eJournals unsere jugend 71/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art10d
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Partizipation von Eltern in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe

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Rainer Siekmann
Warum sind in Anbetracht der eindeutigen fachlichen und rechtlichen Lage nicht die Eltern der in Einrichtungen der Erziehungshilfe lebenden Kinder und Jugendlichen die vorrangigen AdressatInnen institutioneller Partizipationskonzepte? Wenn Einrichtungen Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Interessen und Rechte unterstützen, birgt dies ein erhebliches Potenzial für die Jugendhilfe.
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50 unsere jugend, 71. Jg., S. 50 - 58 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art10d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Partizipation von Eltern in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe Neue Wege der Zusammenarbeit von Eltern und Einrichtungen Warum sind in Anbetracht der eindeutigen fachlichen und rechtlichen Lage nicht die Eltern der in Einrichtungen der Erziehungshilfe lebenden Kinder und Jugendlichen die vorrangigen AdressatInnen institutioneller Partizipationskonzepte? Wenn Einrichtungen Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Interessen und Rechte unterstützen, birgt dies ein erhebliches Potenzial für die Jugendhilfe. von Rainer Siekmann Jg. 1972; Erzieher, Sozialpädagoge (BA), Systemischer Fachberater, Fachbereichsleiter der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land gGmbH Die Unterbringung eines Kindes in einem Heim bedeutet stets einen schwerwiegenden Eingriff in die familiäre Autonomie sowie auch in die Rechte sowohl der Kinder und Jugendlichen als auch in die ihrer Eltern. In vielen Fällen wird die Entscheidung für die Unterbringung in einer Wohngruppe gegen den Willen der Betroffenen getroffen. Die Zusammenarbeit beginnt demnach häufig mit einer Krise und in einem Zwangskontext. § 37 SGB VIII sieht die Zusammenarbeit mit den Eltern und deren Unterstützung vor mit dem Ziel, eine Rückkehr des Kindes in seine Familie zu ermöglichen. Auf der anderen Seite bewegen sich Fachkräfte in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe im Dilemma des Doppelten Mandats aus Hilfe und Kontrolle. Denn natürlich kann es gute Gründe dafür geben, Eltern aus Erziehungsprozessen vorläufig oder auch langfristig auszuschließen. Es besteht also kein Anlass dazu, die Partizipation von Eltern als Wundermittel zu romantisieren. Gleichwohl stellt sie eines der bisher am wenigsten genutzten Potenziale der Kinder- und Jugendhilfe dar, um die Ressourcen von Familien zu aktivieren und aufzubauen. In der heutigen Kinder- und Jugendhilfe besteht ein weitreichender fachlicher Konsens darüber, dass die Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und ihrer Eltern als wesentlicher Erfolgsfaktor für die Wirksamkeit von Hilfemaßnahmen gilt. Studien weisen zudem darauf hin, dass den Eltern und der Familie eine wesentliche Rolle bei der Persönlichkeitsentwicklung und bei der Bildung einer eigenen Identität zukommt (Gehres 2005, 3f ). Bei der Frage nach den Rechten der Kinder dürfen daher die Elternrechte 51 uj 2 | 2019 Partizipation von Eltern in der stationären Erziehungshilfe nicht außer Acht gelassen werden. Viele Kinderrechte lassen sich im Handlungsfeld der Heimerziehung nur mit Mitwirkung der Eltern durchsetzen, da sie nicht nur die wesentlichen Bezugspersonen für ihre Kinder sind, sondern in ca. 75 % der Fälle auch die Inhabenden des Sorgerechts und damit die gesetzlichen Vertreter und Vertreterinnen (Gies u. a. 2016). Demnach müssten partizipative Strukturen und