eJournals unsere jugend 71/3

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art20d
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2019
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Fachlichkeit in den Hilfen zur Erziehung. Antworten und Fragen

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Mathias Schwabe
Karlheinz Thimm
In diesem Aufsatz stellen wir ein Projekt zur Qualitätsentwicklung für die stationären Erziehungshilfen vor und reflektieren es in Bezug auf seine Ergebnisse und Implikationen. Wir führen aus, wie Heimerziehung aussieht, wenn man diese aus der Perspektive von aus der Fachwelt mitgebrachten Qualitätskriterien betrachtet. Die Frage stellt sich allerdings, wie relevant solche Maßstäbe für das Handeln der MitarbeiterInnen sind bzw. was sonst noch bestimmend wirkt.
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116 unsere jugend, 71. Jg., S. 116 - 122 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art20d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Fachlichkeit in den Hilfen zur Erziehung. Antworten und Fragen In diesem Aufsatz stellen wir ein Projekt zur Qualitätsentwicklung für die stationären Erziehungshilfen vor und reflektieren es in Bezug auf seine Ergebnisse und Implikationen. Wir führen aus, wie Heimerziehung aussieht, wenn man diese aus der Perspektive von aus der Fachwelt mitgebrachten Qualitätskriterien betrachtet. Die Frage stellt sich allerdings, wie relevant solche Maßstäbe für das Handeln der MitarbeiterInnen sind bzw. was sonst noch bestimmend wirkt. von Prof. Dr. Mathias Schwabe Jg. 1958; Diplom-Sozialpädagoge, Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe, Ev. Hochschule Berlin Zur Herkunft der Erkenntnisse - Visitationen durch eine Qualitätsagentur Die von uns gemeinsam mit dem Leiter Martin Hoffmann gegründete Qualitätsagentur Heimerziehung hat seit 2016 16 Erziehungshilfeeinrichtungen mehrere Tage im Rahmen eines Modellprojekts besucht, um herauszufinden, „was im pädagogischen Alltag wirklich läuft“. Gemeinsam mit den Einrichtungen wollten wir Stärken, aber auch Entwicklungspotenziale in der Verknüpfung von Einschätzungen von innen und Blicken von außen untersuchen. Die Recherchen der Zweierteams mündeten in 45bis 100-seitigen Berichten mit anschließenden Handlungsempfehlungen (Schwabe/ Thimm 2018). Der neue, nunmehr im Regelbetrieb als Qualitätsagentur Erziehungshilfen laufende Ansatz besteht aus der Kombination von drei Elementen: 1. Teilnehmende Beobachtung im Alltag 2. Befragung von Betroffenen (jungen Menschen) und Beteiligten bzw. Koproduzenten von Hilfen (Eltern; MitarbeiterInnen der Jugendämter; BetreuerInnen u. a. m.) 3. Analyse von Dokumenten (Konzepte; Hilfepläne; Teamprotokolle etc.) Damit will die Agentur gängige Qualitätsmanagement-Systeme ergänzen, indem mehr genuin pädagogische Verfahren und ihre Umsetzung sowie Interaktion zwischen Menschen anstatt formelle Regularien erkundet werden. Folgende Anlasstypen können unterschieden werden: Prof. Dr. Karlheinz Thimm Jg. 1954; Diplom-Sozialpädagoge, gleicher Schwerpunkt, bis Ende 2018 Ev. Hochschule Berlin und Co-Leiter der Qualitätsagentur Erziehungshilfen 117 uj 3 | 2019 Fachlichkeit in den HzE ➤ Einrichtungen entwickeln von sich aus die Initiative zu einer Visitation ➤ Die Qualitätsagentur spricht Einrichtungen an, die als besonders innovativ angesehen werden ➤ Die Visitation wird fachaufsichtlich empfohlen oder bei gravierenden Problemen in Ausnahmefällen von Behörden auferlegt Der Gegenstand der Erziehungshilfequalität - Pädagogische Stärken und Schwächen von Einrichtungen Die 35 Gruppen, die wir visitiert