eJournals unsere jugend 71/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art05d
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Ein Präventionsprogramm für Kinder inhaftierter Eltern

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Julia Herrmann
Kinder inhaftierter Eltern verlieren plötzlich einen Elternteil und werden durch die Inhaftierung des Vaters oder der Mutter stark belastet. Diese Situation ist für die betroffenen Kinder oft nur schwer zu ertragen. Durch das Eltern-Kind-Projekt Chance werden erstmals Kinder von inhaftierten Eltern in Baden-Württemberg systematisch von Fachkräften unterstützt und begleitet.
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29 unsere jugend, 71. Jg., S. 29 - 36 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art05d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Julia Herrmann Jg. 1988; M A Management and Leadership, Geschäftsführerin Verband Bewährungs- und Straffälligenhilfe Württemberg e.V., Mitglied Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg GbR Ein Präventionsprogramm für Kinder inhaftierter Eltern Eltern-Kind-Projekt Chance Kinder inhaftierter Eltern verlieren plötzlich einen Elternteil und werden durch die Inhaftierung des Vaters oder der Mutter stark belastet. Diese Situation ist für die betroffenen Kinder oft nur schwer zu ertragen. Durch das Eltern-Kind-Projekt Chance werden erstmals Kinder von inhaftierten Eltern in Baden-Württemberg systematisch von Fachkräften unterstützt und begleitet. Seit 2010 wird das Eltern-Kind-Projekt Chance in Baden-Württemberg angeboten. Finanziert wird das Projekt über den Trägerverein Projekt Chance e. V., mit der Umsetzung wurde das Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg beauftragt. Das Netzwerk besteht aus den Dachverbänden der Freien Straffälligenhilfe, dem Verband Bewährungs- und Straffälligenhilfe Württemberg, dem Badischen Landesverband für soziale Rechtspflege sowie dem Paritätischen Landesverband Baden-Württemberg, die im Zusammenschluss das Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg (GbR) bilden. Durch die angeschlossenen Mitgliedsvereine der Straffälligenhilfe ist in Baden-Württemberg eine landesweite Umsetzung des Projekts an allen Justizvollzugsanstalten und an den jeweiligen Wohnorten der Familien sichergestellt. Abb. 1: Landkarte der justiznahen Vereine im Netzwerk Straffälligenhilfe Baden-Württemberg (vgl. Homepage Netzwerk Straffälligenhilfe) ● Mannheim ● Heidelberg ● Mosbach ● Bruchsal ● Wiesloch ● Heilbronn ● Schwäbisch-Hall Crailsheim ● Ellwangen ● Asperg ●● Ludwigsburg ● Pforzheim ● Karlsruhe Rastatt ● ● Baden-Baden ● Bühl-Achern ● Kehl ● Offenburg ● Lahr ● Freiburg ● Lörrach Waldshut-Tiengen ● ● Singen ● Konstanz ● Weingarten ● Ravensburg ● Villingen-Schwenningen ● Rottweil ● Hechingen Tübingen ● ● Reutlingen Ulm ● Heidenheim ● ● Schwäbisch-Gmünd Stuttgart ● ● Böblingen 30 uj 1 | 2019 Eltern-Kind-Projekt Chance Die Kinder inhaftierter Eltern und deren Rechte In Deutschland sind schätzungsweise 100.000 Kinder von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen (Statistisches Bundesamt 2017). Diese Kinder haben mit den negativen Folgen der Inhaftierung eines Elternteils zu kämpfen und befinden sich in einer besonders belastenden Lebenssituation. Aus bindungstheoretischer Sicht kann die Inhaftierung und damit der Verlust eines Elternteils traumatisierend für die betroffenen Kinder sein (Bocknek u. a. 2009, 323ff ). Studien besagen darüber hinaus, dass Kinder eines inhaftierten Elternteils ein signifikant höheres Risiko haben, psychisch zu erkranken (Jones 2013). Die Situation der Kinder von straffälligen und gefangenen Eltern muss daher unbedingt berücksichtigt werden. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat bereits im Jahr 2011 alle Vertragsstaaten darauf hingewiesen, dass Kinder von inhaftierten Eltern in besonderem Maße berücksichtigt und unterstützt werden müssen (UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes 2011, Ziffer 30). In Artikel 9 garantiert die UN-Kinderrechtskonvention das Recht des Kindes auf Kontakt zum inhaftierten Elternteil. Erst kürzlich hat der Ministerrat des Europarates die Empfehlung zu Kindern von inhaftierten Eltern verabschiedet und stärkt damit die Rechte von Kindern inhaftierter Eltern abermals. Das Ministerkomitee des Europarats hat eine Richtlinienempfehlung angenommen, welche erneut verdeutlicht, dass Kinder mit inhaftierten Eltern die gleichen Rechte wie andere Kinder haben, einschließlich des regelmäßigen Kontakts zu ihren Eltern, wenn dieser nicht im Widerspruch zum Kindeswohl steht (Ministerrat 2018). An dieser Stelle setzt das Eltern-Kind-Projekt an, um die Kinder bestmöglich zu unterstützen und ihnen, trotz der prekären Situation, eine Chance zu geben. Das Eltern-Kind-Projekt in Baden-Württemberg Seit 2010 wird das Eltern-Kind-Projekt in Baden-Württemberg angeboten. Die Evaluation sowie die Fortbildung der Mitarbeiter werden durch die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Ulm sichergestellt. Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner ist das Landesjugendamt. Die landesweite Umsetzung des Projektes ist in Baden-Württemberg durch die Vereine der Straffälligenhilfe sichergestellt (vgl. Verband- BSW 2013, 38). Bisherige Zahlen und Ergebnisse aus dem Eltern-Kind-Projekt Seit Projektbeginn konnten im Eltern-Kind-Projekt 768 Betreuungsfälle registriert werden. An der Umsetzung waren in Baden-Württemberg 23 Vereine der Straffälligenhilfe beteiligt. Diese waren in 17 von 18 Justizvollzugsanstalten in Baden-Württemberg tätig und betreuten darüber hinaus die Familien an den jeweiligen Wohnorten. Über das Projekt wurden somit bereits 1.315 Kinder in den Familien begleitet und unterstützt. Das Angebot findet bei den betroffenen Familien großen Anklang und erzeugt darüber hinaus große mediale Aufmerksamkeit. Die Projektsteuerung und Qualitätssicherung Die Projektsteuerung unterliegt dem Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg GbR. Das Projekt wird anhand eines Qualitätskonzepts mit festen Standards umgesetzt. Im Austausch mit der Praxis wird dabei stetig die bedarfsgerechte Ausrichtung überprüft. In regelmäßigen Qualitätswerkstätten mit den PraktikerInnen werden die Kennzahlen und die Projektentwicklung besprochen und 31 uj 1 | 2019 Eltern-Kind-Projekt Chance die MitarbeiterInnen erhalten stets eine fachliche Weiterbildung. Um den hohen Anforderungen im Projekt gerecht zu werden, sind nur Dipl. SozialarbeiterInnen/ PädagogenInnen sowie Dipl. PsychologenInnen mit spezieller Qualifizierung durch das Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, als Betreuende zugelassen. Die konforme Umsetzung des Qualitätskonzepts und die Teilnahme an den Qualitätswerkstätten, wie auch an den Fort- und Weiterbildungen sind für die