demokratiepädagogische Methoden längst als ein fester Bestandteil der Praxis in stationären Einrichtungen verankert sein. Eine wesentliche Besonderheit der stationären Hilfen zur Erziehung besteht darin, dass es sich bei den AdressatInnen nicht durchgängig um aktive Nachfragende der gebotenen Leistungen handelt. Während die Gestaltung anderer Angebote (z. B. Kitas, Jugendzentren) häufig dem Einfluss der gesellschaftlich und politisch stärkeren Bevölkerungsgruppen ausgesetzt sind, werden daher die typischen AdressatInnen erzieherischer Hilfen in vielen Fällen kaum auf eine Gewährung der entsprechenden Leistungen drängen oder ihre Beteiligungsrechte einfordern. Ebenso gibt es so gut wie keine Interessenvertretung von Eltern wie beispielsweise Lobbyorganisationen, Selbsthilfegruppen oder Verbände. In der Folge sind die Maßnahmen der Erziehungshilfe deutlich anfälliger für Steuerungsprozesse durch Politik und Verwaltung, als dies in anderen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe der Fall ist (Rauschenbach/ Schilling 2005, 222f ). Die bereits seit vielen Jahren politisch gewollten und fachlich gebotenen Beteiligungsrechte sind daher bis heute nicht vollständig in der Praxis der Jugendhilfe angekommen. Dies lässt im Rahmen der Heimerziehung ein deutliches Machtgefälle zwischen Eltern, Einrichtungen und Jugendämtern entstehen. Daraus resultierend werden den Eltern und Familien während einer Fremdunterbringung nur sehr wenige konkrete kindeswohlorientierte, soziale oder materielle Unterstützungsmaßnahmen zuteil (Faltermeier 2012). Die Lebenssituation der Kinder, Jugendlichen und Eltern Für die Kinder bedeutet die Unterbringung in einer Wohngruppe neben der potenziell traumatischen Trennung von ihren Familien in vielen Fällen einen Wechsel des Sozialraumes und damit eine erhebliche Veränderung seiner Lebenswelt (Stork 2007, 53). In dieser Situation wird von den jungen Menschen in der Regel eine Anpassung an die zur Verfügung stehenden Strukturen und das Einlassen auf die entsprechenden Hilfsangebote erwartet. Häufig wird das Kind als Symptomträger für die familiäre Problematik in den Fokus der pädagogischen Bemühungen gerückt. Während das Kind sich unter den strukturierten Rahmenbedingungen der stationären Jugendhilfe schnell anpassen kann, bleiben die häufig vielschichtig gelagerten Ursachen unerkannt und somit unbearbeitet. Bei den Eltern fremduntergebrachter Kinder handelt es sich in vielen Fällen um Menschen, die selbst in prekären Lebensverhältnissen aufgewachsen sind und auch aktuell durch eine Kombination von persönlichen und familiären Problemen belastet sind. Vor allem schwierige sozio-ökonomische Rahmenbedingungen und die damit verbundenen Auswirkungen sowie der Status als alleinerziehendes Elternteil stellen Risikofaktoren dafür dar, dass Eltern mit der Erziehung und der entwicklungsfördernden Organisation des Alltags ihrer Kinder überfordert sind und daher Hilfe zur Erziehung in Anspruch nehmen müssen (Faltermeier/ Stork 2017, 217). Die Herausnahme eines oder gar mehrerer Kinder ist für die Eltern zudem häufig mit Schuldgefühlen, Scham und sozialem Rückzug verbunden. Mit der Fremdunterbringung eines Kindes wird nicht nur das familiäre Zusammenleben und die elterliche Identität als Erziehungsperson infrage gestellt. Sie bedeutet auch, dass Eltern sich auf die neue Lebenssituation, die Zusammenarbeit mit einer Institution und den dort tätigen Fachkräften einlassen und 52 uj 2 | 2019 Partizipation von Eltern in der stationären Erziehungshilfe sich an die dazu an in der Regel klar vorgegebenen Strukturen der Kommunikation und Zusammenarbeit halten müssen. Die Konstellation, in der Elternpartizipation erfolgen kann, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Zunächst