unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art17d
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Emotionen in der Sozialen Arbeit
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Petra Bauer
Emotionen sind in der Sozialen Arbeit gleichermaßen normal wie herausfordernd. Die damit verbundenen Irritationen und Unsicherheiten müssen bearbeitet werden, sie stellen aber auch eine wichtige Erkenntnisquelle dar.
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98 unsere jugend, 71. Jg., S. 98 - 104 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art17d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Emotionen in der Sozialen Arbeit Emotionen sind in der Sozialen Arbeit gleichermaßen normal wie herausfordernd. Die damit verbundenen Irritationen und Unsicherheiten müssen bearbeitet werden, sie stellen aber auch eine wichtige Erkenntnisquelle dar. von Petra Bauer Jg. 1963; Professorin für Erziehungswissenschaft an der Eberhard-Karls- Universität, Tübingen Emotionen und Gefühle In der Fallbesprechung im Team einer Wohngruppe der stationären Erziehungshilfe berichtet eine Mitarbeiterin von ihren Schwierigkeiten, das wechselhafte, teilweise total „dreiste“ Verhalten einer Bewohnerin auszuhalten. Sie schildert eindrucksvoll, welche Gefühle die Kontakte mit diesem Mädchen in ihr auslösen, was sie einfach „fuchsig“ macht und wie sie selbst eigentlich „mit-zicken“ möchte (Bauer et al. 2018, 122; s. a. Henn 2015). Letztlich gelingt es dem Team in dieser Besprechung, eine Verständigung darüber zu erzielen, wie die Mitarbeiterin die für sie irritierenden Gefühle als Teil ihres professionellen Selbstverständnisses integrieren kann. Dieses Beispiel illustriert, welche Herausforderungen in der Wahrnehmung, Bearbeitung und Reflexion von Emotionen alltäglich in allen Feldern der Sozialen Arbeit zu bewältigen sind. Während im Alltag eher von Gefühlen gesprochen wird, bezeichnet Emotion ein wissenschaftliches Konzept, das allerdings zunehmend in die Alltagssprache einfließt. Alltagssprachlich werden Emotion und Gefühl dabei häufig gleichgesetzt, wohingegen in der wissenschaftlichen Debatte Unterscheidungen zwischen beiden Begriffen getroffen werden. So wird beispielsweise in der psychologischen Forschung Emotion als Sammelbegriff verwendet, mit dem „innere, psychische Prozesse“ beschrieben werden, die durch ein „für sie typisches psychisches Erleben“ (Frenzel et al. 2015, 202) charakterisiert sind. Dabei zeichnen sich Emotionen dadurch aus, dass sie mit einem stark wertenden Charakter verbunden sind. Das heißt, dass Situationen und Ereignisse auf der Basis von Emotionen als angenehm oder unangenehm, als kontrollierbar oder nicht kontrollierbar wahrgenommen werden und dabei häufig auch mit starken physiologischen Reaktionen einhergehen. Gefühle bezeichnen aus dieser psychologischen Perspektive dann die „subjektive Komponente“ der Emotion, also das konkrete und letztlich nur individuell wahrnehmbare Erleben von Angst, Freude, Trauer, Zorn etc. (Brandstätter et al. 2018, 168). Auch wenn dieses Erleben nur der Person selbst zugänglich ist, sind Emotionen in der Regel von außen gut erkennbar: „An einem traurigen Gesichtsausdruck oder einer gebückten Haltung können andere ablesen, wie es einer Person geht, oder wenigstens Vermutungen darüber anstellen. Ebenso verhält es sich mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck, einer aufrechten 99 uj 3 | 2019 Emotionen in der Sozialen Arbeit Haltung und einem dynamischen Gang als mögliche Indikatoren für positive Emotionen“ (ebd.). Dabei hat sich die psychologische Forschung immer wieder damit beschäftigt, herauszufinden, ob es Emotionen gibt, die kulturübergreifend und universell bei Menschen