen. ➤ Abtauchend: Kennzeichen sind Flucht vor der Realität durch Erschaffung einer Parallelwelt, Vermeidung von Situationen der Hilflosigkeit, wenig Kommunikationsfähigkeit und aggressive Konfliktbewältigung. 17 uj 1 | 2019 Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen ➤ Dem Leben zugewandt: Die Kinder verfügen über ein starkes Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit sowie über kognitive Problemlösungsstrategien. Sie sind in der Lage, sich von der elterlichen Erkrankung zu distanzieren und für sich zu sorgen, dabei aber die Familie im Blick zu behalten. Die Perspektive für die Zukunft ist positiv. Als resilient wurde der Typ Dem Leben Zugewandt identifiziert: „Der Blick auf diese positiv bewältigende Gruppierung zeigt auf, dass eine frühe Stärkung der Kinder, eine altersgemäße Information über die elterliche Erkrankung, eine Enttabuisierung, eine Verbesserung der familiären Krankheitsbewältigung sowie eine Verbesserung der Paar- und Familiendynamik und der innerfamiliären und außerfamiliären Kommunikation wichtig sind“ (ebd., 122). Professionelle Hilfen Kinder psychisch kranker Mütter haben ein hohes Risiko, hochunsichere oder desorganisierte Bindungsmuster und Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln. Die Beobachtung und Einschätzung von frühen Eltern-Kind-Interaktionen liefert einen wichtigen Beitrag zur Prävention, sei es bei (Familien-)Hebammen, in Frühförderstellen, Kinderkrippen, Familienberatung oder Familienbildung. Als Basis kann die „Skala elterlicher Feinfühligkeit“ dienen. In ihr wird das Verhalten der Bezugsperson in einer Art Ampelsystem einem Bereich der elterlichen Feinfühligkeit (sehr feinfühlig, feinfühlig, wenig feinfühlig, überhaupt nicht feinfühlig) zugeordnet. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen können frühzeitig Unterstützungsmaßnahmen eingeleitet werden (Ziegenhain et al. 2010). Der Schwerpunkt zur Förderung von elterlichen Beziehungs- und Erziehungskompetenzen im Altersbereich null bis drei Jahre liegt auf bindungsbasierten Programmen, wie z. B. STEEP. Sie können als Bestandteil eines komplexeren Hilfenetzes dienen (NZFH 2016, 13). Verfolgt wird das Ziel, durch videogestützte Förderung die Feinfühligkeit und intuitive Elternkompetenz zu unterstützen. Multimodale Interventionen kombinieren bindungsbezogene Interventionen mit der Auseinandersetzung mit elterlichen Rollenbildern, der Identifizierung persönlicher Stressfaktoren und dem Erstellen eines Krisenplans der Stressbewältigung. Sie werden meist im klinischen Kontext durchgeführt (Lenz/ Wiegand-Grefe 2017, 95ff ). Beispiele für spezifische multimodale Interventionsprogramme sind der „Kreis der Sicherheit“ zur Förderung frühkindlicher Bindungssicherheit bei postpartaler psychischer Erkrankung der Mutter (nach Ramsauer) oder das interaktionale Therapieprogramm für Mütter mit postpartalen Störungen (nach Wortmann-Fleischer). Für Kinder über drei Jahre bis ins junge Erwachsenenalter ist beispielhaft der familienorientierte präventive Ansatz CHIMPs anzuführen (ebd., 123ff ). Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII haben die Eltern einen rechtlichen Anspruch auf Hilfe und Unterstützung, „wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig erscheint“. Vielfach brauchen Eltern aktive Ermutigung, um sich mit der Bitte um Unterstützung an das Jugendamt zu wenden. Bei Kindern im Vorschul- und Grundschulalter wird dann z. B. der Einsatz von sozialpädagogischer Familienhilfe erwogen. Einen niedrigschwelligen Zugang bieten Erziehungsberatungsstellen zur Hilfe in Erziehungsfragen und zur Einzel- und Gruppenarbeit mit dem Kind (Lenz/ Brockmann 2013). In manchen Städten gibt es auch spezifische Beratungsstellen und Präventionsprojekte für Familien mit psychisch krankem Elternteil. Die Hilfen sollten sich an folgenden Zielen ausrichten (Mattejat 2014, 90; Lenz/ Brockmann 2013, 126ff ): 18 uj 1 | 2019 Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen ➤ Therapeutische bzw. psychiatrische Behandlung des Elternteils ➤ Hilfen bei der Gestaltung der Familienbeziehungen, der Erziehung des Kindes und der Stärkung seiner gefühlsmäßigen Sicherheit ➤ Entlastung im Alltag (Haushalt, Kinderbetreuung, Freizeitgestaltung und schulische Unterstützung der Kinder) ➤ Miteinbezug des Kindes in die Behandlung (Familiengespräche, Einzelgespräche, gemeinsame stationäre Aufnahme von Elternteil und Kind) ➤ Entwicklungsförderung für das Kind (Frühdiagnostik und -förderung, Kinderpsychotherapie, themenbezogene Gruppen und Projekte) ➤ Emotionale Unterstützung des gesunden Elternteils und der