eJournals unsere jugend 71/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art55d
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2019
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Zeitliche Verläufe bei Hilfen zur Erziehung

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Harald Tornow
Bei den meisten Hilfen bleiben die erzieherischen Bedarfe zunächst unverändert. Aus einer anfänglichen Verschlechterung lässt sich keine negative Prognose für den zukünftigen Verlauf ableiten. Hilfen, bei denen es schnell zu Verbesserungen kommt, verlaufen mit hoher Wahrscheinlichkeit bis zum Ende erfolgreich.
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338 unsere jugend, 71. Jg., S. 338 - 344 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art55d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zeitliche Verläufe bei Hilfen zur Erziehung Eine empirische Untersuchung zu Chancen und Risiken Bei den meisten Hilfen bleiben die erzieherischen Bedarfe zunächst unverändert. Aus einer anfänglichen Verschlechterung lässt sich keine negative Prognose für den zukünftigen Verlauf ableiten. Hilfen, bei denen es schnell zu Verbesserungen kommt, verlaufen mit hoher Wahrscheinlichkeit bis zum Ende erfolgreich. von Harald Tornow Jg. 1946; Dipl.-Psych., Leiter des els-Instituts Velbert Die Vielfalt von Hilfeverläufen Hilfen zur Erziehung sollen Personensorgeberechtigten und jungen Menschen dabei helfen, erzieherische Problemlagen zu überwinden sowie Gefährdungen und Entwicklungsrisiken abzuwenden. Allgemein geht es darum, dass Eltern mit ihren Erziehungsaufgaben besser klarkommen und Heranwachsende ihre Persönlichkeit entwickeln können, Bildungsprozesse erfolgreich durchlaufen und gemeinschaftsfähig werden. Neben diesen eher funktionalen Entwicklungszielen soll Hilfe zur Erziehung Kinderrechte einlösen und Menschen zu einem eigenständigen erfüllten Leben stärken. Hilfen verlaufen nicht gradlinig, sondern nehmen Wendungen zum Positiven oder Negativen, mäandrieren möglicherweise von Krise zu Abbruch zu Neustart und letztlich zum Erreichen von definierten Zielen oder eben auch manchmal zum Scheitern aller Bemühungen. Ob und wie oft Hilfen zur Erziehung die gesetzten Ziele nicht erreichen, also im Steuerungssinne negativ verlaufen, und ob sie nicht doch noch irgendwann im späteren Leben eine positive Bedeutung als eine signifikante Erfahrung bekommen, können wir in der folgenden Studie nicht beantworten. Wir beschränken uns in dem vorliegenden Beitrag zur Wirkungsforschung nur auf die Verläufe zwischen dem Beginn und dem Ende einer Hilfe. Wir werden im Folgenden 9.728 Hilfeverläufe untersuchen, bei denen mindestens zum Hilfebeginn und zum Hilfeende eine Bedarfseinschätzung durchgeführt wurde und mindestens eine Einschätzung zwischen Beginn und Ende vorliegt. Mittels dieser drei Messpunkte können Verlaufstypen unterschieden werden. Bisher gibt es nicht viele Verlaufsuntersuchungen, was zum Teil daran liegt, dass etliche Studien erst am Hilfeende oder später retrospektiv Daten 339 uj 7 + 8 | 2019 Verläufe bei Hilfen zur Erziehung erheben, oder daran, dass sich die Wirkungskennzahlen nur auf den Vergleich zwischen Anfang und Ende beschränken. Eine Verlaufsstudie von Erzberger, Steinkamp und Brodhuhn (2014) typisierte die Verläufe von 314 ambulanten Hilfen im Landkreis Osnabrück. Diese Untersuchung ist mit unserer Studie nicht vergleichbar, weil der dritte Verlaufspunkt sechs Monate nach Beendigung liegt. Darüber liegen bei unseren Daten keine Informationen vor. Eher vergleichbar sind die