auftreten. Auch wenn es darüber letztlich keinen klaren Konsens gibt, werden von vielen ForscherInnen Freude, Traurigkeit, Ärger, Angst und Wut als „Grundemotionen“ betrachtet (Spisak 2017), die in allen Kulturen mit gleichen, sehr typischen Ausdrucksformen einhergehen und aus denen ähnliche Handlungstendenzen abgeleitet werden. Interessant ist aber, dass die spezifischen Ausdrucksformen dieser Grundemotionen innerhalb einer kulturell vertrauten Gruppe wohl leichter erkannt werden können als in fremden Gruppierungen (Brandstätter et al. 2018, 167). Dieser Aspekt verweist darauf, dass es auch zu kurz gegriffen wäre, Emotionen allein als persönliche Ausdrucksformen zu begreifen. Emotionen sind immer auch eine hochgradig soziale Angelegenheit, die soziale Wahrnehmungen und Interaktionen in spezifischer Weise strukturieren. Sie „,verkörpern‘ jede Form der Begegnung mit anderen Personen, indem sie körpernahe Signale vermitteln, wie sich jemand in einer Situation selbst aber auch das jeweilige Gegenüber wahrnimmt und einschätzt“ (Neckel/ Pritz 2016, 2). Bedeutung von Emotionen in der Sozialen Arbeit Zunächst folgt daraus erstens mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, dass Soziale Arbeit wie jede Form beruflicher Tätigkeit kontinuierlich von Emotionen begleitet ist. Eine positive Stimmung im Team, das konstruktive Gespräch mit der/ dem Vorgesetzten, aber auch eine unklare Situation in der Einrichtung und konflikthafte Zuspitzungen in der Zusammenarbeit - all dies wird in Form von wechselnden Emotionen in der Arbeit unmittelbar wirksam und auch sozial bedeutsam. Gut untersucht ist in diesem Zusammenhang beispielsweise das Verhältnis von Emotion und Motivation (Nerdinger 2018). Betrachtet man jedoch die spezifische Rolle von Emotionen in der Sozialen Arbeit, sind drei Aspekte besonders wichtig: Im ersten Aspekt geht es um die Frage, welchen Regeln das Sichtbarwerden von Emotionen folgt. Emotionen stellen zwar sehr körpernahe Wahrnehmungen dar und sind auf physiologischer Ebene nicht in allen Facetten vollständig kontrollierbar, dennoch sind soziale Interaktionen dadurch charakterisiert, dass nicht jede Emotion in jeder Weise gezeigt werden kann. Soziologisch wird hier von „Emotionsregeln“ (Neckel 2005) gesprochen, die in übergreifender Weise gesellschaftlich und kulturell geprägt sind, aber in allen Formen sozialer Interaktion spezifisch ausgeformt sind. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass in der Arbeitswelt andere Emotionen ‚gezeigt‘ werden können als im Privatleben. Nicht jedes emotionale Erleben hat in der Arbeitswelt seinen Platz und kann dort unmittelbar ausgedrückt werden. Auch wenn persönliche Erlebnisse einzelne MitarbeiterInnen traurig stimmen, besteht in vielen beruflichen Kontexten die stillschweigende Erwartung, dass betroffene MitarbeiterInnen diese Gefühle soweit regulieren, dass sie ihre Arbeitsleistung zumindest nicht über längere Zeit beeinträchtigen. Das Wahrnehmen von Wut und Ärger in der Zusammenarbeit mit KollegInnen und Vorgesetzten mündet in der Regel nicht in direkte aggressive Handlungen, sondern findet ggf. in moderater Weise seinen Ausdruck. Auch aus individueller Perspektive ist es häufig so, dass eine Person nicht jedes subjektiv empfundene Gefühl unmittelbar zum Ausdruck bringen möchte, sondern in der Regel sehr differenziert abwägt, wie viel sie von ihrem Erleben sichtbar werden lässt. Diese Überlegungen verweisen auf die spannende Frage, welche Emotionsregeln in der Arbeitswelt generell, aber auch in einem spezifischen Arbeitszusammenhang gelten (Rastetter 2008) und wie es in der Arbeit gelingt, diese Emotionen zu regulieren. Emotionsregeln können 100 uj 3 | 2019 Emotionen in der Sozialen Arbeit