wirkt sich die individuelle Lebenssituation der Eltern aus. Berufstätigkeit, Bildungsstand, sonstige Belastungen sowie die finanzielle Situation sind eng mit den Möglichkeiten zur Beteiligung verknüpft. Auch mögliche Vorerfahrungen mit dem Helfersystem spielen eine Rolle für das Einlassen auf Partizipationsangebote für Eltern. Bedeutung der Elternarbeit und Elternpartizipation Häufig wird Elternpartizipation fälschlicherweise als untergeordneter Bestandteil von Elternarbeit betrachtet. Der Begriff Elternarbeit beschreibt die eher einseitige fachliche Beratung und Vermittlung von Kompetenzen und mit dem Ziel, die Eltern zu einer Veränderung ihres vermeintlich defizitären Erziehungsverhaltens zu veranlassen und damit auch die Situation des Kindes zu verbessern. Der Bedarf wird dabei in der Regel allein durch das Helfersystem definiert, d. h. durch das Jugendamt, die Schule oder von den Fachkräften des betreffenden Trägers. Dabei stellt sich die Beziehung zwischen Eltern und Fachkräften oft als Verhältnis zwischen Hilfeempfänger und Experten bzw. Expertinnen heraus, in dem es ein erhebliches Machtgefälle zu Ungunsten der Eltern gibt. Dies hat zur Folge, dass sich die Möglichkeiten von sorgeberechtigten Eltern, auf den Erziehungsprozess und die Gestaltung der Hilfe Einfluss zu nehmen, mit der Aufnahme des Kindes in einer Einrichtung deutlich reduzierten (Hansbauer/ Gies 2016). Elternpartizipation stellt jedoch eine eigene fachliche Disziplin dar, da sich sowohl wesentliche Teile der Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Fachkräften, die Ziele und Methoden sowie auch das Machtverhältnis zwischen den Beteiligten wesentlich vom Modell der Elternarbeit unterscheiden. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Haltung, dass die Eltern deren Kinder in einer Einrichtung leben, als Träger unveräußerlicher Rechte wahrgenommen werden, wie sie u. a. in Artikel 6 des Grundgesetzes oder in den §§ 1626 und 1688 BGB bestimmt sind. Der Fokus der Interaktion liegt hier nicht auf den Eltern, sondern auf der gemeinsamen Veränderung der Situation. Die Zusammenarbeit erfolgt auf echter Augenhöhe und wird in Form gemeinsamer Aushandlungsprozesse und Entscheidungen vollzogen, wo immer dies möglich ist. Das Ziel ist hierbei sowohl das Empowerment der Eltern als auch ihre aktive Mitwirkung an der Arbeit mit den Kindern und an der Gestaltung der Rahmenbedingungen zu erreichen. Während im Zuge der Elternarbeit vor allem diese selbst verändert werden sollen, vollziehen Eltern und Einrichtung Veränderungsprozesse im partizipatorischen Kontext gemeinsam. Eltern sind in diesem Modell der Zusammenarbeit keine reinen Empfänger von Hilfe, sondern sozial kompetente Akteure, die aktiv an der Gestaltung der Hilfe und an wesentlichen Entscheidungen beteiligt sind. Die Bedeutung der Elternpartizipation liegt neben der Sicherung der politisch gewollten und fachlich gebotenen Beteiligung der Betroffenen auch in der rechtlichen Dimension in Form der Wahrung der individuellen Grundrechte von Eltern und Kindern. Rechte und Pflichten stehen sich dabei nicht gleichberechtigt gegenüber. Denn Grundrechte existieren jederzeit und ohne dass Eltern sie sich durch Wohlverhalten gegenüber Einrichtungen und Diensten verdienen müssen. Vor diesem Hintergrund ist die konkrete Einbeziehung von Eltern in Entscheidungen als auch die Aufklärung über ihre Rechte zwingend erforderlich. Darüber hinaus ist nicht zu unterschätzen, dass ein hohes Maß an Transparenz für Eltern nicht nur unter dem Aspekt des Kinderschutzes dafür sorgt, dass institutionelle Fehlentwicklungen verhindert oder ggfs. korrigiert werden können. Eine offene Einrichtungs- 53 uj 2 | 2019 Partizipation von Eltern in der