eJournals unsere jugend 71/3

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art19d
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Zur Diskussion: Der ASD im familiengerichtlichen Verfahren - ein anspruchsvolles Aufgabenfeld

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Uta von Pirani
Der gesamte Arbeitsvorgang des ASD rund um die Einleitung von und Mitwirkung in Familiengerichtlichen Verfahren wird aus meiner Sicht unterschätzt, geht es doch um lebensgeschichtlich gravierende Entscheidungen, um spezielle Rechtskenntnisse, um sehr komplexe interdisziplinäre Zusammenarbeit und um teilweise hochstrittige Akteure. Deshalb verdient er mehr Aufmerksamkeit.
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112 unsere jugend, 71. Jg., S. 112 - 115 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art19d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zur Diskussion: Der ASD im familiengerichtlichen Verfahren - ein anspruchsvolles Aufgabenfeld Der gesamte Arbeitsvorgang des ASD rund um die Einleitung von und Mitwirkung in Familiengerichtlichen Verfahren wird aus meiner Sicht unterschätzt, geht es doch um lebensgeschichtlich gravierende Entscheidungen, um spezielle Rechtskenntnisse, um sehr komplexe interdisziplinäre Zusammenarbeit und um teilweise hochstrittige Akteure. Deshalb verdient er mehr Aufmerksamkeit. von Uta von Pirani Jg. 1951; Studium der Sozial- und Erziehungswissenschaften, ehemal. Referentin in der Senats- Schul- und Jugendverwaltung Berlin und Jugendamtsleitung in Charlottenburg-Wilmersdorf, Berlin Vorbemerkung Für diese Ausgabe greife ich mit Blick auf den Schwerpunkt der Novemberausgabe der UJ 2018 das Aufgabenfeld Familiengerichtliches Verfahren heraus. In den Diskussionen über die Jugendämter und den ASD wird meist über problematisch verlaufene Kinderschutzfälle, die (Kosten-)Steuerung HzE und evtl. noch über den Fachkräftemangel gesprochen; alles unbestritten wichtige Themen. Aber aus meiner Sicht verdient auch dieses ressortübergreifende ASD-Aufgabenfeld (mit einem besonderen Belastungspotenzial) Aufmerksamkeit und eine vertiefende Betrachtung. Meine Ausführungen beruhen auf der Erfahrung aus einer fast 25-jährigen Tätigkeit als Leiterin eines Berliner Jugendamtes. In dieser Rolle habe ich dieses Thema für die Berliner Jugendamtsleitungen viele Jahre federführend vertreten, u. a. im professionenübergreifenden Koordinierungskreis Familiengerichtliches Verfahren. Aufgaben und daraus resultierende Belastungen Es gibt unterschiedliche Anlässe, aus denen SozialarbeiterInnen des Jugendamtes in familiengerichtliche Verfahren involviert sind, insbesondere: ➤ Beschleunigte Familienverfahren auf Antrag eines Elternteils zur Regelung der elterlichen Sorge oder des Umgangs ➤ Verfahren, die das Jugendamt selbst einleitet, in der Regel für ein sog. Erörterungsgespräch wegen möglicher Kindeswohlgefährdung, zur Durchsetzung notwendiger Hilfen bzw. zur Einschränkung der elterlichen Sorge 113 uj 3 | 2019 Der ASD im familiengerichtlichen Verfahren Sie machen zwar erfahrungsgemäß nur rund 15 % der Tätigkeit aus, sie sind aber diejenigen Fälle mit der höchsten Beschwerdedichte im ASD mit oft hochstrittigen Akteuren. Damit können sie zu einer deutlichen Belastung für MitarbeiterInnen und Leitungskräfte werden. Punkt 1 - Beschleunigte Familienverfahren: Das Jugendamt ist hier durch seine fallzuständigen SozialarbeiterInnen beteiligt. Diese beraten und