Untersuchungen von Macsenaere und Esser (2012) über die Wirksamkeit von Hilfen zur Erziehung. Allerdings berichten die Autoren nicht über unterschiedliche Verläufe, sondern stellen lediglich die mittleren Verläufe dar. Das führt zu einigen Fehlschlüssen, denen wir aufgrund der folgenden Auswertungen vehement widersprechen. So schließen die Autoren aus den mittleren Verläufen, dass „schon nach einem halben Jahr der spätere Erfolg bzw. Misserfolg der Hilfe prognostiziert werden kann: … Im Falle eines negativen Effekte-Index (am Ende des ersten Jahres, Ergänzung HT) und der daraus resultierenden negativen Prognose besteht hingegen sofortiger Prüfungs- und Handlungsbedarf“ (S. 67). Um wieviel sich die Prognose verschlechtert, sagen die Autoren nicht. Dazu müssten alle Fälle mit anfänglichen Verschlechterungen im weiteren Verlauf gesondert betrachtet werden. Aber auch dann ließen sich negative oder positive Prognosen nur exakt berechnen, wenn die Hilfen nicht abgebrochen wurden. Bei einem vorzeitigen Abbruch kann man nicht wissen, wie die Hilfe weiter verlaufen wäre, wenn sie fortgesetzt worden wäre. Letztlich kann man aus den Statistiken des ikj nur ableiten, dass bei einem negativen Verlauf häufiger abgebrochen wird und im zweiten Jahr schon allein deswegen bessere Wirkungsindikatoren gefunden werden, weil anteilig mehr Positivverläufe übrigbleiben. In keiner Weise lässt sich aus den mittleren Verläufen ableiten, dass anfängliche Negativ-Entwicklungen zwangsläufig weitere Negativ-Entwicklungen im zweiten Jahr erwarten lassen. Methodischer Ansatz zur Identifikation von typischen Verläufen Wir werden in der Folge Verlaufsdaten von 9.728 Fällen hinsichtlich typischer Verläufe betrachten. Mit der hohen Fallzahl werden Stichproben- und Messfehler minimiert, weswegen wir keine großen Probleme bei der Signifikanz der Aussagen haben. Alle berichteten Ergebnisse sind signifikant (p < 0,001). Die analysierte Stichprobe ist nicht repräsentativ für die Hilfen zur Erziehung in ganz Deutschland. Erstens beschäftigen sich die teilnehmenden Einrichtungen des WIMES-Projekts (Messung und Analyse der Wirksamkeit von Hilfeangeboten auf 12 Zieldimensionen) systematisch mit Wirkungen, was in Deutschland nicht üblich ist. Zweitens sind auch in unserem Gesamt-Datensatz nicht alle Hilfen vollständig und zeitnah dokumentiert. Der Anfangsbedarf muss innerhalb der ersten sechs Wochen bewertet werden, weil spätere Einschätzungen sich bereits mit ersten Effekten mischen. Ebenso erwarten wir, dass eine End-Einschätzung plus/ minus 4 Wochen vom Beendigungsdatum erfolgen muss. Damit schrumpft unsere verwendete Auswahl von ca. 20.000 abgeschlossenen Fällen auf besagte 9.728. Statistische, automatisierte Zeitreihenanalysen und Clusteranalysen (Identifikation typischer Verläufe) erfordern eine Dokumentation zu regelmäßigen Zeitpunkten. Das ist bei unseren Daten nicht der Fall. Zwar sehen die meisten Jugendämter eine regelmäßige Hilfeplanfortschreibung alle sechs Monate vor, genau wird das aber selten eingehalten. Schwierigkeiten bei der Terminvereinbarung, Überlastungen und Personalwechsel im Jugendamt, dazwischenkommende Krisen werfen die Taktung durcheinander. Auch die unterschiedliche Hilfedauer führt dazu, dass in einem Fall sechs und mehr Zwischenschritte vorliegen und in anderen nur einer oder keiner. Insbesondere Abbrüche, die gerade bei stationären Hilfen immer noch ziemlich häufig vorkommen, werfen jede Regelmäßigkeit über den Haufen. 