stationären Erziehungshilfe kultur, die Möglichkeiten zur Mitwirkung bereitstellt und die Einsicht in die pädagogische Arbeit und Felder für die Beteiligung bietet, schafft gegenseitiges Vertrauen und baut Hürden bei der Zusammenarbeit ab. Die Partizipation von Eltern ermöglicht zudem ebenso die Evaluation der eigenen Arbeit, wie die fachliche und konzeptionelle Weiterentwicklung der Einrichtung. Verschiedene Projekte zeigen, dass die gemeinsame Analyse von Schlüsselprozessen und die damit verbundene Integration von Erfahrungen von Eltern die Veränderung wesentlicher Elemente der heutigen Jugendhilfe ermöglichen und damit deren Qualität verbessert werden kann. So ist zum Beispiel die Aufnahmesituation aus Sicht des Trägers ein häufig in QM-Prozessen exakt beschriebener Vorgang, in dem die Handlungsschritte effizient und lösungsorientiert - und sicher mit guter Absicht -, in der Regel aber einseitig aus Sicht der Fachkräfte definiert werden. Für Eltern ist die emotional aufgeladene Situation der Heimunterbringung jedoch mit völlig anderen Fragen verbunden als für die Fachkräfte und der erste Kontakt von entscheidender Bedeutung für die Qualität der weiteren Zusammenarbeit. Daher macht es unter dem Aspekt der Multiperspektivität Sinn, gemeinsam die Gestaltung derart wichtiger Situationen aus dem jeweiligen Blickwinkel zu überprüfen und sie so zu verändern, dass möglichst alle Interessen Berücksichtigung finden. Das Leitziel der Elternpartizipation besteht demnach darin, innerhalb des Systems der Jugendhilfe eine Verantwortungsgemeinschaft von Eltern und Fachkräften herzustellen. Sozialpädagogische Herausforderungen Die Partizipation von Eltern im Kontext der Heimerziehung erfordert die Bereitschaft zur Veränderung bei allen am Hilfeprozess Beteiligten und bedarf der Überwindung einiger Herausforderungen. Zunächst ist die Herstellung einer entsprechenden partizipativ-fachlichen Haltung durch alle Hierarchieebenen innerhalb einer Einrichtung wie auch bei der Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern erforderlich. Dies bedeutet, die Veränderung von tradierten und Sicherheit gebenden Strukturen zuzulassen oder sie sogar selbst zu initiieren. Für viele Fachkräfte ist ein solcher Prozess mit dem Gefühl verbunden, Macht und Einfluss an Eltern abzugeben. Zudem sind Veränderungsprozesse mit Eigeninteressen von einzelnen Fachkräften, Teams und Einrichtungen verbunden. Offene Strukturen und das Gefühl, selbst beobachtet zu werden, wirken auf viele Fachkräfte verunsichernd, was den Aufbau von Widerstand nach sich zieht. So gilt es zur Sicherstellung der fachlichen Akzeptanz der Elternpartizipation, innerhalb der jeweiligen Institution für die Weiterentwicklung der entsprechenden Konzeptbausteine zu werben und die Mitarbeitenden an diesem Prozess zu beteiligen. Zudem kommt den Trägern auch die Aufgabe zu, für die konzeptionellen und strukturellen Rahmenbedingungen und Ressourcen zu sorgen. Denn Aushandlungsprozesse fordern zusätzliche zeitliche und materielle Ressourcen ein. Dabei bedürfen auch die sich beteiligenden Eltern einer besonderen Berücksichtigung. Denn anders als Fachkräfte müssen vor allem berufstätige Eltern ihre Zeit und auch Geld zum Beispiel für Fahrtkosten selbst einbringen, Betreuungsmöglichkeiten für weitere Kinder finden usw. Hierfür braucht es konkrete Lösungen in Form von Finanzmitteln und Unterstützungsangeboten, die sicherstellen, dass Eltern sich auch engagieren können. Eine weitere Herausforderung stellt der fachliche Diskurs zwischen den UnterstützerInnen und KritikerInnen der Elternpartizipation dar. Denn die Abwägung, wie viel Beteiligung man Eltern vor dem Hintergrund teilweise tiefgreifender familiärer und individueller Probleme ermöglichen kann, ohne einem Kind zu schaden, ist ein immer wiederkehrender Bestandteil der Partizipationsdebatte. 