Paarbeziehung Die Bedeutung der Anregung zu Freizeitaktivitäten und zu Gleichaltrigenkontakten wird am Beispiel einer Frau deutlich, die als 7-Jährige in Therapie war und als Zwanzigjährige äußerte: „Das Beste, was Sie damals gemacht haben, war, meine Eltern zu überzeugen, dass ich bei den Pfadfindern mitmachen durfte. Das ist meine zweite Familie, ohne die hätte ich nicht überlebt“ (Styger 2014, 535). Oft ist es hilfreich, wenn Fachkräfte dabei sind, wenn mit den Kindern über die Krankheit gesprochen wird. Die Kinder wollen wissen (Lenz/ Brockmann 2013, 111ff ): ➤ Warum ist meine Mutter/ mein Vater krank? ➤ Was hat er/ sie? ➤ Was passiert mit mir? ➤ Wer kümmert sich um mich? ➤ Was muss ich tun? ➤ Bekomme ich diese Krankheit auch? Angesprochen werden muss, dass keiner an der Krankheit Schuld hat, und dass nicht das Kind Mutter oder Vater heilen kann, sondern dass sie oder er Behandlung braucht. Informationen sind immer wieder notwendig. Bereits Kinder unter drei Jahren nehmen Ängstlichkeit oder Traurigkeit von Mutter oder Vater wahr. Eine kurze, für sie verstehbare Aussage könnte sein: „Mama geht es heute nicht gut. Ich bin müde und traurig. Wenn es mir wieder besser geht, spiele ich mit dir“ (ebd., 115). Auch Kinder im Vorschulalter brauchen anschauliche Worte. „Beispiel: Depression ➤ Mama hat die Traurigkrankheit. Dabei muss ich ganz oft weinen. ➤ Dann bin ich so traurig, dass ich nicht mal vom Sofa aufstehen kann oder mich am Morgen anziehen mag. ➤ Mal gibt es Tage, da geht es mir gut, da kann ich fröhlich sein und ich stehe morgens gern auf. Dann kann es wieder Tage geben, an denen es mir nicht so gut geht. Genau wie bei einer Erkältung. Da gibt es auch Tage, da läuft die Nase, und Tage, an denen man gut Luft kriegt. ➤ Ich gehe zu einem Doktor. Mit dem spreche ich. Der gibt Tipps und verschreibt mir Medikamente“ (ebd., 116). Empfehlungen für Jugendämter Zu beachten ist die hohe Verletzlichkeit des frühen Entwicklungsalters. Der interdisziplinären Vernetzung von Diensten der Frühen Hilfen, die ihren Schwerpunkt auf die Unterstützung der Erziehungs- und Beziehungskompetenzen der Eltern legen, mit Leistungen zu deren medizinisch-psychiatrischen Versorgung kommt eine hohe Bedeutung zu, ebenso der strukturellen Etablierung fallübergreifender Kooperation (NZFH 2016, 17f ). Darüber hinaus gilt es, „niedrigschwellige Angebote vorzuhalten als auch eine potentielle Kindeswohlgefährdung nicht auszuschließen“ (ebd., 22). Empfohlen wird daher die Anwendung von Risikoinventaren, um die Bedürfnisse der Kinder systematisch zu erfassen sowie von Funktionsdiagnostik zur Be- 19 uj 1 | 2019 Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen schreibung der Auswirkungen der Krankheitssymptome auf die Erziehungskompetenz. Es ist dafür zu sorgen, dass die Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe durch Fortbildungen über das entsprechende Handlungswissen verfügen. Interventionen müssen auf Kinder aller Altersstufen abzielen. Ute Schaich Frankfurt University of Applied Sciences Fachbereich 4 Nibelungenplatz 1 60318 Frankfurt am Main E-Mail: schaich.ute@fb4.fra-uas.de Literatur Lenz, A., Brockmann, E. (2013): Kinder psychisch kranker Eltern stärken. Informationen für Eltern, Erzieher und Lehrer. Hogrefe, Göttingen Lenz, A., Wiegand-Grefe, S. (2017): Kinder psychisch kranker Eltern. Hogrefe, Göttingen, https: / / doi.org/ 10.1026/ 02589-000 Mattejat, F. (2014): Kinder mit psychisch kranken Eltern. Was wir wissen was zu tun ist. In: Ders., Lisofsky, B. (Hrsg.): Nicht von schlechten Eltern. Kinder psychisch Kranker. 4. Aufl. BALANCE buch + medien verlag, Köln, 68 - 95 Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.) (2016): Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen im Kontext der Frühen Hilfen. In: www.fruehe hilfen.de, 3. 8. 2018 Plass, A., Wiegand-Grefe, S. (2012): Kinder psychisch kranker Eltern. Entwicklungsrisiken erkennen und behandeln. Beltz, Weinheim/ Basel Schröder-Korf, S., Wienand-Kranz, D., Wiegand-Grefe, S. (2013): Familien mit psychisch kranken Eltern. Eine qualitative Analyse von Bewältigungsstrategien betroffener Kinder und Jugendlicher. In: Wiegand-Grefe, S., Wagenblass, S. (Hrsg.): Qualitative Forschungen in Familien mit psychisch erkrankten Eltern. Beltz, Weinheim/ Basel, 94 - 124 Styger, M. (2014): Praxisteil Frühe Hilfen. In: Reich, J. (Hrsg.): Übersehene Kinder. Biografien erwachsener Töchter von Borderline-Müttern. Marta Press, Hamburg, 531 - 538 Ziegenhain, U., Gebauer, S., Ziesel, B., Künster, A. K., Fegert, J. M. (2010): Lernprogramm Baby lesen. Hippokrates, Stuttgart