340 uj 7 + 8 | 2019 Verläufe bei Hilfen zur Erziehung Wir haben uns deswegen entschlossen, keine automatisierten statistischen Analysen durchzuführen, weil entweder bei den strengen Voraussetzungen an die Datenqualität die Stichprobe auf einen kleinen (nicht repräsentativen) Rest zusammenschrumpft oder weil der Rechenalgorithmus irgendetwas macht, das nicht mehr nachzuvollziehen ist. Stattdessen gruppieren wir die Verläufe nach den logisch möglichen Entwicklungsrichtungen zwischen den einzelnen Prozessschritten. Wir unterscheiden drei Richtungen: Gegenüber dem letzten Zeitpunkt ist es erstens besser geworden, zweitens gleich geblieben oder es hat sich drittens verschlechtert. Bei fünf Verlaufsmesspunkten würden sich allerdings schon z. B. 34 = 81 unterschiedliche Möglichkeiten ergeben. Diese hohe Anzahl würde verhindern, dass man brauchbare und nachprüfbare Informationen gewinnt. Wir haben uns deswegen dazu entschlossen, die Betrachtung mittels Zusammenfassung unterschiedlicher Zeitpunkte auf drei Messpunkte zu beschränken: Beginn, Verlauf, Ende. Abbildung 2 zeigt den zeitlichen Gesamt-Verlauf der Messpunkte an. Nach welchem Kriterium haben wir unterschieden, ob eine Entwicklung positiv oder negativ verläuft? Im Einzelfall kann natürlich sogar eine leicht negative Entwicklung als etwas Positives angesehen werden und umgekehrt. Da solche subjektiven Bewertungen nicht sehr valide sind und uns nicht vorliegen, beschränken wir uns auf die Differenz der Gesamt-Bedarfseinschätzungen. Alle WIMES-Ein- Drei Arten von Wahrscheinlichkeit 1. Objektive Wahrscheinlichkeiten sind relative Häufigkeiten von Ereignissen in einer Stichprobe. Diese stellen wir in Form von %-Angaben dar. Zum Beispiel können wir erwarten, dass sich in 62 % aller Hilfen zur Erziehung in den ersten Monaten erst einmal wenig verändert. 2. Glaubwürdigkeit eines Parameters: Ob diese Prozentzahl glaubwürdig ist, hängt von der Repräsentativität der Stichprobe, ihrer Größe und von der Genauigkeit der Daten ab. Der wahre Wert könnte auch 58 % oder 65 % sein. Aber 62 % hat bei der gegebenen Informationslage eben die höchste Erwartbarkeit (maximum likelihood), ist also die beste Schätzung. In der Abbildung 3 sehen Sie oben an den Balken kleine Bereiche angegeben, in denen der wahre Wert mit 95 % Wahrscheinlichkeit liegt. Wir halten es für wissenschaftlich integer, Konfidenzbereiche anzugeben, um nicht eine Pseudogenauigkeit vorzutäuschen. Zahlen wird allzu leicht zugetraut, eine objektive Wirklichkeit abzubilden. Ob der wahre Wert nicht zufällig auch 0 % (Nullhypothese) sein könnte, überprüft die statistische Signifikanz. Diese Wahrscheinlichkeit ist in unserem Fall so verschwindend klein, dass sie gar nicht mehr zu beziffern ist, mit Sicherheit aber kleiner als p < 0,001. Die Berechnung der Signifikanz macht nur bei kleinen Stichproben einen Sinn. 3. Bedingte Wahrscheinlichkeit: Zur Abschätzung von Chancen und Risiken in Abhängigkeit von Voraussetzungen (Rahmenbedingungen, vorherige Ereignisse, empirisches Wissen und Erfahrungswissen) werden bedingte Wahrscheinlichkeiten berechnet, die wir mit p (Chance | Voraussetzung) = 0,x angeben. Beispielsweise ist es eine bedingte Wahrscheinlichkeit, wenn ich die Chance berechne, dass nach einem schlechten Hilfestart die Hilfe doch noch ein positives Ergebnis hat. Bedingte Wahrscheinlichkeiten sind mittels des Bayes’schen Theorem einfach zu berechnen, aber schwer zu verstehen, wie z. B. Gigerenzer (2009) oder Kahneman (2016) in vielen Studien nachweisen konnten. Bedingte Wahrscheinlichkeiten werden intuitiv meistens falsch eingeschätzt. Abb. 1: Übersicht über die Aussagen von