54 uj 2 | 2019 Partizipation von Eltern in der stationären Erziehungshilfe In direktem Zusammenhang dazu steht das von BedenkenträgerInnen häufig angeführte Argument, dass Klienten der Kinder- und Jugendhilfe durch eingeschränkte individuelle Kompetenzen und die Belastung durch krisenhafte Situationen überfordert seien oder über zu geringe Motivation verfügen würden, um sich aktiv zu beteiligen. Diese Divergenz von Leistungsfähigkeit trifft in unterschiedlichem Maße jedoch ebenso auf Fachkräfte der stationären Jugendhilfe zu, denn auch unter diesen gibt es mehr oder weniger Kompetenz, Engagement und Leistungsbereitschaft. Insofern kann die Diversität der Eltern auch als Ausdruck sozialer Gerechtigkeit verstanden werden. Darüber hinaus muss unter den Fachkräften Überzeugungsarbeit dafür geleistet werden, dass die Motivation zur Beteiligung nicht von selbst entsteht, sondern besonders zu Beginn des Prozesses bewusst und nachhaltig durch die Fachkräfte hergestellt werden muss. Partizipationsmöglichkeiten werden dann erfolgreich genutzt, wenn sie attraktiv gestaltet und methodisch an den Kompetenzen und Interessen der Eltern orientiert sind. In direkter Anknüpfung an den fachlichen Diskurs rund um die Gestaltung der Partizipationsmöglichkeiten von Eltern ist das Spannungsfeld der divergierenden, aber gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Interessen und Rechten von Kindern, Eltern und Einrichtung zu nennen. Die pädagogische Kunst besteht am Ende darin, dieses Spannungsfeld zwischen Kinderinteressen und Beteiligung in der stationären Jugendhilfe so auszutarieren, dass durch den Einsatz geeigneter Methoden die Rechte und Interessen aller Beteiligten gewahrt bleiben und Eltern und Kinder so weit wie möglich selbst zu deren Vertretung befähigt werden. Innovative Praxisansätze und Grenzen der Elternpartizipation Elternpartizipation kann sowohl auf einer individuellen als auch auf einer kollektiven Ebene stattfinden. Um die Rolle der Eltern und die Wege der Zusammenarbeit neu zu definieren, bietet sich die Entwicklung und Erprobung einzelner Konzeptbausteine an, die in beiden Bereichen verortet sind. Dabei hat es sich bewährt, die relevanten Themen und deren Ausgestaltung von Beginn an gemeinsam in der Kombination von Eltern und Fachkräften zu erarbeiten. Die aktive Einbindung in den Alltag einer Wohngruppe und an Entscheidungen fördert das Empowerment der Eltern und deren elterliche Erziehungskompetenz. Zudem dockt Alltagsbeteiligung an deren Lebenswelt an und ermöglicht eine partnerschaftliche Kooperation im Sinne des Kindes. Die Jugendhilfe wird somit zu einer in Koproduktion erbrachten Leistung. Eltern können unter Anleitung der Pädagogen und Pädagoginnen bestimmte Aufgaben im Tagesablauf einer Gruppe übernehmen, aber gleichzeitig auch ihre persönlichen Kompetenzen einbringen, zum Beispiel wenn ein Koch oder Handwerker gemeinsam mit Kindern und Mitarbeitenden eine Aktion oder ein Projekt durchführt. Eltern werden damit zu einer Ressource für ihre Kinder und nicht nur defizitär, sondern anhand ihrer Fähigkeiten wahrgenommen und wertgeschätzt. Durch das gemeinsame Handeln und das gegenseitige Lernen voneinander wird der Raum für gemeinsame Aushandlung und Entscheidungen geschaffen. Diese können sich sowohl auf gruppenbezogene Themen beziehen als auch auf konkrete Maßnahmen für ein einzelnes Kind. Die Erfahrung zeigt, dass zum Beispiel gemeinsame Absprachen zum viel diskutierten Thema Handy und Mediennutzung in der Wohngruppe auch nach einer Rückführung Nachhaltigkeit besitzen, wenn sie zusammen entschieden wurden und zu der Lebenswelt der Familie passen. Auf