Fachkräfte im Projekt verpflichtend. Was leistet das Eltern-Kind-Projekt? Die Hilfen im Eltern-Kind-Projekt umfassen alle Maßnahmen zur Klärung und Förderung einer positiven Eltern-Kind-Beziehung während und nach der Inhaftierung eines Elternteils. Das Projekt „nimmt sich den Bedürfnissen und Interessen von Kindern inhaftierter Eltern an. Nicht das Bedürfnis des Straffälligen, sondern das „Wohl des Kindes“ steht im Mittelpunkt, wenn es darum geht, die Haftfolgen zu mildern und die Beziehungen zu klären. Die Fachkräfte unterstützen die Kinder und deren Familien während der Inhaftierung und bei Bedarf auch darüber hinaus. Die Kinder bekommen Hilfestellung bei Besuchen in Haft und werden für den Umgang mit der besonderen Situation gestärkt“ (Verband-BSW 2013, 37). Nach einer Einschätzung des Hilfebedarfs sorgen die Fachkräfte für eine Sicherung der materiellen Existenz der Familie in Freiheit und unterstützen diese bei anstehenden Problemlagen. Gemeinsam mit dem Elternteil in Freiheit versuchen sie, die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder zu fördern, beraten diese bei der temporären Trennung und der Überbrückung der Haftzeit. Sie koordinieren die notwendigen Hilfen und geben Unterstützung in der Entlassungsphase beim Übergang vom Inhaftierten in die Freiheit und ggf. bei der Rückkehr in die Familie. Die Betreuung erfolgt nach standardisierten Betreuungsbausteinen: ➤ Einschätzung des Hilfebedarfs ➤ Krisenintervention Inhaftierung ➤ Sicherung der materiellen Existenz der Familie in Freiheit ➤ Koordination notwendiger Hilfen ➤ Kindeswohlgefährdung ➤ Finanzielle Unterstützung bei Besuchen in Haft ➤ Unterstützung bei Besuchen ➤ Motivation der Gefangenen ➤ Erziehungsfähigkeit der Familie in Freiheit/ Gefangenen stärken ➤ Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder ➤ Beratung bei temporärer Trennung/ Überbrückung der Haftzeit ➤ Beratung bei Beziehungstrennung ➤ Hilfen beim Übergang vom Vollzug in Freiheit Kinder als Besucher von Vollzugsanstalten Ein Schwerpunkt des Projekts ist die Vor- und Nachbereitung sowie die Begleitung bei Besuchen der Familie beim inhaftierten Elternteil. Den Fachkräften im Projekt fiel hierbei auf, dass sich die Besuchsbedingungen für Familien und insbesondere für Kinder von Anstalt zu Anstalt sehr unterscheiden. Im Ergebnis wird aber deutlich, dass die Ausgestaltung der Regelbesuche darauf ausgelegt ist, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Dies ist nachvollziehbar. Gleichwohl sehen wir die Justizvollzugsanstalten auch in der Verantwortung, kindgerechte Umgangsmöglichkeiten mit dem inhaftierten Elternteil zu ermöglichen. Dazu hat sich Deutschland mit Unterzeichnung der Kinderrechtskonvention in Art. 9 Abs. 3 verpflichtet. Vor diesem Hintergrund hat sich das Netzwerk umfangreich mit dem Thema „Kinder als Besucher von Vollzugsanstalten“ beschäftigt und hat anhand gelungener Praxisbeispiele einige Anregungen zur Familienorientierung im Straf- 32 uj 1 | 2019 Eltern-Kind-Projekt Chance vollzug formuliert, um eine umfassende Sensibilisierung des Vollzugs für Kinder als Besucher zu erreichen. Die Anregungen schlagen u. a. vor, Besuchszeiten auf Familien mit Kindern abzustimmen, ggf. bestimmte Termine für diese freizuhalten und kindgerechte Sonderbesuchsräume für Kinder vorzuhalten. Im Eltern-Kind-Projekt werden die Kinder von den Fachkräften auf den Haftbesuch umfassend vorbereitet. Die