haben, können nicht als repräsentativ für die Heimerziehung in Deutschland im Jahr 2016 bis 2018 angesehen werden. Dazu ist ihre Zahl zu klein und ist die Zusammensetzung des Samples zu spezifisch, da dort viele in irgendeiner Weise besondere Gruppen eingegangen sind, insbesondere solche, die mit den „Schwierigen“ arbeiten. Gleichzeitig ist schon lange keine so große Zahl von stationären Gruppen so intensiv mit so breitem Methodenrepertoire in den Blick genommen worden. Insofern dürfen viele der gewonnenen Erkenntnisse weit über das Sample hinaus Bedeutung beanspruchen. Wie lautet unsere Bilanz der Stärken und Schwächen der von uns visitierten stationären Gruppen? Stärken in den meisten der von uns visitierten stationären Gruppen In der stationären Erziehungshilfe wird vonseiten der MitarbeiterInnen viel geleistet. ➤ Es dominieren ein starkes „Ja“ zu diesem Beruf und ein hohes Engagement der Mitarbeiterschaft. Sowohl der Beruf als auch der Arbeitsplatz „Heim“ stellt für viele von ihnen das Feld dar, in dem sie arbeiten wollen und gerne arbeiten. ➤ Respekt und Wertschätzung gegenüber den jungen Menschen sind trotz hoher und zeitweilig immer wieder höchster Beanspruchung überwiegend stark ausgeprägt. ➤ Die MitarbeiterInnen sehen Beziehungsgestaltung und die Herstellung eines möglichst sicheren und angstfreien Klimas in der Gruppe als ihre prominente Aufgabe an. ➤ In Konflikten und bei der Durchsetzung von Regeln haben die Orientierung am Wert von Fairness und die Vermeidung von Eskalationen oberste Priorität. Das stellt nicht nur einen kollektiven Anspruch dar, sondern wird auch in der Praxis umgesetzt, wenn auch nicht überall mit dem dazu nötigen selbstkritischen Blick. ➤ Die Teamarbeit zeigt sich an sehr vielen Standorten als offen, tragend, sorgfältig, Unterschiede produktiv tolerierend. Die Verbindlichkeit untereinander ist hoch: Es ist unter KollegInnen selbstverständlich, dass man für andere einspringt und Vertretungen leisten muss bzw. selbst auch bei leichteren Erkrankungen in den Dienst kommt. ➤ Die Kooperation mit Schulen, ÄrztInnen, TherapeutInnen, Polizei etc. wird ernst genommen und in der Regel sorgfältig geplant und verlässlich ausgeführt. ➤ Die Haltebereitschaften in Einrichtungen haben sich in der Breite als recht ausgeprägt erwiesen; man macht es sich mit Verlegen deutlich schwerer als vor einigen Jahren, wobei es immer noch vermeidbare Abbrüche gibt. ➤ Oft wird versucht, mit Blick auf Peers, Nachbarschaften, Freizeit, Schule etc. ein Maximum an Normalisierung und Integration zu schaffen. ➤ Viele Leitungskräfte können gut balancieren zwischen Fürsorge und Kontrolle, Lassen und Fordern, Autonomie zugestehen und Vorgeben. Entwicklungsaufgaben in der Mehrzahl der visitierten Einrichtungen Viele schon länger in Fachkreisen konstatierte Defizite zeigten sich auch bei unseren Visitationen überzufällig. 118 uj 3 | 2019 Fachlichkeit in den HzE ➤ Konzepte versprechen Dinge, die man nicht einhält. Sie werden oft ohne die unmittelbare Fachkraftebene für „das Schaufenster“ erstellt. Relevante Schlüsselprozesse werden entweder überhöht und realitätsfern abgebildet oder erst gar nicht beplant, was eher das Vergessen befördert. ➤ Ein breit angelegtes, kluges und empathisches Fallverstehen als Grundlage von Erziehungs- und Hilfeplanung, aber auch als Anregung für passende Handlungsstrategien in Krisen oder bei fehlender Motivation der Kinder und Jugendlichen, fehlt in vielen Heimen. Es wird allerdings auch von Jugendämtern weder eingefordert noch durch eigene Vorleistungen gefördert. Beim Verstehen sollte es (auch) um das professionelle Nachvollziehen