unterstützen in nahezu allen Fragen rund um die Erziehung in der Familie. Speziell im Zusammenhang eines familiengerichtlichen Verfahrens steht die Entwicklung eines einvernehmlichen Konzepts zur kindgerechten Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung im Mittelpunkt. Dabei lenken die SozialarbeiterInnen den Blick vom Konflikt der Erwachsenen auf die Interessen des Kindes. Die Kinder werden angemessen beteiligt (und haben erfahrungsgemäß gute Ideen, wie der Umgang mit den Eltern aussehen könnte). Ggf. organisieren sie weitere Unterstützung. RichterInnen können darauf hinwirken, dass Eltern solche Hilfen beantragen und an der Umsetzung aktiv mitwirken. Die SozialarbeiterInnen unterstützen außerdem mit ihrem sozialpädagogischen Fachwissen das Familiengericht, indem sie im Anhörungstermin gemeinsam mit allen Beteiligten und unter Berücksichtigung der Situation und Dynamik des Familiensystems auf eine für die Kinder möglichst verträgliche Vereinbarung hinwirken bzw. ihre Einschätzung zur Gefährdung des Kindes vortragen. Den Erstgesprächen mit Vater, Mutter, Kind(ern), möglichst vor dem ersten Anhörungstermin, kommt dabei große Bedeutung zu, denn hier wird die Vertrauensbasis für die weitere Zusammenarbeit hergestellt. Es geht darum, ➤ den Auftrag zu klären, ➤ über das weitere Verfahren zu informieren, ➤ die aktuelle Situation zu erfragen, ➤ die elterlichen Ressourcen auszuloten, ➤ ggf. gefundene Vereinbarungen festzuhalten und ➤ Transparenz herzustellen über das, was das Jugendamt aus dem Gespräch heraus verstanden hat, was noch zu klären ist und was dem Gericht mitgeteilt wird. Es ist auch die notwendige Allparteilichkeit des Jugendamtes zu verdeutlichen, denn bereits hier werden häufig Wünsche nach parteilicher Unterstützung, d. h. die jeweilige Sichtweise als die einzig richtige anzusehen, geäußert. Je nach Eskalation und Emotionalität wird dann im Laufe des Verfahrens versucht, weitere Verfahrensbeteiligte bzw. deren Institutionen „in Stellung“ zu bringen; dabei gerät das Kind häufig aus dem Blick. Weitere Institutionen sind dann beispielsweise die Hierarchiestufen des Jugendamtes, die Politik, der Petitionsausschuss (ggf. bis auf die europäische Ebene) oder auch das Gerichtspräsidium. Neben im Einzelfall möglichen berechtigten Beschwerden, denen es abzuhelfen gilt, finden sich in solchen Schriftsätzen häufig Beleidigungen, Unterstellungen, ungerechtfertigte Ansprüche, vor allem aber verstärkt die Haltung „Ich habe Recht, ich muss mich nicht ändern, sondern die/ der Andere und das Jugendamt soll dies richten“. Für die MitarbeiterInnen, die ja weiter fallzuständig bleiben, ist dies eine hohe emotionale Belastung, immer wieder in ihre professionelle Rolle zu gehen, diese auch anderen involvierten Beteiligten wie Anwälten, weiteren Verwandten oder neuen Lebensgefährten, manchmal auch der Richterschaft gegenüber zu verdeutlichen, den Blick wieder auf das Kind zu richten und nach geeigneten Lösungen zu suchen. Die Beantwortung solcher Telefonate oder Schreiben bzw. Stellungnahmen an die Ausschüsse, ggf. mehrfach, in geeigneter, teils erklärender, werbender, aber auch grenzziehender Form und unter Wahrung der Rechte Dritter (meist des anderen Elternteils) ist ebenfalls aufwendig. Ein Hinweis ist mir in diesem Zusammenhang wichtig: Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat klargestellt, dass Akteneinsicht im familienge- 114 uj 3 | 2019 Der ASD im familiengerichtlichen