in diesem Sinne auch verstanden werden als „Darstellungsregeln“, in denen sich dezidierte „Erwartungen an das eigene Erleben und den Erwartungshorizont der Interaktionspartner“ ausdrücken (ebd., 67f ). Diese Darstellungsregeln lassen sich im Blick auf unterschiedliche Organisationen und ihre jeweils spezifischen „Gefühlskulturen“ betrachten. Gefühlskulturen sind in der Arbeitswelt in die Organisationskultur eingelagert und dabei teilweise durchaus expliziert, z. B. in Leitbildern und Programmen. Häufiger bleiben sie dennoch implizit und damit auch selten offen verhandelt. Die Frage, welche Gefühlskultur die jeweilige Einrichtung prägt, ist in diesem Sinne gerade für Soziale Arbeit eine hochrelevante, wenn auch wenig betrachtete Seite der Auseinandersetzung mit den organisatorischen Rahmenbedingungen der Arbeit. Ein zweiter Aspekt, mit dem sich die Bedeutung von Emotionen ermessen lässt, zeigt sich im Blick auf die Gefährdung der Berufstätigkeit durch Formen der emotionalen Erschöpfung und des Burnouts. Berufstätige in der Sozialen Arbeit gehören hier, wie Personen in anderen helfenden Berufen, nach wie vor zu den Risikogruppen (Reicher 2018). Interessant ist, dass die inzwischen weitgehend vergessene Geschichte der ‚Entdeckung‘ dieses Phänomens eng an Soziale Arbeit gebunden ist. Der New Yorker Psychoanalytiker, Herbert Freudenberger, hat dieses Phänomen zum ersten Mal im Kontext seiner Arbeit mit drogenabhängigen Personen beschrieben und dabei „neben der schieren Überlastung die Erwartungsenttäuschung ins Zentrum gestellt“ (Neckel/ Wagner 2013, 8). Freudenberger rückte ein „übergroßes Engagement“ (ebd.) ins Zentrum der ursprünglichen Konzeption von Burnout, das bei Helfenden letztlich dazu führe, dass individuelle Erwartungen und strukturell geprägte Möglichkeiten nicht mehr in Einklang zu bringen sind. In neueren Konzeptionen werden Anforderungen an ausgeprägte Leistungserbringung, eine starke Identifikation mit der Arbeit und eine kontinuierliche Selbstoptimierung zur Realisierung von Arbeitszielen im Zusammenwirken von individuellen und strukturellen Faktoren als mögliche Gründe für die weite Verbreitung von beruflichen Erschöpfungssymptomen und Symptomen eines Burnouts beschrieben (ebd., 13ff ). Dabei lässt sich emotionale Erschöpfung auch als Ausdrucksform dafür betrachten, dass „das Selbst nicht mehr in der Lage [ist], sich gemäß gesellschaftlicher Anforderungen […] zu inszenieren, herangetragene Erwartungen zu bedienen - und erst recht kaum, dabei ihre Gefühle zu bearbeiten“ (Bauer et al. 2018, 21). Ein dritter, für Soziale Arbeit zentraler Aspekt verweist auf den Umstand, dass Emotionen in der alltäglichen Praxis Sozialer Arbeit nicht einfach nur erlebt werden, sondern dass sie einen zentralen Bestandteil der eigentlichen Arbeit darstellen. Soziale Arbeit gehört zu den interaktionsbasierten Dienstleistungsberufen, in denen Emotionen eine besondere Funktion bekommen, um die Dienstleistung überhaupt zufriedenstellend erbringen zu können (Bauer et al. 2018 a, 9f ). Soziale Arbeit ist in diesem Sinne immer auch „Emotionsarbeit“. Wie Hochschild (1990) auf der Grundlage einer Untersuchung der Arbeit von Stewards und Stewardessen ausarbeitet, werden Emotionen in Dienstleistungsberufen in besonderer Weise dazu genutzt, die Arbeitsanforderungen zu erfüllen und übergeordnete Unternehmensziele zu erreichen. Ein von Hochschild genauer untersuchtes Feld ist die Arbeit von FlugbegleiterInnen. Hier zeigt sich, dass FlugbegleiterInnen eine kontinuierliche Freundlichkeit im Umgang mit Fluggästen als selbstverständlicher Teil der Arbeitsleistung abverlangt wird. Auch Soziale Arbeit kann in diesem Sinne als eine Dienstleistung verstanden werden, die in der Gestaltung von Arbeitsbeziehungen mit AdressatInnen auf einen bewussten und regulierten Ausdruck von Emotionen angewiesen ist (z. B. gerade auch in Form von Freundlichkeit). 