Wahrscheinlichkeitskennwerten 341 uj 7 + 8 | 2019 Verläufe bei Hilfen zur Erziehung wertungen zum Zeitpunkt x werden gemittelt und bilden einen Indikator für die Bedarfslage der Klienten, also die Kompetenzen und Ressourcen der Familie und des jungen Menschen sowie das Einlösen der Kinderrechte und die Sicherstellung günstiger Entwicklungsbedingungen zum jeweiligen Zeitpunkt. Die Veränderungen zwischen den Bedarfslagen zwischen Beginn und Verlauf und zwischen Verlauf und Ende bilden die Messgrößen für die Richtung der Entwicklung. Eine Abnahme der Bedarfe werten wir als positiv und eine Zunahme als negativ. Bezüglich der Messung mittels WIMES und deren Reliabilität und Validität verweisen wir auf die verschiedenen Verfahrensbeschreibungen auf der Website des e/ l/ s-Instituts (http: / / www.els-institut.de/ index.php/ wimes-grundmodul.html). Eine kurze Übersicht der genutzten Kennwerte finden sich in Abb. 1. Empirische Befunde Rein rechnerisch sind 3 2 = 9 unterschiedliche Verläufe möglich. Zur besseren Übersicht haben wir uns auf sieben mögliche Verläufe beschränkt. Die Entwicklungen 1 und 2 (positiv-positiv und positiv-gleich) fassen wir zusammen, weil wir davon ausgehen, dass ein Gleichbleiben auf einem positiven Stand auch positiv zu bewerten ist. Die Verläufe 8 und 9 (negativ-negativ und negativ-gleich) fassen wir ebenfalls zusammen, weil eine gleichbleibende Entwicklung auf einem schlechten Stand etwas Negatives ist. positiver Verlauf Entwicklung negativer Verlauf 2 1,5 1 0,5 0 -0,5 -1 -1,5 -2 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 Monate plus plus gleich plus gleich minus minus minus plus minus gleich gleich minus plus 7 Verlaufstypen HzE Abb. 2: 7 Verlaufstypen der allgemeinen Bedarfe bei Hilfen zur Erziehung (N = 9.728). Die y-Achse zeigt nur die Richtung der Veränderungen an und nicht die realen Differenzwerte; große Veränderung = 1, kleine Veränderung = 0,5. Die Stärke der Linie zeigt die relative Häufigkeit des Verlaufstypus an. 342 uj 7 + 8 | 2019 Verläufe bei Hilfen zur Erziehung Der häufigste Verlaufstyp ist das anfängliche Gleichbleiben der Problematik mit anschließender Verbesserung (39 %). Ausgesprochen selten sind die Verschlechterung nach anfänglichen Erfolgen (2,1 %) und die anhaltende Verschlechterung bis zum Ende der Hilfe (7,3 %) (Abb. 2). Bei den meisten Hilfen zeigt sich bis zur Zwischenbewertung keine Veränderung (61,5 %). Offensichtlich braucht es einige Zeit, bis der junge Mensch oder die Familie ihr Verhalten oder ihre Haltungen und Einstellungen ändern können. Auch braucht das Helfersystem eine gewisse Zeit, um gegenseitiges Verstehen und Vertrauen aufzubauen. Über die notwendige und geeignete Dauer einer Hilfe zur Erziehung wird viel spekuliert. Allgemein gültige Aussagen sind hier kaum möglich, weil die Zeit, die es braucht, sich aneinander zu gewöhnen, Vertrauen zueinander zu fassen, sich zusammenzuraufen, einen guten Zeitpunkt und Ansatz für Veränderungen zu finden, weil all dieses jeweils seine eigene Zeit braucht. In unserer Grafik liegt dieser Knickpunkt bei fünf Monaten. Dieser ist der Median des Abstandes zwischen dem Beginn und der Verlaufseinschätzung, also sind 50 % der Abstände kleiner als 5 Monate und 50 % höher als 5 Monate. 