von Reizen, Gewinnen und Lust gehen, die in abseitigem Verhalten wohnen und wirken („Gutes am Schlechten“ aus Sicht junger Menschen und Eltern). Das fällt Professionellen mitunter schwer. ➤ Auch die Hilfe- und Betreuungsplanung mit kontinuierlicher Zielentwicklung wird an vielen Orten lieblos und wie nebenbei erledigt, wobei die Vorarbeiten aus den Jugendämtern fast immer auch hier unzureichend sind. ➤ Die Einbindung der Herkunftsfamilie geschieht häufig nicht so, dass erkennbar ist, dass die zentrale Rolle von Eltern- und Familienbeziehungen erkannt wird. Eltern werden informiert und zu Gesprächen eingeladen, aber die untergründigen und oft schwer zu entschlüsselnden Familiendynamiken werden hinsichtlich der Auswirkungen auf Kinder/ Jugendliche, aber auch auf die Beziehungsgestaltung gegenüber den MitarbeiterInnen oft nicht genug verstanden (Abwertung; Konkurrenz; Loyalität etc.). In der Haltung von durch Eltern frustrierte Fachkräfte herrscht nicht selten ein entwertendes „Störenfried“-Denken, was zum Heraushalten von Müttern und Vätern führt. In keiner Einrichtung haben wir ein systematisches, mittelfristig angelegtes kompetenzenorientiertes Elterntraining erlebt, das Eltern dezidiert dazu befähigen möchte, ihre Kinder in absehbarer Zeit wieder selbst versorgen und erziehen zu können (z. B. in Elterngruppen etc.). ➤ Auch die Individualisierung von Rechten und Pflichten sowie Regeln und der Umgang mit besonderen Bedürfnissen etc. sind in der Breite noch auszubauen. Es fehlt oft der Blick dafür, welche hohen Ansprüche an die eigene Verhaltenskontrolle der Gruppenkontext von den Kindern bzw. Jugendlichen verlangt und wo Leistungen, die alle bringen sollen, einzelne junge Menschen überfordern. Licht und Schatten in kennengelernten stationären Hilfen (etwa hälftige Verteilung) ➤ Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten werden an einigen Orten von den MitarbeiterInnen als wichtig erachtet und praktiziert, in anderen Einrichtungen weniger oder kaum. ➤ Mitunter wird auch das schwierige Geschäft der Kooperation, vor allem mit einer anderen als der eigenen Berufsgruppe und dort primär mit Schule und therapeutischem Bereich, nicht sorgfältig geleistet, wobei wir auch sehr positive Beispiele erleben konnten. Gerade die statusschwächere Gruppe der ErzieherInnen (häufig identifiziert mit Kindern und Jugendlichen), aber auch die jeweiligen statushöheren Kooperationspartner haben oft Probleme mit dem von der Sache her anspruchsvollen Zusammenwirken. ➤ Das Thema der Gruppenbesprechungen bzw. regelmäßigen Reflexionen des Tages oder der eigenen Entwicklung wird an einigen Orten mustergültig realisiert, während es in anderen Gruppen vernachlässigt oder mit falschen Erwartungen überfrachtet wird. 119 uj 3 | 2019 Fachlichkeit in den HzE Wie entsteht Qualität? Zum Stellenwert von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern SozialpädagogInnen sorgen mit ihrem Alltagshandeln dafür, dass ein gutes Klima entsteht und hilfreiche Entwicklungsimpulse gegeben werden. Sicher spielen fachliche Überzeugungen, Standards und Werte, wie sie unserer Bestandsaufnahme zugrunde liegen und als gute Praxis sichtbar werden, für das Handeln von MitarbeiterInnen eine wichtige Rolle und werden zumindest beim Sprechen über die Arbeit auch von ihnen geteilt (wenn auch mit zum Teil sehr unterschiedlichen persönlichen Schwerpunktsetzungen). Gleichzeitig wäre es falsch zu erwarten, dass es allein und/ oder vor allem Werte und Qualitätsdimensionen sind, die beim Handeln wirkmächtig werden und die Interaktion gestalten. Ganz sicher spielen Emotionen für das Handeln eine andere