Verfahren richtlichen Verfahren sich immer nur auf die Akten des Gerichts beziehen kann, nicht auf die Unterlagen des Jugendamtes; in Letzteren dürften in der Regel eben auch die Rechte Dritter (s. o.) tangiert sein, sodass auch deshalb eine Einsicht nicht infrage käme. Punkt 2 - Vom Jugendamt selbst eingeleitete Verfahren: Bei den Verfahren, die das Jugendamt selbst einleitet, ist zudem häufig aufgrund der möglichen Kindeswohlgefährdung der Zeitdruck und der Anspruch auf rechtsfeste Präzision im Schriftsatz sehr hoch sowie die Betroffenheit bezogen auf die Situation des Kindes. Und häufig ist in diesen Fällen mit einem erheblichen Widerstand, aber auch möglicherweise Angst oder Selbstgefährdung der betroffenen Eltern(teile) zu rechnen; Folgen sind dann z. B. Klagen vor dem Verwaltungsgericht oder, schlimmer, Tätlichkeiten oder Bedrohung der MitarbeiterInnen und ggf. ihrer Familien. Dies führt dann nicht selten zu Unsicherheiten, Ängsten, Belastungen für ein ganzes Team. Auch hier sind Leitungskräfte gefordert, ggf. unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um Sicherheit herbeizuführen, Entlastung zu schaffen bzw. einen geordneten Dienstbetrieb aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Punkt 3 - Weitere Belastungen von MitarbeiterInnen des Jugendamts in familiengerichtlichen Verfahren: Folgende Aspekte sind hier beachtlich: ➤ Die fehlende Kenntnis über die Rolle des Jugendamtes und der Besonderheiten der Familiengerichtsbarkeit; dies kann für junge/ unerfahrene MitarbeiterInnen des Jugendamtes ebenso gelten wie für Anwälte oder Richter, die (bisher) in anderen juristischen Fachbereichen (z. B. Verwaltungsgerichtsbarkeit oder Strafrecht) unterwegs sind bzw. waren. ➤ Die teilweise wenig professionelle Moderation der Richterschaft in den Terminen, in denen die zuständigen SozialarbeiterInnen sich kaum Gehör verschaffen können oder sich unangemessenen Umgangsformen (insbesondere von der Anwaltschaft) ausgesetzt sehen, ohne dass das Gericht dem Einhalt gebietet. ➤ Das akademische Gefälle zwischen Juristen bzw. psychologischen Sachverständigen und SozialarbeiterInnen, das sich in (gegenseitiger) Anerkennung und Respekt für die jeweilige Fachlichkeit und Profession ausdrückt; die entsprechend unterschiedliche Vergütung tut ihr Übriges. Die Rolle des Jugendamtes im familiengerichtlichen Verfahren Sie ist nicht eine „Familiengerichtshilfe“, sondern das Einbringen sozialpädagogischer Fachlichkeit mit ihrer systemischen Methodik unter Einbeziehung des gesamten sozialen Umfeldes und einer eigenen professionellen Sicht auf die Familiendynamik und die Situation des Kindes. Diese besondere Kompetenz des Jugendamtes gilt es für die anderen Professionen nutzbar zu machen. Es lenkt den Fokus immer wieder auf die Selbstverantwortung der Eltern und auf die Situation des Kindes. Grenzen der Wirksamkeit der sozialpädagogischen Profession Das Jugendamt gerät immer dann an seine Grenzen, ➤ wenn es nicht gelingt, die Eltern in die gemeinsame Verantwortung (zurück) zu holen, ➤ wenn es umgekehrt Eltern gelingt, die Verfahrensbeteiligten bzw. ihre Institutionen für ihre jeweiligen Interessen zu instrumentalisieren, und die Erwachsenen dann ausschließlich mit sich beschäftigt sind und das Kind aus dem Blick gerät, ➤ wenn es eine gerichtliche Entscheidung gibt und das Jugendamt - trotz erheblicher fachlicher Bedenken - nicht in die Beschwerde geht. 115 uj 3 | 2019 Der ASD im