der einen Seite ändert sich der elterliche Blick auf die Fachkräfte. Es ist entlastend zu erleben, dass auch ausgebildete PädagogInnen Schwierigkeiten damit haben 55 uj 2 | 2019 Partizipation von Eltern in der stationären Erziehungshilfe können, ihre Ideen, Aufträge und Regeln gegenüber Kindern durchzusetzen. Auf der anderen Seite dienen die Fachkräfte als Modell, von dem Eltern positives Erziehungsverhalten lernen können. Die gemeinsame Reflexion entsprechender Erlebnisse ermöglicht einen Austausch auf Augenhöhe und verbessert die Beziehung zwischen Eltern und Mitarbeitenden. Dies hat zur Folge, dass auch die Kinder erheblich profitieren. Denn durch das Erleben der guten Zusammenarbeit gewinnen sie das Vertrauen, dass gute Entscheidungen für sie getroffen werden. Dies erleichtert ihnen das Einlassen auf die Unterbringung und reduziert belastende Loyalitätskonflikte. Dies wirkt sich in der Regel positiv auf die Entwicklung des Kindes aus. Analog zu dem in der Einrichtung bereits bestehenden System für die Kinder und Jugendlichen wurde bei der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land in einem Projekt von Fachkräften, Eltern und Studierenden der FH Dortmund ein Anregungs- und Beschwerdemanagement für Eltern mit der Besonderheit eingeführt, dass sowohl ein Mitglied der Geschäftsleitung als AnsprechpartnerIn zur Verfügung steht, aber auch zwei Elternteile, an die sich andere Eltern jederzeit und direkt per Mail oder Telefon mit Anliegen, Rückmeldungen oder Kritik wenden können. Zu diesem Zweck wurde eigens eine Hotline eingerichtet und gemeinsam das Verfahren zum Umgang mit eingehenden Rückmeldungen definiert. Eltern sind somit sowohl an der Feststellung des Bedarfs beteiligt als auch an der Entwicklung der entsprechenden Lösungen. Um ein Angebot zum Austausch und zur Vernetzung zwischen Eltern untereinander und ebenso zwischen Eltern und den Mitarbeitenden zu schaffen, wurde ein Elterncafé eingerichtet, das gemeinsam von Fachkräften und Eltern gestaltet und besucht wird. Hier können Eltern ihren Bedarf an Beratung und Unterstützung mitteilen, aber auch jede sonstige Rückmeldung in einem niederschwelligen Rahmen artikulieren. Das Elterncafé ist einerseits ein Ort der Begegnung, aber auch ein Medium der konkreten Zusammenarbeit und Einflussnahme für Eltern. Die beteiligten Fachkräfte dienen dabei als Multiplikator für ihre Teams. Das Elterncafé hat also eine einer Lobbygruppe für Eltern ähnliche Funktion. In 2019 wird zudem in einer Wohngruppe das Thema Elternpartizipation als wesentliches Konzeptmerkmal ausgearbeitet, um die Eltern umfassend in die Konzeptentwicklung und damit in die Definition des Hilfebedarfs und die Gestaltung der Maßnahme einzubinden. Eltern nehmen also direkten Einfluss auf die Ausrichtung der pädagogischen Arbeit. Denkbar sind in diesem Zusammenhang auch die Durchführung von Elternfortbildungen und die Einrichtung von Supervisionsangeboten für Eltern und Fachkräfte. In vielen Einrichtungen existieren seit einigen Jahren bereits Modelle, um Kinder und Jugendliche an Personalentscheidungen zu beteiligen. In Planung ist in diesem Zusammenhang aktuell die Möglichkeit, Eltern die Gelegenheit zu geben, sich im Rahmen von Vorstellungsgesprächen und Hospitationen in Bewerbungsverfahren einzubringen. Denn wie auch die jungen Menschen verfügen Eltern über gute Kenntnisse darüber, welche Personen und welche Kompetenzen der Förderung ihres Kindes dienlich wären. Auch dies wird eine deutliche Einflussnahme auf die Definition des Förderbedarfes und der inhaltlichen Gestaltung in einer Einrichtung bedeuten. Ebenso in der Entwicklung befindet sich derzeit ein Modell, mit dessen Hilfe Eltern an Teamsitzungen teilnehmen und dort ihre Sicht auf ihren eigenen Fall, auf den Entwicklungsstand ihres Kindes sowie mögliche Ideen zur Förderung und Zusammenarbeit einbringen können. Sie erhalten somit Einblick in die Arbeit des Teams und die Möglichkeit, selbst Einfluss auf diagnostische und pädagogische Arbeit der Gruppe zu nehmen. 