Eingangskontrollen sind dabei ein wesentliches Element des Haftbesuchs. Die Abgabe von persönlichen Gegenständen, die Kontrolle durch einen Vollzugsbeamten etc. können die Kinder als sehr beängstigend erleben. Im Rahmen der begleiteten Besuche hilft es, dass die Kinder darauf vorbereitet werden. Dafür wurde beispielsweise vom Netzwerk ein Poster (Abb. 2) entwickelt, anhand dessen den Kindern die Kontrolle erklärt werden kann. Die Projekterfahrungen der letzten Jahre zeigen auf, dass die Begleitung der Familien sehr wichtig für die Kinder ist. Dies bestätigen die positiven Abschlüsse im Projekt wie auch die stetig ansteigenden Nachfragen der Familien. Warum die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt von elementarer Bedeutung ist Als wesentliches Element muss im Eltern-Kind- Projekt die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt berücksichtigt werden. An der Schnittstelle zwischen den justiznahen Hilfen im Eltern-Kind- Projekt und dem Angebot der Jugendhilfe gibt es Unterstützungsbedarfe, die inhaltlich der Jugendhilfe zugeordnet werden, aber aufgrund des Systems der Hilfebedarfsfeststellung nicht in Form bewilligter Einzelfallhilfen erbracht werden können. Somit sieht das Projekt vor, die Jugendhilfen zu integrieren, um die Familien bedarfsgerecht und bestmöglich zu begleiten. Vor Ort werden daher derzeit zwischen den Vereinen der freien Straffälligenhilfe und den Jugendämtern Vereinbarungen getroffen, die die Zusammenarbeit und auch die Finanzierung der einzelnen Hilfen zwischen dem Justizhaushalt und der Jugendhilfe regeln. Leider ist eine landesweit einheitliche Regelung über den Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg am Veto der örtlich zuständigen Jugendhilfeträger gescheitert, sodass sich die Vereine gezwungen sehen, mit 44 Stadt- und Landkreisen individuell zu verhandeln. In der Zusammenarbeit sieht das Projekt vor, dass die Steuerungsverantwortung für die betroffenen Kinder dem fallverantwortlichen Jugendamt unterliegt. Die Vorteile in der Zusammenarbeit zwischen dem Jugendamt und dem Eltern-Kind-Projekt liegen u. a. darin, dass der Kontakt zwischen den Familien und dem Jugendamt zum Wohl des Kindes durch die Fachkräfte des Eltern-Kind-Projekts hergestellt werden kann. Darüber hinaus können die Besuche der Kinder in Haft weiterhin durch die erfahre- Abb. 2: Mein Besuch im Gefängnis - gemalt von H. Schwarz während seiner Inhaftierung in der JVA Heimsheim (vgl. Homepage Eltern-Kind-Projekt) 33 uj 1 | 2019 Eltern-Kind-Projekt Chance nen Fachkräfte der Straffälligenhilfe begleitet werden. In den meisten Fällen ist der Kontakt zum Vater oder zur Mutter in Haft unabdingbar, um die Eltern-Kind-Beziehung aufrechtzuerhalten und das Wohl des Kindes nicht zu gefährden. Durch eine kooperative und vom Jugendamt angeleitete Fallabklärung kann im Zusammenschluss sichergestellt werden, dass der Schutz und die Sicherheit der Kinder unter den gegebenen Rahmenbedingungen gewährleistet und die Kinder in dieser schwierigen Situation professionell begleitet werden. Wirkung des Eltern-Kind-Projekts Die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation des Projekts erfolgte von 2011 bis 2016 durch die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie Ulm. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung belegen erneut, dass Kinder inhaftierter Eltern eine Hochrisikogruppe darstellen. Sie wachsen häufig in Familien auf, die diversen Risikofaktoren ausgesetzt sind. Im Vergleich zur Normalpopulation weisen sie eine erhöhte Lebenszeitpräva- Erstkontakt/ Vorstellung des Projektes Abstimmung Koordination/ Fallmanager Krisenintervention Inhaftierung Hilfen in der Entlassphase Einschätzung Hilfebedarf Instrumentalisierung Koordination Finanzierung ausschließlich aus Mitteln des Justizhaushaltes Finanzielle Unterstützung bei Besuchen organisieren Dokumentation. Vor- und Nachbereitung kollegiale Fallbesprechung Koordination notwendiger Hilfen Beziehungstrennung/ Kinder Kindeswohlgefährdung Unterstützung bei Besuchen Fahr- und Wartezeiten Finanzierung aus Mitteln des Justizhaushaltes, dann Übergang in die Jugendhilfe Finanzierung ausschließlich aus Mitteln der Jugendhilfe Unterstützung bei Besuchen Fahr- und Wartezeiten Kindeswohlgefährdung Beziehungstrennung/ Kinder Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder Koordination notwendiger Hilfen Erziehungsfähigkeit der Gefangenen/ Restfamilie stärken Finanzielle Unterstützung bei Besuchen organisieren kollegiale Fallbesprechung Freizeit für Kinder Dokumentation. Vor- und Nachbereitung Nach 6 Monaten muss Fall abgeschlossen oder in Jugendhilfe übergeleitet sein Übernahme Kosten bis zu 1000. Fall Abb. 3: Schema des Übergangs in die Kinder- und Jugendhilfe 34 uj 1 | 2019 Eltern-Kind-Projekt Chance lenz für eine psychische Erkrankung, u. a. von Persönlichkeitsstörungen, auf und haben ein erhöhtes Risiko, selbst straffällig zu werden. Es zeigt sich darüber hinaus, dass die Kinder inhaftierter Eltern psychisch hoch belastet sind. Besonders Eltern mit sehr jungen Kindern brauchen dringend Unterstützung. Die Untersuchung belegte auch, dass durch das Projekt die sehr hohen Belastungenbeiden Kindernnachweislich reduziert werden konnten (Zwönitzer u. a. 2017). Das Eltern-Kind-Projekt stellt demzufolge ein qualitativ bedeutsames Unterstützungsangebot dar, welches eine bestehende Versorgungslücke für die Hochrisikogruppe „Kinder von Inhaftierten“ bedient und deren Problemlagen deutlich abmildert (Zwönitzer u. a. 2017). Einblicke in die Praxis des Eltern-Kind-Projekts Um die konkrete Arbeit des Eltern-Kind-Projekts etwas anschaulicher zu machen, möchte ich einen Praxisbericht nutzen, der im Zehnjahresbericht des Verbandes für Bewährungs- und Straffälligenhilfe Württemberg e.V. dargestellt ist (Verband-BSW 2013; 40 - 41). Umsetzung des Eltern-Kind-Projekts Chance in der Praxis: Praxisbericht von Peter Mast; Bewährungs- und Straffälligenhilfe Ulm e.V. Im Oktober 2012 hatte mich der Sozialdienst der JVA Ulm (Kurzstrafe) auf einen Inhaftierten aufmerksam gemacht, der sich für die Teilnahme am Eltern-Kind-Projekt interessierte. Im Erstgespräch hat mir der Gefangene dann erzählt, dass er bis vor kurzem regelmäßig Besuch von seinem 8-jährigen Sohn hatte. Diese Besuche wurden vom Vater des Inhaftierten begleitet. Da es jedoch Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Inhaftierten und seiner Ex-Frau gab, hatte diese die Besuche nicht mehr erlaubt. Ich nahm telefonischen Kontakt zur Mutter auf und vereinbarte einen Termin mit Mutter und Sohn. Im Gespräch wurde klar, dass diese Besuche einen großen Stressfaktor sowohl für die Mutter als auch für den Sohn darstellen. Die Mutter wusste nicht, was beim Besuch (auch über sie) geredet wurde, der Vater versuchte, über den Sohn etwas über die Lebensweise der Mutter zu