101 uj 3 | 2019 Emotionen in der Sozialen Arbeit Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, die Arbeit an und mit Emotionen in der Sozialen Arbeit mit der Dienstleistungsarbeit im Profitbereich gleichzusetzen. Emotionsarbeit geht in der Sozialen Arbeit und in anderen pädagogischen oder psychologischen Tätigkeiten sehr viel weiter. Wenn Fachkräfte im Verkauf eines Unternehmens freundlich zu ihren KundInnen sind, dient dies der Förderung der Kaufbereitschaft und ggf. der zufriedenstellenden Abwicklung des Kaufgeschäfts. Wenn Fachkräfte in der Sozialen Arbeit freundlich sind, dient dies der Schaffung einer Arbeitsbeziehung, die die Grundlage dafür bildet, dass bei AdressatInnen persönliche, familiäre und/ oder berufliche Veränderungen, Veränderungen der Lebensführung und der gesamten Lebenssituation überhaupt möglich werden. Damit stellen Emotionen eine zentrale Grundlage dafür dar, dass mit AdressatInnen an der Veränderung von massiven lebensweltlichen Problemstellungen gearbeitet werden kann. Für die Soziale Arbeit haben dies vor allem psychoanalytisch orientierte KollegInnen, wie Burkhard Müller und Margret Dörr, schon früh betont und die damit verbundenen Anforderungen herausgearbeitet (Dörr/ Müller 2012; Müller 2012; Müller 2018). Dazu gehört zum einen die Herausforderung, sich emotional, als Person immer wieder von Neuem auf die Problemstellungen der AdressatInnen einzulassen und sich davon auch berühren zu lassen. Im Gegenzug erfordert professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit eben nicht nur Nähe, sondern genauso Distanzeinnahme und Rückzug auf die berufliche Rolle und den spezifischen fachlichen Auftrag. Erst diese letztlich paradoxe Verschränkung von Nähe und Distanz ermöglicht es, Probleme der körperlichen, seelischen und rechtlichen Verletzbarkeit des Menschen zu bearbeiten (Müller 2018). Damit ist die Regulierung von Emotionen gerade im Blick auf die Bearbeitung des Nähe-Distanz-Verhältnisses ein konstitutiver Bestandteil einer sich als professionell verstehenden Arbeit. Emotionsarbeit heißt dann nicht nur, die eigenen Gefühle differenziert wahrzunehmen und im Blick auf das Verhältnis mit den AdressatInnen einzuordnen, sondern ebenso die durch die AdressatInnen ausgelösten Gefühle als Teil des Problems zu verstehen. Was im psychoanalytischen Sinn mit dem Begriffspaar von Übertragung und Gegenübertragung gefasst wird, verweist darauf, dass Gefühle, die in der konkreten Zusammenarbeit mit AdressatInnen der Sozialen Arbeit wahrgenommen werden, immer auch als Teil der zu bearbeitenden Probleme betrachtet werden müssen. Themen und Felder der Emotionsarbeit in der Sozialen Arbeit Dies lässt sich im Blick auf einzelne Felder und spezifische Emotionen durchaus konkretisieren, wie im Folgenden an zwei Beispielen aufgezeigt werden soll. Beispiel 1: Soziale Arbeit ist in vielen Bereichen und Feldern auf Alltagsnähe ausgerichtet und setzt als Teil ihres fachlichen Selbstverständnisses ja auch gerade auf diese Nähe zur Lebenswelt der AdressatInnen (Thiersch 2015). Dass damit besondere Anforderungen und Herausforderungen verbunden sind, lässt sich beispielsweise im Blick auf die Arbeit in der Heimerziehung verdeutlichen. In der alltagsbasierten Arbeit mit belasteten Kindern und Jugendlichen ist das im alltäglichen Zusammensein fundierte Maß an Nähe die Grundlage für eine tragfähige Beziehung, aber auch dafür, dass eine Wohngruppe für die dort lebenden Kinder und Jugendlichen nicht nur ein temporärer Durchgangsort, sondern tatsächlich auch ein neue Wege eröffnender