familiengerichtlichen Verfahren Empfehlungen Wie kann das Jugendamt, wie können seine MitarbeiterInnen diesen Belastungssituationen begegnen? Es gibt eher langfristige, aber auch kurzfristige/ fallbezogene Entlastungsstrategien. Es hat sich in meiner Praxis immer als wichtig herausgestellt, im Jugendamt eine gemeinsam erarbeitete Haltung zu haben zu den eigenen Aufgaben, zum Menschenbild, mit dem wir den Menschen, die unsere Hilfe in Anspruch nehmen, aber auch uns gegenseitig begegnen, und diese nach außen zu vertreten. Und mir war immer sehr wichtig, dass MitarbeiterInnen Zeit haben (dürfen), dies/ e einzelfallbezogen und fallübergreifend reflektieren - auch im Team -, Zeit haben müssen zum Sprechen, Zuhören, Wahrnehmen, um nicht Gefahr zu laufen, in Aktionismus zu verfallen. Wichtig ist weiterhin, selbstbewusst Respekt für unsere Profession einzufordern, anderen unsere Kompetenzen anzubieten, ohne als Ausfallbürge herzuhalten, und letztendlich die Verpflichtung, sich als Lobbyist für Kinder, Jugendliche und ihre Familien einzusetzen. Konkret für das Aufgabenfeld erscheinen folgende Aspekte bedeutsam und zwar gleichermaßen für MitarbeiterInnen und Leitungskräfte: ➤ Eine klare Haltung zur eigene Rolle (z. B. Unterstützung der Eigenverantwortung der Eltern, Allparteilichkeit, Transparenz, Einbringen der eigenen sozialpädagogischen Fachlichkeit, Blick auf das Kind) ist im Jugendamt gemeinsam immer wieder zu festigen und gegenüber anderen Beteiligten zu vertreten. Für Letzteres haben sich fallunabhängige Arbeitskreise mit allen beteiligten Professionen bewährt ➤ Reflexion, kollegiale Beratung und Supervision (ermöglichen) ➤ Zeit zum Zuhören und Nachdenken (ermöglichen), dann erst handeln bzw. Schriftsätze verfassen ➤ Einfordern von Respekt für die eigene Profession und Fachlichkeit (im konkreten Verfahren ebenso wie fallübergreifend) ➤ Einfordern einer professionellen Moderation durch die/ den verhandlungsführende/ n RichterIn ➤ Fortbildung zum familienrechtlichen Verfahrensrecht ➤ Das Instrument der Beschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung offensiv zu nutzen, wenn das Jugendamt fachlich begründete Bedenken hat Weitere Empfehlungen richten sich weniger an die Kinder- und Jugendhilfe, sondern an die mit ihr zusammenarbeitenden Professionen. Diese können z. B. in fallunabhängigen interdisziplinären Arbeitskreisen vor Ort thematisiert werden: ➤ Respekt für die bisher im Fall erbrachten Leistungen der Jugendhilfe und Aufsetzen des familiengerichtlichen Verfahrens auf diesen ➤ Anerkennen der Wechselwirkungen von professioneller Intervention/ Beratung und dem Verhalten von KlientInnen (als ExpertInnen ihrer Lebenslagen) und daraus folgend der notwendigen Prozesshaftigkeit ihres Tuns ➤ Anerkennen der Deutungsoffenheit sozialer Situationen, der zentralen Bedeutung der Verständigungsprozesse mit den AdressatInnen und des Bemühens, ihre Weltsichten und Kompetenzen anzuerkennen und als Ressourcen zu verstehen, als konstitutive Elemente des Selbstverständnisses der sozialpädagogischen Profession ➤ Sensibilität und Fortbildungsbereitschaft in der Richterschaft zum spezifischen Handlungsauftrag der Kinder- und Jugendhilfe gem. SGB VIII, zu Aspekten der Entwicklungspsychologie, Familiendynamik etc. Alle Ebenen wurden in diesem Text nur kurz angerissen; mir ist diese Kürze wichtig, um eine Diskussion auf der Fachebene anzuregen. Uta von Pirani Nikolsburger Platz 2 10717 Berlin