wichtige Rolle. Angesichts von eigener Angst oder eigenem Ärger oder einem Gefühl von Enttäuschung werden sich häufig andere Handlungsimpulse konstellieren und realisieren, auch wenn diese gegen bestimmte Werte oder als richtig angesehene Standards verstoßen. Sicher gibt es unter den MitarbeiterInnen eine große Bandbreite, bezogen auf die Kontrollfähigkeit hinsichtlich der eigenen Emotionen und der eigenen Bedürftigkeit. In den Heimgruppen dürften viele MitarbeiterInnen arbeiten, die in ihrer frühen Kindheit gut versorgt worden sind und relativ mühelos ein hohes Maß an innerer Ruhe, Gelassenheit und Wohlwollen aufbringen können - konstant oder zumindest immer wieder. Und es gibt andere MitarbeiterInnen, die aufgrund von biografischen Mangelsituationen als belastet gelten müssen und immer wieder dazu neigen, sich von den vielen Wünschen und/ oder Aggressionen der Kinder und Jugendlichen überfordert zu fühlen und darauf mit Ärger, Missgunst und aggressiven Vergeltungen reagieren. Wahrscheinlich muss man die meisten MitarbeiterInnen irgendwo zwischen diesen beiden Polen bzw. Gruppen ansiedeln. Dabei ist es auch zwischen den Autoren dieses Beitrags hochstrittig, was in praktisch-pädagogischer Hinsicht in der Regel handlungsmächtiger wird: die biografisch vermittelten Ausstattungen und emotionalen Grundsituationen der MitarbeiterInnen oder ihre Bindungen an Werte und pädagogische Haltungen. Häufig dürfte es in diesem Zusammenhang zu Kompromissbildungen kommen: Dann geht in das eigene Handeln ein Wert ein, aber auch eine Emotion und/ oder der aktuelle Erschöpfungszustand. Die Erinnerung an einen Fachstandard schwächt wahrscheinlich die potenzielle Drastik der Handlung ab, aber die eigene Erregtheit oder momentane Schwäche setzt sich doch auch ein Stück weit gegen den Wert durch. Oder es wird angesichts eines starken Wertebewusstseins (Über-Ich oder Ich-Ideal) etwas eigenes Negatives, aber Authentisches abgespalten und verdrängt, was auf Dauer zu einer allgemeinen emotionalen Abflachung oder auch zu Burnout führen kann (Schwabe 2017, 161ff und 398ff ). Für den/ die eine/ n MitarbeiterIn kann eine solche Kompromissbildung zwischen einem wertevermittelten inneren und/ oder äußeren Anspruch und dem eigenen emotionalen Druck eine Riesenleistung darstellen, ein/ e andere/ r hätte leicht ein Mehr an Werteorientierung in sein Handeln einfließen lassen können. Andere MitarbeiterInnen können ihre Emotionen und biografischen Prägungen bzw. „Hypotheken“ soweit kontrollieren, dass sie ihre rational entworfenen pädagogischen Linien mehr und besser durchhalten können, ohne dass das zu einer Verflachung oder Verengung ihrer Emotionen führt. Für die Frage, was jeweils handlungsmächtig wird, dürften zudem situative Bedingungen eine große Rolle spielen: Vor allem die Komplexität einer Situation (acht Kinder am Tisch; zwei Konfliktherde; ein Telefon, das läutet, und ein Kollege, der zu spät kommt) und die eigene Tagesform (ausgeschlafen oder nicht; mit anderen Dingen belastet etc.). Nach fünf, sechs Stunden stressiger Heimarbeit hat man oft nur noch ein Ziel: Halbwegs sicher durch den Rest des Tages zu kommen, möglichst ohne große Konflikte, 120 uj 3 | 2019 Fachlichkeit in den HzE oder aber mit rigiden Kontrollpraxen, die klare Ordnungen schaffen sollen, wie z. B. X. geht erst mal für eine Stunde auf sein Zimmer. Die eigene Kräfteökonomie dürfte immer wieder ihren Tribut fordern, das eigene „Überleben“ eines stressigen Dienstes jedem/ jeder MitarbeiterIn immer wieder naheliegen, auch mit Verzicht auf diesen oder jenen Qualitätsstandard. Dazu kommt, dass Werte und Qualitätsansprüche