erfahren. Der Sohn fühlte sich als Spielball zwischen den zerstrittenen Eltern. Wurde er von seiner Mutter bzgl. des JVA-Besuchs seines Vaters befragt, reagierte er oft aggressiv. So kam die Mutter zu der Ansicht, dass die Haftbesuche ihrem Sohn nicht guttun und hat sie daraufhin nicht mehr erlaubt. Da der Sohn seinen Vater jedoch sehen und seine Mutter ihm dies nicht ganz vorenthalten wollte, konnten wir uns darauf einigen, dass ich den Sohn bei dem monatlichen Haftbesuch begleite, um ihm ein möglichst stressfreies Treffen mit seinem Vater zu ermöglichen. Seitdem habe ich fünf Haftbesuche begleitet. Dabei haben wir den Schwerpunkt auf gemeinsames Tun gelegt; d. h. Vater und Sohn spielen oder malen zusammen. Die Kommunikation findet nebenbei statt. Da ich den Jungen von der Schule abhole und wieder zurückbringe, kann ich danach den Besuch mit ihm reflektieren, später auch mit dem inhaftierten Vater (mit dem ich die Besuche auch vorbereite) und der Mutter. Während der Betreuung stellte sich auch heraus, dass der Sohn zwar ein intelligenter Junge ist, aber unter Konzentrationsstörungen leidet. Obwohl er in der Ganztagesschule ist, kam er oft mit unerledigten Hausaufgaben nach Hause. So kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit seiner in Vollzeit arbeitenden Mutter, was ihr Verhältnis zueinander belastete. Nachdem ich inzwischen auch Kontakt zur Klassenlehrerin hatte, konnten wir eine individuelle Hausaufgabenbetreuung durch eine Oberstufenschülerin installieren, die sich für den Sohn sowohl in der Schule als auch zu Hause sehr positiv auswirkt. Allerdings konnte die Mutter die Kosten dafür nicht übernehmen. Obwohl sie in Vollzeit arbeitet, reicht ihr Lohn nicht aus und sie muss zusätzlich Arbeitslosengeld II beziehen. Unterhalt für den Sohn bekommt sie keinen. Die Anfrage auf Übernahme der Nachhilfekosten wurde vom Job- 35 uj 1 | 2019 Eltern-Kind-Projekt Chance center abgelehnt, da dort „Nachhilfe“ nur finanziert wird, wenn eine akute „Versetzungsgefährdung“ vorliegt. Über MitarbeiterInnen vom Jugendamt bin ich dann auf die Stiftung „Ulms kleine Spatzen“ aufmerksam geworden, die bedürftige Kinder unterstützen. Nach einem kurzen Anruf wurde mir sofortige Unterstützung zugesagt. So konnten wir nicht nur die Hausaufgabenbetreuung finanzieren, sondern auch noch einen Zuschuss für einen Fahrradkauf bekommen. Die Mutter wollte ihrem Sohn bereits zu Ostern 2012 ein Fahrrad kaufen, konnte allerdings nur eine Anzahlung machen. So wartete der Junge fast ein Jahr auf sein Fahrrad. Der Vater wird im Dezember in sein Heimatland abgeschoben. Es ist geplant, dass der Junge ihn in den Ferien dort besuchen kann. Die Mutter ist grundsätzlich einverstanden, wenn der Vater auch bereit ist, sich am Unterhalt für den Sohn zu beteiligen. Inzwischen überweist er von seinem Hausgeld (Arbeitslohn in der JVA) den ihm möglichen Betrag. Durch die Betreuung über das Eltern-Kind-Projekt hat sich die Beziehung Mutter - Vater - Kind bereits spürbar verbessert. Dadurch konnte ein drohender Abbruch des Vater/ Sohn-Kontakts verhindert werden. Insgesamt wurden auch die Lebensbedingungen des Kindes und seiner Familie tatsächlich verbessert. Abschließende Empfehlung des Netzwerks Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg Das Netzwerk Straffälligenhilfe empfiehlt, die Kinder und Jugendhilfe noch besser mit der Straffälligenhilfe zu vernetzen, um im Zusammenschluss die