eJournals unsere jugend 71/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art07d
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Rezension: Maria Kurz-Adam (Hrsg. 2017): Die Welt retten - Die Wiederentdeckung des Helfens in unserer Kultur des Sozialen

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2019
Vera Birtsch
Rezension Maria Kurz-Adam (Hrsg. 2017): Die Welt retten - Die Wiederentdeckung des Helfens in unserer Kultur des Sozialen 1. Auflage, Verlag Barbara Budrich, 121 Seiten, € 12,- Unter den zahlreichen Veröffentlichungen des vergangenen Jahres zum Bereich Soziale Arbeit findet sich ein schmales Bändchen, das bereits durch seinen Titel auffällt. Das Buch von Maria Kurz-Adam heißt: „Die Welt retten - Die Wiederentdeckung des Helfens in unserer Kultur des Sozialen“. Das macht neugierig, schließlich ist die Autorin eine Expertin im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. [...]
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42 uj 1 | 2019 Rezensionen Maria Kurz-Adam (Hrsg. 2017): Die Welt retten - Die Wiederentdeckung des Helfens in unserer Kultur des Sozialen 1. Auflage, Verlag Barbara Budrich, 121 Seiten, € 12,- Unter den zahlreichen Veröffentlichungen des vergangenen Jahres zum Bereich Soziale Arbeit findet sich ein schmales Bändchen, das bereits durch seinen Titel auffällt. Das Buch von Maria Kurz-Adam heißt: „Die Welt retten - Die Wiederentdeckung des Helfens in unserer Kultur des Sozialen“. Das macht neugierig, schließlich ist die Autorin eine Expertin im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Bei genauerem Lesen sieht man dann schnell, dass es sich um einen Essay handelt, um die persönliche Auseinandersetzung der Autorin mit der Frage, was die Substanz sozialer Berufe heute ausmacht und wie wichtig der Gedanke des Helfens dabei ist. Bereits der Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt, der Autorin geht es um die Geschichte des Helfens, seine Professionalisierung und schließlich ihre Beobachtung, dass eben dieses Hilfemotiv heute hinter dem Leistungsgedanken, den rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen sozialarbeiterischen Handelns verschwunden sei. Der erste Teil des Bandes geht konsequenterweise in einem Rückblick auf die Geschichte des Helfens ein. Hier orientiert sich die Autorin u. a. an C. W. Müller (Wie Helfen zum Beruf wurde. Weinheim, 2006). Sie zeichnet den Weg der sozialen Arbeit, angefangen von der Hilfe für die Armen in christlicher Motivation nach, spricht über die Einführung der Sozialversicherungen im ausgehenden 19. Jahrhundert und beschreibt, wie Menschen trotz dieser Sicherungen „durch die Maschen fallen können“. Dann geht die Spurensuche weiter bis zum heutigen Stand individualisierter Hilfen, in denen Menschen zu„Fällen“ für einzelne Rechtskategorien werden. Dabei wird immer auch der Frage nachgegangen, welche Motive dem Helfen damals und heute zugrunde liegen, und die Antworten reichen von Barmherzigkeit und Nächstenliebe bis zur vermutlich mehrdimensionalen Identität einer sozialpädagogischen Fachkraft. Aber auch Gedankenvon Alexander Mitscherlich, Michel Foucault, Sigmund Freud und überhaupt der Psychoanalyse werden einbezogen. Der Bogen wird also weit gespannt. Besonders interessant ist die Überlegung der Autorin, dass sich in der Geschichte des Helfens nicht nur die Formen des Handelns als Folge gesellschaftlicher Veränderungen wandeln würden, sondern auch Haltungen und Motive des Helfens. Kurz-Adam resümiert im Mittelteil ihres Bändchens die Entwicklung des professionellen Handelns - die sie als eine Entwicklung von Techniken wie die des systematischen Informationssammelns, Diagnostizierens und des geordneten Aufschreibens bis hin zum modernen Helfen als „Können“ beschreibt. Das Können zeige sich u. a. auch darin, dass die Helfenden zwischen sich und denen, denen sie helfen, eine Grenze der Achtung zögen. Auf der anderen Seite ist den Helfern heute aus der Wirkungsforschung bekannt, mit welchen Strategien sie welche Ergebnisse erzielen können und welche Interventionen eher wirkungslos bleiben. Zu diesen Fortschritten im Hilfeverhalten, das sich zu einem Können fortentwickelt habe, so die Autorin, gebe es nun aber auch eine Kehrseite: Nämlich eine zunehmende Distanz und Entfremdung zwischen Helfern und Hilfesuchenden. Das Können vollziehe sich in einem Rechtssystem, das individuell Ansprüche definiere, an anderer Stelle aber auch Hilfe versage. Der Rechtsstaat habe zwar insofern eine Wende für Hilfeempfänger gebracht, als sie nun unter definierten Voraussetzungen einen Anspruch auf die erforderliche Unterstützung hätten. Zwischen Helfer und Hilfebedürfuj 1 | 2019 43 Rezensionen tige seien diese Rechtsbegriffe und Verordnungen nun aber gleichsam wie eine Barriere getreten, was die Autorin in der Folge so beschreibt: „Die Mechanismen der Ökonomie und der Macht von Kosten und Nutzen ersetzen das Helfen. Der Gedanke der Hilfe wird zunehmend aus den Berufen des Helfens vertrieben - Leistung und Gegenleistung, Aufrechnungen und Erwartungen, Kalkül und Rechtfertigung überlagern die Wirklichkeit des Helfens.