56 uj 2 | 2019 Partizipation von Eltern in der stationären Erziehungshilfe Natürlich ist die Partizipation von Eltern aber auch Grenzen und Einschränkungen unterworfen. Beteiligungsmöglichkeiten setzen selbstverständlich nicht die Priorität der Sicherung des Kindeswohls außer Kraft. Eltern, die durch ihr Verhalten ihrem Kind erheblich geschadet oder sogar eine Traumatisierung herbeigeführt haben, können natürlich nicht im persönlichen Schutz- und Schonraum des Kindes ein- und ausgehen. Ein weiteres Problem bei der Gestaltung nachhaltiger Partizipationsprozesse für Eltern ist, dass die stationäre Jugendhilfe einer erheblichen Fluktuation unterworfen ist und zwar sowohl aufseiten der Eltern im Falle der Beendigung von Maßnahmen als auch unter den Mitarbeitenden durch die üblichen personellen Veränderungen, denen eine Einrichtung unterworfen ist. Unter den gegebenen Umständen scheint es daher einerseits sinnvoll, die Beteiligungsformen eher kurzbis mittelfristig zu planen. Andererseits ist eine intensive Beteiligung nur innerhalb eines überschaubaren Sozialraumes möglich. Die heutige stationäre Jugendhilfe ist durch ihre Ökonomisierung jedoch wirksamen Effizienzkriterien unterworfen, die eine „Versäulung“ der Jugendhilfe und Spezialisierung in differenzierte Spezialangebote zur Folge haben. Auf der Basis der §§ 27 - 35 SGB VIII ist eine Landschaft strikt voneinander abgegrenzter und nicht miteinander kombinierbarer Angebote der Erziehungshilfe entstanden, zwischen denen keinerlei Durchlässigkeit und damit auch keine Flexibilität existiert. An der Feststellung des Bedarfes wie auch an der Gestaltung der Hilfen sind die Eltern als direkt Betroffene in der Regel nicht beteiligt. Dies hat zur Folge, dass Kinder nicht zwingend in der Nähe ihres bisherigen Sozialraumes untergebracht werden und die Anreise von Eltern und damit auch ihre Mitwirkung aus zeitlichen und finanziellen Gründen erheblich erschwert oder sogar verhindert wird. Nicht vergessen werden darf auch, dass Mitarbeitende und Einrichtungen ebenso eigene Interessen und Rechte haben, die es zu beachten gilt. Es muss daher sichergestellt sein, dass der Datenschutz, die Wahrung der als notwendig betrachteten Grenzen und die persönliche Sicherheit stets gewährleistet sind. Empfehlungen an die Kinder- und Jugendhilfe Vor dem zuvor ausgeführten Hintergrund lassen sich einige Erfolgskriterien thesenhaft formulieren, die eine gelingende und partizipatorische Zusammenarbeit von Eltern und Fachkräften im System der Jugendhilfe begünstigen: Wenn Elternpartizipation ein fester Bestandteil der stationären Kinder- und Jugendhilfe werden soll, dann muss sie konzeptionell und strukturell verankert und müssen die entsprechenden Angebote mit den notwendigen Ressourcen personeller und finanzieller Art ausgestattet sein. Nur unter angemessenen Rahmenbedingungen werden Strukturen so zu gestalten sein, dass sie den notwendigen Raum für Entwicklungen bieten. Die Leitungen und Leistungsträger in Einrichtungen müssen Vorbild in Bezug auf die partizipatorische Haltung sein und immer wieder in den fachlichen Diskurs mit Mitarbeitenden gehen. Dabei ist die Schaffung von Partizipationsmöglichkeiten und demokratischen Strukturen auch auf Mitarbeiterebene ebenso von Bedeutung wie die Formulierung klarer Vorgaben und Erwartungen. Elternpartizipation muss vernetzt zwischen freien und öffentlichen Trägern erfolgen. Leistungserbringer und Kostenträger bewegen sich