häufig untereinander konfligieren: Der Wunsch, endlich einen Entwicklungsbericht zu Ende zu schreiben oder ein Hilfeplangespräch gut mit einem Einzelnen vorzubereiten, kann mit dem Wert in Konkurrenz treten, ein offenes Ohr für alle Betreuten zu haben und deren Stimmungen achtsam wahrzunehmen. Beides schafft man nicht, also wird man den einen Qualitätsstandard wohl oder übel „in den Wind schreiben“, um am Ende wenigstens das eine oder das andere gut gemacht zu haben. Alles gut machen zu wollen, führt mit Sicherheit ins Burnout. Ähnliches gilt mit Blick auf das Team. Häufig wird man als Einzelner einen eigenen Wert hintenanstellen, weil man weiß, dass dieser im Team keine hohe Anerkennung findet, aber andere Aufgabenerledigungen von einem erwartet werden. Dann lässt man die Tagesreflexion am Abend eben wegfallen, aber weist die Gruppe dazu an, die Zimmer ordentlich aufzuräumen und die Ämter gewissenhaft zu erledigen, weil man für die Vernachlässigung dieser Pflichten von den KollegInnen schon ermahnt wurde. Gleichzeitig kann die Kontrolle durch das Team oder durch selbst gewählte Vorbilder die eigenen Standards heben. Weil man weiß, dass alle KollegInnen das Gruppenbuch mit den Inhalten der Gruppenbesprechung lesen, führt man sie auch durch und lässt die Jugendlichen dafür bei den Ämtern ein wenig schummeln. Zur Beurteilung des aktuellen Handelns von einzelnen MitarbeiterInnen müssten demnach immer mehrere Gesichtspunkte parallel, gleichwertig oder mit situativ und individuell unterschiedlichen Schwerpunkten für die Beurteilung mitbedacht werden. Qualität als Koproduktion - Zum Stellenwert von AdressatInnen Eine ganz andere Frage ist, ob die Beachtung von möglichst vielen Qualitätsdimensionen auch zu einer guten Entwicklung bei einzelnen Kindern und Jugendlichen führt. Auf den ersten Blick wird es gerade mit Blick auf das Adressatenwohl kaum Zweifel an bzw. Einwände gegen hochrangige Standards wie Fallverstehen, dialogische Zielentwicklung, Partizipation oder Beschwerdemöglichkeiten geben. Aber was davon kommt beim Kind an? Spürt es diese Bemühungen? Kann es diese auf sich beziehen? Kann es sie schätzen? Kann es nicht sein, dass das Gefühl einer abgrundtiefen Verlassenheit oder einer unstillbaren, aggressiven Gier dennoch immer wieder sein Leben überschatten und es sich nach wie vor unbehaust und einsam fühlt? Inmitten einer Gruppe, geführt von einem Team, das sehr wohl die meisten geforderten Qualitätsstandards im Auge hat oder einzuhalten meint? Zur Realisierung der intendierten Qualität sind Professionelle auf die Koproduktion der Kinder und Jugendlichen (und Eltern) angewiesen, die diese Angebote aufgreifen und weiterverarbeiten (können) oder eben nicht. Und manchmal kann man sich nur wundern, was sie „dufte“ finden und was bei ihnen ankommt. Mal ist es genau der fachlich hochgehaltene Standard (korrekte Sprache, achtsames Nachfragen etc.), mal gerade nicht die Lehrbuchqualität, sondern ein flotter Spruch oder ein derber Kommentar, die das Kind bzw. der oder die Jugendliche in diesem Moment aber als Zuwendung erlebt. Er/ sie fühlt sich wohl oder erkannt, gerade weil die bekannte sozialpädagogische Schiene einmal nicht bedient wird, sondern der Kontakt im Offenen, jenseits von absichtsvollem Tun und üblichem Vorgehen verläuft. MitarbeiterInnen können freilich beobachten und selbstkritisch reflektieren, wie viel von der intendierten Qualität ihres Handelns auch beim Gegenüber ankommt und was davon liegen 121 uj 3 | 2019 Fachlichkeit in den HzE bleibt. Oder was die Kinder und Jugendlichen von sich aus als Qualität mit hervorbringen (können oder müssen) oder