Lebensort sein kann. Es ist also ebenso die Voraussetzung dafür, dass in diesem Rahmen positive Entwicklungsprozesse initiiert werden können. In dieser Weise ist Heimerziehung, wie Müller (2012, 149) es nennt, „strukturell darauf angelegt“, einen hohen Grad an Nähe zu erzeugen. Dies führt dazu, dass sich hier das „Nähe-Distanz-Dilemma“ (ebd.) in be- 102 uj 3 | 2019 Emotionen in der Sozialen Arbeit sonderer Härte zeigt und häufig eben auch die kurzzeitigen oder auch länger anhaltenden emotionalen Verstrickungen befördert, die im eingangs angeführten Beispiel zutage getreten sind. Diese lassen sich zwar schnell als Zeichen eines aus der Balance geratenen Nähe-Distanz- Verhältnisses interpretieren, damit ist aber noch wenig erreicht. Einerseits besteht die Herausforderung für Fachkräfte darin, situativ angemessen zu reagieren, was häufig bedeutet, die eigenen Emotionen zu kontrollieren und nicht einfach auszuagieren und dennoch als Person ‚sichtbar‘ zu bleiben (Schröder 2017). Andererseits geht es darum, das jeweilige emotionale Erleben auch als Teil einer gemeinsam zu bewältigenden Problemkonstellation zu interpretieren und für ein Fallverstehen produktiv werden zu lassen. Emotionen werden damit wichtig als Botschaften, deren Interpretation bessere Zugänge zum Erleben von AdressatInnen ermöglicht. Als solche können sie aber erst im Nachhinein wahrgenommen und entschlüsselt werden (Müller 2012). Soziale Arbeit zeigt sich daher nicht nur in diesem Feld als eine kontinuierliche Emotionsarbeit, die nicht nur die Klärung und Regulierung der „eigenen“ Gefühle der Fachkräfte beinhaltet, sondern auch auf die Arbeit an „fremden Gefühlen“ zielt (Schröder 2017, 182ff ). Beispiel 2: Ein zweites Beispiel soll bezogen auf Scham illustrieren, welche Bedeutung dem Erleben spezifischer Emotionen zukommen kann. Scham stellt sich auf individueller Ebene als Folge von nach außen besonders deutlich erkennbaren Normverletzungen ein (Magyar- Haas 2018). Scham bedeutet, dass eine Person sich im eigenen Empfinden entgegen wahrgenommener und verinnerlichter Normen einer Situation verhält und dass damit eine wahrgenommene oder vermutete Bloßstellung verbunden ist. Scham hat auf diese Weise auch eine besondere Funktion in der Reproduktion eines normgerechten Verhaltens: „Unter der Perspektive der Bearbeitbarkeit und Regulierbarkeit dieses Gefühls legt gerade sein plötzliches Auftreten, seine körperliche Erscheinungsweise offen, dass Scham zunächst kaum kontrolliert werden kann“ (ebd., 19). Das heißt, das situativ auftretende Manko, gegen spezifische Normen zu verstoßen, wird als persönliches Defizit erlebt und verarbeitet (Lorenz et al. 2018, 217). Schamgefühle können in diesem Sinne auch als wertende Stellungnahmen zu sozialen Situationen, aber weiter gefasst auch zu sozialen Verhältnissen verstanden werden. Sie sind an gesellschaftliche Normen zurückgebunden, die die betreffenden Personen aber für sich als gültig anerkennen (ebd., 218). Empirische Studien, die sich mit den Wahrnehmungen von TafelnutzerInnen beschäftigen, zeigen, wie stark bereits die Notwendigkeit, in diesem Rahmen Hilfe annehmen zu müssen, von Scham besetzt sein kann und wie sehr die Nutzung dieses Hilfeangebots als Symbol des gesellschaftlichen Abstiegs interpretiert wird (ebd.). Der erlebte Statusverlust wird dann auch mit sozialen Stigmatisierungen verbunden, möglicherweise verstärkt durch entsprechendes Verhalten der ehrenamtlichen HelferInnen bei den Lebensmittelausgaben oder durch die damit verbundene öffentliche Sichtbarkeit dieser Form der Hilfebedürftigkeit. Was hier für Scham in Kürze aufgezeigt wurde, ließe sich in ähnlicher Weise auch für andere Emotionen wie Wut, Freude oder Trauer durchbuchstabieren. Fazit: Umgang mit Emotionen in der Sozialen Arbeit Auch wenn Begriffe wie Emotionsarbeit suggerieren, dass hier Emotionen quasi technisch bearbeitet werden können, zeigt sich in der alltäglichen Praxis Sozialer Arbeit sehr deutlich, dass dies nur in einem begrenzten Maße im Sinne des weiter oben angeführten Dienstleistungsverständnisses möglich ist. So können Freundlichkeit und eine zugewandte Haltung bis zu einem gewissen Maße verordnet und ‚vorgehalten‘ werden. Dennoch geht Emotionsarbeit in der Sozialen Arbeit, wie deutlich gemacht werden sollte, sehr viel weiter. 103 uj 3 | 2019 Emotionen in der Sozialen Arbeit Daher ist abschließend wichtig zu betonen, dass Emotionen, wie insbesondere Magyar-Haas (2018, 32) herausgearbeitet hat, auch „Widerfahrnisse“ darstellen, die eine „kognitive Unverfügbarkeit“ in sich tragen. Sie sind Teil der Ambivalenz, die mit den emotionalen Seiten der Sozialen Arbeit immer verbunden ist (Schwabe 2016, 410ff ). Oft braucht es für Fachkräfte der Sozialen Arbeit daher zunächst einmal Rituale und Orte, an denen Emotionen auch ungeschützt und ungefiltert zum Ausdruck gebracht werden können (z. B. im Rückzug auf ‚Raucherecken‘, Mitarbeiterbüros etc.), um sich so auch emotional entlasten zu können. Emotionen sind ein wesentlicher Teil der häufig auf tragfähige Beziehungen angelegten sozialpädagogischen Veränderungsarbeit. Sie brauchen daher ihren legitimen Platz im Alltag und können nicht, wie Hans Thiersch betont, einfach nur in „die Separées der Supervision abgedrängt“ werden. Dennoch bilden institutionalisierte Orte, die dem Nachdenken über und der gemeinsamen Auseinandersetzung mit emotionalen Erlebnisweisen Raum geben, zentrale Instrumente, um Emotionen tatsächlich als elementaren Bestandteil einer professionellen Sozialen Arbeit nutzbar zu machen. Solche Orte können regelmäßige Fallbesprechungen im Team wie im eingangs angeführten Beispiel sein. Häufig ist es aber auch notwendig, gerade Emotionen, die als besonders heftig oder verstörend wahrgenommen werden, im geschützten Rahmen einer Supervision unter externer Begleitung zu thematisieren und sie dort dezidiert als Teil der eigenen Verstrickung, aber auch der latenten Erlebenswelt der AdressatInnen zu verstehen (Müller 2012). Emotionen sind im Kontext der Sozialen Arbeit also nie einfach nur ‚Privatsache‘, sondern ein essenzieller Teil der Arbeit, dem genügend Aufmerksamkeit eingeräumt werden muss. Insofern ist auch die Frage, welche „Gefühlskulturen“ in einer Einrichtung bestehen, das heißt, welche Emotionen thematisiert werden können bzw. welche eher tabuisiert werden, eine Frage, mit der sich Organisationen selbstreflexiv auseinandersetzen sollten. In diesem Sinne stellen gerade Fallbesprechungen und Supervisionen nicht nur Orte dar, in denen einzelne Fachkräfte über ‚ihre‘ Emotionen sprechen können, sondern sie lassen sich als Orte begreifen, in denen sich spezifische „Gefühlskulturen“ einer Einrichtung entfalten, aber auch immer wieder neu reproduziert werden (Klatetzki 2010). Prof. Dr. Petra Bauer Eberhard-Karls-Universität Tübingen Institut für Erziehungswissenschaft Münzgasse 22 - 30 72070 Tübingen Tel. (0 70 71) 29-7 67 57 E-Mail: petra.bauer@uni-tuebingen.de Literatur Bauer, P., Harter, K., Henn, S., Keitsch, P., Wiezorek, C. (2018): Thematisierungsweisen und Bearbeitung von Gefühlen in Fallbesprechungen. In: Kommission Sozialpädagogik (Hrsg.): Wa(h)re Gefühle? Sozialpädagogische Emotionsarbeit im wohlfahrtsstaatlichen Kontext. Beltz Juventa, Weinheim, 112 - 127 Bauer, P., Dörr, M., Dollinger, B., Neumann, S., Richter, M. (2018 a): Einleitende Skizzen zum Stellenwert von Emotionen in der Sozialen Arbeit. 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