unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Rezension: Édouard Louis, Das Ende von Eddy
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Roland Merten
Rezension Édouard Louis: Das Ende von Eddy Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 206 Seiten, 2017, € 9,99
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186 uj 4 | 2019 Rezension Sozialwissenschaftliche Analysen erfassen die soziale Wirklichkeit sowie die Lebensbedingungen von Menschen theoretisch, d. h. allgemein, ohne dass der Einzelfall darin sichtbar wird. „Alle, nicht jeder“ - so hat Elisabeth Noelle-Neumann dieses Phänomen vor Jahren auf den Punkt gebracht. Literatur hat demgegenüber den Vorzug, den Einzelfall als Ausdruck allgemeiner Lebensbedingungen zur Sprache und zum Sprechen zu bringen. Édouard Louis, ein junger französischer Schriftsteller und Student der Soziologie, hat sich für diesen zweiten Weg entschieden, nämlich die eigene Biografie, gleichsam stellvertretend für viele andere, zum Sprechen zu bringen und damit dem Aufwachsen unter schwierigsten Bedingungen eine Sprache zu verleihen. Und dies ist ihm fulminant gelungen! Er entstammt einer Familie, in der Armut kein vorübergehendes Phänomen ist, sondern die prägende Erfahrung des Lebens und Aufwachsens. „Jugend“ als eigenständige Lebensphase, in der Lebensentwürfe ausprobiert werden können (Jugend als Moratorium), gibt es unter diesen Bedingungen letztlich nicht. Für Louis ist „… Jugend durchaus kein biologisches Faktum, keine Frage des Lebensalters, sondern eher eine Art Privileg, jenen vorbehalten, die sich dank ihrer Lebenssituation den Genuss dieser Erfahrungen erlauben können, all die Erlebnisse, die man unter dem Begriff fasst“ (36f ). Die geschilderte, nackte materielle Not beschränkt nicht nur Lebensmöglichkeiten, sie verhindert letztlich die Entfaltung eines eigenen, selbstbestimmten Lebens. Louis zeigt sich (nicht nur) an dieser Stelle als Kenner der gesellschaftstheoretischen Analysen Pierre Bourdieus. Bei Bourdieu heißt es dazu in den „Feinen Unterschieden“ (Ffm. 1982, 585): „Aus der Not heraus entsteht ein Not-Geschmack, der eine Art Anpassung an den Mangel einschließt und damit ein Sich-in-das-Notwendige-fügen, ein Resignieren vorm Unausweichlichen …“. Armut ist Anpassung und Zwang. Édouard Louis hält diese Lebenserfahrung literarisch am Beispiel seiner Eltern fest. „Meine Eltern konnten sich keinen Teppichboden leisten, und so wollten sie auch keinen. Die Unmöglichkeit, es zu tun, verhinderte die Möglichkeit, es zu wollen, was wiederum das Mögliche verhinderte“ (73). Édouard Louis schildert eindringlich in seinem autobiografischen Roman die Grenzen der (jugendlichen) Selbstentfaltung und Selbstbestimmung. Er zeigt, dass und wie es ihm als resilientes Kind - und damit als Ausnahme - möglich ist, die materiellen und kulturellen Begrenzungen der eigenen Herkunft zu überwinden. Der Preis dieser Befreiung ist die doppelte Entfremdung von der eigenen Herkunft - in sozialer und in personaler Hinsicht. Das Ende von Eddy ist ein Lehrstück dafür, wie sozialwissenschaftliche Analyse und literarische Verarbeitung in beeindruckender Weise zusammengeführt werden können. Prof. Dr. Roland Merten DOI 10.2378/ uj2019.art30d Édouard Louis: Das Ende von Eddy Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 206 Seiten, 2017, € 9,99