Kinder von inhaftierten Eltern in dieser besonderen Lebenslage bestmöglich zu unterstützen. Es gilt die Unterstützungsangebote so auszubauen, dass diese sich an den Bedürfnissen der betroffenen Kinder orientieren. Das Eltern-Kind- Projekt Chance leistet diesbezüglich bereits einen wesentlichen Beitrag und kann flächendeckend in ganz Baden-Württemberg von den betroffenen Familien in Anspruch genommen werden. Ein besonderes Anliegen des Netzwerks Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg liegt darin, die Kompetenzen der Kinder- und Jugendhilfe sowie die der Straffälligenhilfe zusammenzubringen, um für die Kinder von inhaftierten Eltern ein Netz an bedarfsgerechten Hilfeleistungen gewährleisten zu können. Dafür muss neben dem Land nun auch die örtlich zuständige Jugendhilfe ihrer Verantwortung nachkommen und die Finanzierung weiterer notwendiger Hilfeleistungen übernehmen. Darüber hinaus sollten die Kooperationen zwischen der Straffälligenhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe vor Ort ausgebaut werden, damit die Bedürfnisse und Rechte der Kinder in Politik, Gesellschaft und im Strafvollzug die notwendige Aufmerksamkeit und Unterstützung erfahren. Es darf nicht sein, dass Kinder bei der Inhaftierung eines Elternteils mitbestraft werden. Dies muss unser gemeinsames Anliegen sein! Julia Herrmann Verband Bewährungs- und Straffälligenhilfe Württemberg e.V. Hauptstraße 28 70563 Stuttgart E-Mail: julia.herrmann@verband-bsw.de 36 uj 1 | 2019 Eltern-Kind-Projekt Chance Literatur Bocknek, E., Sanderson, J., Britner P. (2009): Ambiguous loss and posttraumatic stress in school-age children of prisoners. Journal of Child and Family Studies 18 (3), 323 - 333 Jones, A. (2013): Children of Prisoners: Interventions and mitigations to strengthen mental health. University of Huddersfield, Huddersfield. In: http: / / eprints. hud.ac.uk/ 18019/ 1/ ChildrenOfPrisonersReport-final. pdf, 7. 6. 2018 Ministerrat (2018): Recommendation CM/ Rec(2018)5 of the Committee of Ministers to member States concerning children with imprisoned parents. In: https: / / rm.coe.int/ cm-recommendation-2018-5-concer ning-children-with-imprisoned-parents-e/ 16807b 3438, 20. 9. 2018 Statistisches Bundesamt (2017): Rechtspflege. Strafvollzug. Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31. 3. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 4.1. In: https: / / www.destatis.de/ DE/ Publikationen/ Thematisch/ Rechtspflege/ StrafverfolgungVollzug/ Strafvollzug. html, 20. 9. 2018 UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes (2011): Report and recommendations of the Day of General Discussion on „Childen of incarcerated parents. In: https: / / www.ohchr.org/ Documents/ HRBodies/ CRC/ Discussions/ 2011/ DGD2011ReportAndRecommen dations.pdf, 20. 9. 2018 [Verband-BSW 2013] Verband Bewährungs- und Straffälligenhilfe Württemberg e.V. (Hrsg.) (2013): Resozialisierung ist der beste Opferschutz. 10-Jahresbericht 2003 - 2013. Stuttgart. In: https: / / verband-bsw.de/ content/ 10-jahresbericht, 20. 9. 2018 Zwönitzer, A., Fegert, J. M., Ziegenhain, U. (2017): Eltern- Kind-Projekt Chance zur Unterstützung von Kindern inhaftierter Eltern. Nervenheilkunde 36, 156 - 160, https: / / doi.org/ 10.1055/ s-0038-1635149 Weblinks Homepage Netzwerk Straffälligenhilfe: https: / / nwsh-bw.de/ Homepage Eltern-Kind-Projekt: https: / / nwsh-bw.de/ content/ eltern-kind-projekt