90 % liegen in einem Zeitraum zwischen drei und zwölf Monaten. Übrigens ist die Häufigkeitsverteilung dieser Verlaufstypen bei allen Hilfearten fast gleich (Abb. 3). Egal ob ambulant, teilstationär oder stationär, die meisten Hilfen landen am Ende bei positiven Ergebnissen und der häufigste Pfad führt über eine statische Phase, um dann in der zweiten Hälfte über positive Entwicklungen zu einem guten Ende zu führen. Allenfalls fallen die stationären Hilfen beim Typ „gleich plus“ heraus. Wir verstehen das so, dass in der Heimerziehung die Probleme noch mehr verfestigt sind und die Phase des Beziehungsaufbaus länger dauert, bis eine Basis für eine problemlösende Phase gefunden wird. Es gibt auch Hilfen, die relativ schnell zu Verbesserungen führen (23,3 %). Besonders, wenn vor Hilfebeginn die Lebenslagen schwierig waren und Verhaltensauffälligkeiten Reaktionen auf ungünstige Entwicklungs- und Erziehungsbedingungen sind, reagieren Systeme und Menschen relativ rasch auf eine positive und entlastende Situation. Bei so frühen positiven Effekten bleibt die Entwicklung in der Regel weiterhin positiv (p = 0,9). Die Wahrscheinlichkeit, dass es nach einem guten Start zu einer Verschlechterung kommt, beträgt lediglich p = 0,09. 50,0 % 45,0 % 40,0 % 35,0 % 30,0 % 25,0 % 20,0 % 15,0 % 10,0 % 5,0 % 0,0 % Verlaufstypen bei unterschiedlichen Hilfearten plus plus plus minus gleich plus gleich gleich gleich minus minus plus minus minus ambulant teilstationär stationär Abb. 3: Verlaufstypen bei unterschiedlichen Hilfearten (N = 9.728 [a: 5.431, t: 797, s: 3.478]) 343 uj 7 + 8 | 2019 Verläufe bei Hilfen zur Erziehung Stationäre Hilfen im Verlauf Im Folgenden sehen wir uns die stationären Hilfen näher an (N = 3.478). Die Wahrscheinlichkeit, dass es nach anfänglichen Verschlechterungen doch noch zu einer positiven Wende kommt, beträgt p (positiv am Ende | negativ am Anfang) = 0,6. Den Term in der Klammer liest man so: „die Wahrscheinlichkeit, dass es eine positive Entwicklung am Ende gibt, nachdem es am Anfang negativ gelaufen ist“. Diesen Typ von Wahrscheinlichkeit bezeichnen wir mit p (wie probability) und geben sie als Dezimalzahl an, um sie von einfachen relativen Häufigkeiten zu unterscheiden. Die Wahrscheinlichkeit, die auch als Chance oder Risiko verstanden werden kann, wird in einer Zahl zwischen Null (keine Wahrscheinlichkeit) und 1 (Gewissheit, Sicherheit) angegeben. Die Chance eines Ereignisses x in Höhe von p = 0,6 bedeutet, dass man bei einer Vorhersage von x in 60 % der Fälle Recht behalten hätte. Wenn man wetten wollte, würde die Wettquote 0,6 zu 0,4 betragen, also 3 zu 2. Risiko- oder Chancen-Prognosen sind die Grundlagen von Entscheidungen. Wen diese Bayes’sche Statistik interessiert, der sei ebenfalls auf unsere Website verwiesen. Merken sollte man sich aber, dass nach einem negativen Verlauf die Wahrscheinlichkeit einer positiven Wende größer (p = 0,6) ist als die Wahrscheinlichkeit eines schlussendlichen Scheiterns (p = 0,4). Für die Praxis der Hilfen zur Erziehung bedeutet das, dass die Geduld der Akteure und eine angemessene Dauer der Hilfen notwendige Voraussetzungen sind, eine Hilfe zu einem guten Ende zu führen. Kontinuität und die angemessene Hilfedauer sind die stärksten Wirkfaktoren. Nach einer großen Wirkungsuntersuchung zu Hilfen zur Erziehung in Berlin (Tornow 2012) war das Fazit der Senatsverwaltung: Die Heime sollten ihre „Haltekompetenz“ erhöhen. Ich selber war nicht damit einverstanden, die Verantwortung dafür allein den Leistungsträgern anzulasten. Aber es stimmt schon, anfängliche Verschlechterungen oder Krisen in der Heimgruppe sollten nicht gleich Zweifel an der Eignung und an den Chancen auf einen guten Abschluss zur Folge haben. Natürlich können Heime bei besonders schwierigen Verläufen an eine Belastungsgrenze kommen und deswegen eine Entlassung oder Verlegung anstreben. Eine