in einem Spannungsfeld von Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit, das durch divergierende Interessen Konflikte zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern entstehen lässt (Merchel 2004, 71). Das Modell der Entgeltverhand- 57 uj 2 | 2019 Partizipation von Eltern in der stationären Erziehungshilfe lung führt unter diesem Einfluss dazu, dass die Adressaten faktisch kaum Einfluss auf die Erhebung von Bedarfslagen und die konkrete Gestaltung der Hilfemaßnahmen haben, obwohl sie davon unmittelbar betroffen sind. Partizipationsmöglichkeiten werden somit durch die Mechanismen des Sozialmarktes verhindert. Konkret ist damit die Notwendigkeit zur Vernetzung verbunden, damit Partizipation nicht nur aufseiten der Einrichtungen ermöglicht wird, sondern durch ein ganzheitliches, abgestimmtes Konzept sichergestellt ist, dass Klienten auch durch die fallführenden Jugendämter umfassend an der Darstellung ihrer Fallgeschichte, deren Interpretation und der inhaltlichen Ausgestaltung beteiligt werden. Ein weiteres Erfolgskriterium stellt die Qualifikation sowohl der Fachkräfte als auch der Eltern dar. Neben der entsprechenden Grundhaltung erfordert die Umsetzung von Partizipation Fachwissen auf verschiedenen Ebenen: Kenntnisse über Methoden sind ebenso von Bedeutung wie Selbsterfahrung und die reflexive Beschäftigung mit dem Thema Macht. Partizipation in der Jugendhilfe muss verstärkt empirisch erforscht werden. Bisher existiert nur eine sehr dürftige Datenlage im Hinblick auf deren konkrete Umsetzung, sowie die Frage nach dem damit verbundenen Erfolg aus Sicht der Beteiligten (Stork 2007, 20). Dabei sollten die Einrichtungen nicht nur ihre eigenen Maßstäbe zur Evaluation anlegen, sondern im Sinne der Qualitätssteigerung ihrer eigenen Arbeit besonders die Klienten mit einbeziehen. Dies würde dazu führen, dass die Positionen von BefürworterInnen und GegnerInnen von Beteiligung mehr auf Fakten und weniger auf Ideologien gestützt wären (Merchel 2006, 192). Abschließend ist festzustellen, dass die Auflösung tradierter und defizitärer Elternbilder, die Bereitschaft zu Veränderungen, der Mut zur Entwicklung und Erprobung neuer Methoden und ein fundierter fachlicher Diskurs dafür sorgen können, dass Elternpartizipation ein selbstverständlicher Bestandteil der modernen Jugendhilfe wird. Die konsequente Orientierung an den Ressourcen von Eltern und deren Wertschätzung als kompetente Partner in einer Verantwortungsgemeinschaft müssen ebenso Einzug in die Konzepte und praktische Arbeit der Einrichtungen halten. Da die Herstellung der dazu notwendigen Haltung und die Bildung einer entsprechend partizipativen Organisationskultur ein aufwendiger Prozess ist, der durch Fortbildungen, Strukturen und Konzepte kaum ausreichend herzustellen sein dürfte, sollte die Kinder- und Jugendhilfe besonderes Augenmerk darauf legen, durch die Verbreitung von Best-Practice-Beispielen für das Lernen anhand von Erfolgsmodellen zu sorgen. Rainer Siekmann Evangelische Jugendhilfe Bergisch Land gGmbH Waldhofstr. 10 42857 Remscheid Tel. (0 21 91) 7 82 26 48 E-Mail: rainer.siekmann@ejbl.de Literatur Faltermeier J., Stork R. (2017): Interessenvertretung von Eltern mit Kindern in Erziehungshilfen. Forum Erziehungshilfen 4, 217 - 220 Faltermeier, J. (2012): Herkunftsfamilien und Fremdunterbringung. Nachrichtendienst Deutscher Verein 3, 111 - 116 Gehres, W. (2005): Jenseits von Einsatz und Ergänzung: Die Pflegefamilie als eine andere Ergänzung. 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Juventa, Weinheim/ München Stork, R. (2007): Kann Heimerziehung demokratisch sein - Eine qualitative Studie zum Partizipationskonzept im Spannungsfeld von Theorie und Praxis. Juventa, Weinheim/ München