was sich als Qualität schlicht ereignet. Denn manchmal ist das Hineintreten von etwas wirklich Gutem in das Leben von jungen Menschen, das noch über Jahre hinaus erinnert oder auch ganz schnell wieder vergessen wird (aber vielleicht im Unbewussten weiter wirkt), etwas Zufälliges, Ungeplantes, das von keiner Seite gemacht werden kann. Dazu eine kleine Geschichte: Beobachtung: „K. (12 Jahre) läuft am Nachmittag über den Gang und lässt seine Blicke schweifen. Sein Blick wandert über den Hof zum gegenüberliegenden Gebäude. Dort in etwa zehn Meter Entfernung sieht er eine Gestalt. Er erkennt in dieser einen Lehrer, seinen Klassenlehrer. Er winkt diesem zu. Nachdem der ihn nicht sieht, ruft er auch noch seinen Namen, ziemlich laut: „Herr M.“ Mehrfach und winkt dazu hektisch. Herr M. kann ihn aufgrund der Distanz und der geschlossenen Fenster aber nicht hören. Da geschieht das kleine Wunder. Auch Herr M., der (wie ich später erfahre) am Kopierer des Lehrerzimmers steht, lässt seine Blicke schweifen und sieht den wild gestikulierenden K. Er winkt zurück. K. lässt einen Juchzer hören und winkt weiter, leidenschaftlich, frenetisch jetzt sogar. Herr M. winkt weiter zurück, steigert sein Winken ebenfalls, wenn auch nicht ganz so expressiv wie K. Dieser dreht sich zu mir um: „Mein Lehrer…“ stammelt er. „Er hat mich gesehen! “ Seine Augen glänzen feucht. Er wendet sich ab und geht in die Küche, um auch Frau M. von dieser Begegnung zu berichten. Kommentar: Es war spürbar für mich (aber vielleicht bilde ich es mir auch nur ein), dass in dieser kleinen Szene etwas Wichtiges passiert ist. Einer, der dachte, dass er sowieso nicht gesehen oder immer wieder übersehen wird, wurde gesehen. Und konnte sich darüber freuen, gesehen worden zu sein. Und konnte seine Freude darüber mit einem relevanten Anderen teilen (der Betreuerin). Er wird sein Leben deswegen nicht ändern, aber vielleicht ändert sich sein Leben nicht zuletzt auch dadurch“ (Schwabe/ Thimm 2018, 388). Fachkrafthandeln zwischen normativen Erwartungen und unberechenbarer Praxis Anlässlich der 16 Hospitationen (aber auch im Rahmen von Beratungen, Supervisionen und Fortbildungen etc.), die wir erlebt und ausgewertet haben, stellt sich die Frage, wie man Fachkräfte zu einer experimentellen Haltung, zur Überprüfung von Routinen, vielleicht auch zur weiteren Annäherung an Qualitätsansprüche begleiten kann. Belehrungen, Entlarvungen, Instruktionen sind für Praxis- und Qualitätsentwicklung meist kein günstiger Weg. Eine Annahme von Impulsen von außen geschieht nach unserer Erfahrung vor allem dann, wenn diese selbst gewollt sind bzw. in Auftrag gegeben wurden. Weiter ist günstig, wenn Empfehlungen u. Ä. zum mitgebrachten „sonstigen“ Einstellungs- und Wertegerüst, zum Kräftehaushalt, zum Wirksamkeitsmodell und zur Fähigkeitsausstattung der Fachkraft passen sowie institutionell, lebensweltlich und kollegial mitgetragen bzw. belohnt werden. Der antizipierte Gewinn sollte in der subjektiven Verrechnung die Kosten überschreiten. Entscheidend ist darüber hinaus der „richtige Moment“. Dieser scheint dann gegeben, wenn eine gewisse innere und äußere Stabilität im Projekt gegeben ist, es aber auch noch offene Fragen und Unsicherheiten gibt und die MitarbeiterInnen mitbekommen, dass eingefahrene Bewältigungen nicht tragen und keine hinreichend befriedigenden Effekte zeitigen (Thimm 2014). Legen wir unsere Visitationen zugrunde, geht es bei der Qualitätsentwicklung selten um große Wenden. Für MitarbeiterInnen, die untergebrachten Kindern und Jugendlichen angekoppelte Unterstützung und wenigstens ab und zu und punktuell gute