Negativprognose wegen eines negativen Verlaufs lässt sich daraus nicht ableiten. Auch bei Negativ-Verläufen im ersten Jahr ist die Gelingenswahrscheinlichkeit immer noch größer als das Scheitern. Hiermit widersprechen wir Macsenaere und Esser (2012). Geduld brauchen auch die jungen Menschen und ihre Familien. Sie sollten gut darauf vorbereitet werden, dass eine HzE nicht zu sofortigen Lösungen führt, sondern dass es eine geduldige Arbeit brauchen wird, um Problemlagen, die meistens eine jahrelange Geschichte haben, zu wenden. Wenn die Hilfe im ersten Jahr aber abgebrochen wird, ist die Zielverfehlung gewiss. Leider führen anfängliche Negativentwicklungen oft zu Abbrüchen (Tornow/ Armbrecht 2014). Zugegeben: Manchmal stimmt die gewählte Hilfeform und das Setting nicht oder die Menschen kommen einfach nicht miteinander klar. Hier sind eine bessere Anfangsdiagnostik und ein tragfähigerer Kontrakt gefordert. Dennoch: Abbrüche zu vermeiden ist immer noch der stärkste Wirkfaktor. Man sollte wissen, dass das Abbruchrisiko, das in unserer Stichprobe zu Beginn der Hilfe p (Abbruch) = 0,37 ist, auch nach einem schlechten Start nicht viel größer ist: p (Abbruch | schlechter Start) = 0,40. Da wir schlecht dokumentierte, abgebrochene Hilfen aus der Stichprobe ausgeschlossen haben, könnte dieser Wert allerdings auch höher liegen. Dieses müsste gesondert untersucht werden. Etwas anders sieht es aus, wenn wir nach dem Abbruchrisiko fragen, nachdem es in der zweiten Hälfte zur Verschlechterung gekom- 344 uj 7 + 8 | 2019 Verläufe bei Hilfen zur Erziehung men ist (in 23 % der Fälle), egal wie die erste Hälfte verlaufen ist. Unter dieser Voraussetzung steigt das Abbruchrisiko von p (Abbruch) = 0,37 auf p (Abbruch | minus am Ende) = 0,57, was wahrscheinlich niemanden verwundert. Insgesamt bleibt als Fazit der Verlaufsbetrachtung ein positives Gesamtergebnis. Die meisten Hilfen führen zu positiven intendierten Veränderungen im Sinne einer Problemlösung oder zumindest Problementschärfung. Die Wege dahin sind unterschiedlich, aber bis auf wenige Ausnahmen erfolgreich. Dieser Befund und die Erkenntnis, dass im Verlauf bis zum Ende immer noch eine realistische Chance auf einen Hilfeerfolg besteht, sollte die Jugendhilfe ermutigen, bis zum Schluss optimistisch und geduldig zu sein. Harald Tornow e/ l/ s-Institut GmbH Bernsaustraße 5 - 7 42553 Velbert-Neviges E-Mail: harald.tornow@els-institut.de Literatur Erzberger, C., Steinkamp, O., Brodhuhn, T. (2014): Evaluation der ambulanten Jugendhilfemaßnahmen im Landkreis Osnabrück. NDV, (Mai), 224 - 230 Gigerenzer, G. (2009): Das Einmaleins der Skepsis: Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken. Berlin-Verl., Berlin Kahneman, D. (2016): Schnelles Denken, langsames Denken. Penguin, München Macsenaere, M., Esser, K. (2012): Was wirkt in der Erziehungshilfe? Wirkfaktoren in Heimerziehung und anderen Hilfearten. Reinhardt, München Tornow, H. (2012): Abschlussbericht für das Projekt Untersuchung zur Bestimmung steuerungsrelevanter Wirkungsfaktoren im Hilfeplanprozess im Rahmen des gesamtstädtischen Fachcontrollings Hilfen zur Erziehung in Berlin. Abgerufen von https: / / www. berlin.de/ sen/ jugend/ familie-und-kinder/ hilfe-zurerziehung/ fachinfo/ fachcontrolling-hilfen-zur-erzie hung/ mdb-sen-jugend-jugendhilfeleistungen-hil fen_zur_erziehung-abschlussbericht_wirkungsfakto ren.pdf, https: / / doi.org/ 10.2378/ uj2016.art29d Tornow, H., Armbrecht, S. (2014): Wirkfaktoren im stationären Hilfeprozess. Beiträge zu Theorie und Praxis der Jugendhilfe, (8), 36 - 65