“ Mit dieser Situation will sich Kurz-Adam nun keineswegs abfinden. Die Dramatik in der beschriebenen Art der Entwicklung des Helfens zeigt sich für sie besonders in der Auseinandersetzung mit dem Elend hunderttausender Geflüchteter als Folge von Krieg und Vertreibung und deren Situation unter Asylbedingungen. Kurz-Adam sieht als Konsequenz der von ihr so aufgezeigten Hilfeentwicklung eine „Verwerfung der Menschlichkeit“, gegen die deutliche Zeichen gesetzt werden müssten. Und damit meint sie beides: Eine Haltung in der Gesellschaft wie auch Veränderungen im sozialarbeiterischen Handeln. Unter der Überschrift„Neue Hilfekulturen“ spricht sie sich für die „Wiederentdeckung des Helfens in der Wirklichkeit“ aus - die sich gegen einen allgemeinen „Mangel an Einfühlung“ wenden müsse und sieht in der breiten Hilfsbereitschaft von Bürgerinnen und Bürgern im Jahr 2015, als die Fluchtbewegung in Deutschland auf dem Höhepunkt war, ein positives Zeichen genau in diese Richtung. Hier habe sich Hilfe wieder als menschliche Zuwendung ohne Vorbedingungen gezeigt. Die von der Autorin eingenommene Position provoziert und irritiert in gleicher Weise. Die von ihr beschriebene Entwicklung der Modernisierung des „Helfens“ in der Sozialarbeit kann ich als Leserin nachvollziehen, auch, dass dadurch im Verhältnis von Hilfesuchenden und dem Hilfesystem Gefühle der Distanz und Entfremdung entstehen. Mir fehlt aber der explizite Gedanke, dass das Hilfesystem im modernen Sozialstaat aus den rechtlichen Vorgaben und den diese Vorgaben anwendenden Menschen, den Helfern, besteht. Das bedeutet nämlich auch, dass zwischen der Verankerung des Hilfegedankens in Gesetzen und Verordnungen - Kennzeichen des Sozialstaats - einerseits zu unterscheiden ist und den von Hilfegedanken motivierten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern andererseits. Diese sind an Vorgaben im Handeln gebunden und verfolgen gleichzeitig ihre Hilfeziele. Wenn es anders wäre, würden nicht weiterhin so viele junge Menschen an den Hochschulen Sozialarbeit und Sozialpädagogik studieren - zumal die spätere Berufstätigkeit keinesfalls eine finanziell lukrative Beschäftigung verspricht. Ist die Hilfe also doch nicht verschwunden? Und doch hat Kurz-Adam mit ihrer Analyse zur Modernisierung der Sozialarbeit einen richtigen und wichtigen Punkt bzgl. dessen benannt, was die Entwicklung einer umfassenden Professionalität mit herausragendem „Können“ und dem Einsatz zahlreicher Techniken angeht. Damit sind große Fortschritte erzielt worden, aber gleichzeitig möglicherweise auch die von ihr benannten Lücken entstanden. Denn das Unmittelbare, das Spontane, vielleicht auch ein Teil persönlicher Zuwendung, die zur Arbeit der Menschen miteinander gehört, könnte damit wirklich an Gewicht verloren haben und es würde sich lohnen, intensiver darüber nachzudenken, wie dies zurückgeholt werden kann. Ein Weg könnte m. E. darin liegen, dass sich die professionelle Sozialarbeit stärker auf das ehrenamtliche Engagement zubewegt als bisher, welches es in Deutschland gerade in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe in vielen Facetten und auf breiter Ebene gibt. Wie viele Menschen engagieren sich z. B. als Paten für benachteiligte Kinder, aber auch für Flüchtlingsfamilien, als Sprachpaten für Kinder aus Migrantenfamilien! Wie viele Menschen helfen in den an vielen Orten organisierten Tafeln mit, bei der Organisation von Kleiderspenden usw. Und die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement ist auch unter jungen Menschen keineswegs geringer geworden. Bisher wird die Verbindung zwischen Ehrenamt und Hauptamt von Träger- 44 uj 1 | 2019 Rezensionen seite zu wenig gepflegt und ist schlecht entwickelt. Aus einer gut organisierten, in den Tätigkeitsschwerpunkten abgegrenzten und sich gleichzeitig ergänzenden Zusammenarbeit und wechselseitigen Akzeptanz könnte sich aber mehr als nur ein fruchtbarer Dialog mit Gewinn für beide Seiten ergeben. Da, wo das Hilfesystem heute Lücken zeigt, die professionelle Sozialarbeiterin mit ihrem Hilfeinstrumentarium nicht zum Zuge kommt, z. B. bei einer Flüchtlingsfamilie in einer Sammelunterkunft, kann die bürgerschaftlich engagierte Person ihr Potenzial fruchtbar einbringen. Der Essay von Maria Kurz-Adam vertritt vielleicht eine Position, die man nicht teilen muss oder die man hinterfragen kann. Man kann sich aber an dieser Auffassung reiben und wird angeregt, über Veränderungen im Alltag der Sozialarbeit nachzudenken, die vielleicht gerade bei gut erreichter Professionalität im Sozialstaat notwendig geworden sind. Damit eignet sich der Band zur Lektüre in der Praxis und zur Diskussion in der Ausbildung. Dr. Vera Birtsch, Hamburg DOI 10.2378/ uj2019.art07d