Anregungen geben wollen (in Form von Fragen, Vorschlägen, Deutungen, Irritationen, Provokationen etc.), wäre ein berufliches Selbstverständnis als „Feinmechaniker“ günstig, weil sie kommunikative und reflektorische Präzisionsarbeit leisten (nicht im 122 uj 3 | 2019 Fachlichkeit in den HzE Sinne der Mechanik, aber im Sinne von Feinheit, d. h. minimalen Differenzen). Das kann man nur, wenn ein ganzes Team seine Kenntnisse zusammenwirft, also das, was es tut oder getan hat, „unter die Lupe“ nimmt, Gelungenes von weniger Gelungenem trennt und strategische Überlegungen dazu anstellt, wie es weitergehen kann. Viele Bewegungen beim Ausbalancieren von Polaritätsspannungen wie zwischen spontan versus geplant oder rollenförmig versus authentisch oder freundlich versus kantig, direkt-unverblümt etc. dürften dabei eher im unscheinbaren Bereich anzusiedeln sein: Ein wenig mehr davon und wenig später ein bisschen mehr vom anderen. Es geht um Nuancen in die eine oder andere Richtung, um mal unauffälligere, mal deutlichere Akzentsetzungen. Oder es geht darum, Verbindungen herzustellen, in denen beide Elemente bzw. Tonarten bzw. Sounds vertreten sind, sodass beide gemeinsam auftreten und wirken können. Daneben können aber auch deutliche Kehrtwendungen von dem bisher „Bedienten“ nötig sein, also Durchbrechungen der eigenen bisher entwickelten pädagogischen Handlungen. Dass dabei immer wieder manches schlecht bzw. falsch läuft, das man allerdings häufig erst im Nachhinein erkennen kann, erscheint unabänderlich. Fazit Gängige Good-practice-Vorstellungen, Qualitätsstandards, programmatische Forderungen können einen Rahmen abstecken, in dem sich aber notwendig immer mehr und anderes ereignet, als VisitatorInnen (FortbildnerInnen; Lehrende etc.) empfehlen. Fachkräfte sind keine „Ausführungsorgane“, und ihr Handeln ist nicht allein geprägt von Facherwartungen, die womöglich auch noch nicht ihre sind. Gerade deshalb macht es Sinn, miteinander Standards zu formulieren, diese breit bei Neueinstellungen zu erläutern und die Einhaltung auf abgesprochenen Wegen zu kontrollieren. Warnen möchten wir nicht zum ersten Mal vor der Illusion, dass man gutes pädagogisches Handeln per Dekret verordnen kann. Und so sehr wir auch den Schutz von AdressatInnen durch Standards begrüßen, so sehr wissen wir, verstärkt nach den Visitationen, dass die Wege, Kinder und Jugendliche zu treffen, zu erreichen, etwas Bedeutsames anzuzetteln, verschieden sind. Das, was Betreute mitbringen, das, wofür sie ggf. Resonanz aufbringen, das, was sich einschleichen darf an neuen Impulsen, steht nicht von vorneherein fest. Gleichwohl kann eine normative Vorstellung von guter Praxis Beliebigkeit entgegenwirken. Das Bessere und das Schlechtere, das höhere und das niedrigere Niveau sind nicht austauschbar und einfache Ansichtssache und beliebiger Experimentierstoff. Einer Anything-goes-Mentalität, die keine Handlung ausschließt und für jede eine Begründung (nach-) liefert, möchte z. B. ein Qualitätsrahmen (vgl. das Exempel unter www.qualitaetsagentur-erziehungshilfen) entgegenwirken. Prof. Dr. Mathias Schwabe Hortensienstraße 20 12203 Berlin Prof. Dr. Karlheinz Thimm Braillestraße 4 12165 Berlin Literatur Schwabe, M., Thimm, K. (2018): Alltag und Fachlichkeit in den Erziehungshilfen. Erkenntnisse aus dem Modellprojekt „Qualitätsagentur Heimerziehung“. Beltz Juventa, Weinheim Schwabe, M. (2017): Die „dunklen“ Seiten der Sozialpädagogik. Ideale, Negatives und Ambivalenzen. 2. Aufl. Münstermann, Ibbenbüren Thimm, K. (2014): Professionelle Begleitprozesse - Veränderungstheoretische Rahmungen. In: Soziale Arbeit 63 (8), 298 - 308