unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Professionelle Beziehungsgestaltung in der Arbeit mit "Systemsprengern"
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2019
Tijs Bolz
Viviane Albers
Menno Baumann
Kinder und Jugendliche, die durch keine pädagogische oder therapeutische Maßnahme erreichbar erscheinen, zeigen den pädagogischen Handlungsfeldern auf unterschiedlichen Wegen die vermeintlichen Grenzen der Erziehung und somit auch der Beziehungsgestaltung auf. Dabei stehen Beziehungsdynamiken in pädagogischen Grenzsituationen und institutionellen Eskalationsprozessen ganz besonders im Fokus.
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297 unsere jugend, 71. Jg., S. 297 - 304 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art49d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Tijs Bolz Jg. 1989; Sonderpädagoge, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fachgruppe Pädagogik bei Verhaltensstörungen/ Emotionale und Soziale Entwicklung sowie in der Fachgruppe Sonder- und Rehabilitationspädagogische Psychologie an der C. v. O. Universität Oldenburg Professionelle Beziehungsgestaltung in der Arbeit mit „Systemsprengern“ Kinder und Jugendliche, die durch keine pädagogische oder therapeutische Maßnahme erreichbar erscheinen, zeigen den pädagogischen Handlungsfeldern auf unterschiedlichen Wegen die vermeintlichen Grenzen der Erziehung und somit auch der Beziehungsgestaltung auf. Dabei stehen Beziehungsdynamiken in pädagogischen Grenzsituationen und institutionellen Eskalationsprozessen ganz besonders im Fokus. Im Fokus des Beitrags steht eine Zielgruppe, die verschiedene pädagogische Akteure in unterschiedlichen Handlungsfeldern vor vielfältige Herausforderungen in der aktuellen Praxis stellt. Junge Menschen, die Systeme sprengen, zeigen aus Sicht der Hilfesysteme oft gewaltförmige oder verfestigte selbst- und fremdverletzende Verhaltensmuster und/ oder weisen Drogen- und Substanzmissbrauch, massiv distanziertes und aversives Verhalten oder schwerste traumatische Erlebnisse auf. Dies kennzeichnet eine Zielgruppe, die sowohl im fachwissenschaftlichen als auch pädagogischen Handlungsfeld als so genannte „Systemsprenger“ bezeichnet wird, auch wenn dieser Begriff einige kritische Aspekte enthält (Baumann 2018). Aus psychologischer bzw. psychiatrischer Perspektive weisen sie häufig Mehrfachdiagnosen auf und gelten teilweise als nicht therapiefähig. Es handelt sich um junge Menschen, die im besonderen Maße den „klassischen“ Risikofaktoren der Entwicklung ausgesetzt sind. Sowohl die massiv (ver-)störenden Verhaltensweisen der jungen Menschen als auch die damit zusammenhängenden eigenen Beziehungserfahrungen nehmen direkten Einfluss auf die professionelle Beziehungsgestaltung zwischen Pädagogen und dem jungen Menschen selbst. Viviane Albers Jg. 1988; Sonderpädagogin, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Fachgruppe Pädagogik bei Verhaltensstörungen/ Emotionale und Soziale Entwicklung an der C. v. O. Universität Oldenburg Prof. Dr. Menno Baumann Jg. 1976; Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf und Bereichsleiter bei einem norddeutschen Jugendhilfeträger 298 uj 7 + 8 | 2019 Beziehungsgestaltung bei Systemsprengern Im Rahmen des Beitrags werden die Beziehungsdynamiken in pädagogischen Grenzsituationen und institutionellen Eskalationsprozessen analysiert, die biografischen Aspekte aus bindungstheoretischer Perspektive beleuchtet und strategische Überlegungen sowie Impulse für eine Beziehungsgestaltung mit dieser Zielgruppe vorgestellt. „Systemsprenger“ und die besonderen Chancen sowie Herausforderungen der Beziehungsgestaltung Die als massiv (ver-)störend wahrgenommenen Verhaltensweisen stellen Bewältigungsstrategien der aktuellen und/ oder vergangenen Lebenswelt dar und beeinflussen die Gestaltung von Beziehung, da sie mit den Beziehungserwartungen von Fachkräften schwer vereinbar erscheinen (Baumann 2012). Das (pädagogische) System umfasst verschiedenste Settings und Einrichtungen mit individuellen strukturellen sowie institutionellen Voraussetzungen. Die jungen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe bewegen sich zwischen diesen unterschiedlichen Settings des (pädagogischen) Hilfesystems und sammeln infolgedessen verschiedene Erfahrungen mit den jeweiligen Rahmenbedingungen. Besonders von Brüchen geprägte negative Erfahrungen mit dem Hilfesystem können dazu führen, dass junge Menschen zu „Systemsprengern“ werden. Die Entwicklung (und Manifestierung) eskalierender Verhaltensweisen bis zur Sprengung des Systems beschreibt dabei einen Interaktionsprozess zwischen diesen jungen Menschen und dem sie umgebenden Hilfesystem. Daher gilt es, systemimmanente Eigenschaften bei der Betrachtung der „Sprengungsversuche“ zu berücksichtigen. Die Zuschreibung „Systemsprenger“ ist daher weder als eine Persönlichkeitseigenschaft noch als eine medizinische Diagnose zu verstehen, sondern stellt einen Interaktionsprozess zwischen dem jungen Menschen und dem Hilfesystem dar, innerhalb dessen er sich bewegt (Baumann 2019; 2018). Die biografischen Muster der Beziehungsgestaltung zwischen Kindern und ihren Eltern bzw. Erziehungsberechtigten sind bereits von stark belasteten Lebenssituationen gekennzeichnet. Diese umfassen häufig ein hohes Maß an Unzuverlässigkeit, Unsicherheit, Versagens- und Enttäuschungserfahrungen, unterschiedlichste Formen der Vernachlässigung bis hin zu Missbrauch (in allen Facetten). Auch können bereits die Eltern in ihren jeweiligen Entwicklungsbedürfnissen und Lebenslagen eingegrenzt worden sein. Wie die nachfolgende Abbildung 1 verdeutlicht, kann dieses Faktorenbündel psychosozialer Not Abb. 1: Parallele Interaktionsdynamiken im Klienten- und Hilfesystem (in Anlehnung an Baumann/ Bolz/ Albers 2017) ➤ Unzuverlässigkeit ➤ Unberechenbarkeit ➤ Ambivalenz ➤ Überforderung ➤ Überwältigung ➤ Grenzenlosigkeit ➤ Fremdbestimmung ➤ Überlastung ➤ Methodische und fachliche Beliebigkeit ➤ Institutionelle Zersplitterung ➤ organisatorische Unverbindlichkeit Klientensystem Hilfesysteme Junge Menschen in Schwierigkeiten 299 uj 7 + 8 | 2019 Beziehungsgestaltung bei Systemsprengern dazu beitragen, dass sich diese Ambivalenzen und Diskontinuitäten der Eltern-Kind-Beziehung im Hilfesystem widerspiegeln. Jungen Menschen, die bereits in der Familie diesen Erfahrungen ausgesetzt waren, erleben mit ihrem Einstieg in das Hilfesystem, der häufig aufgrund von Schulproblemen geschieht (Kalter 2004; Tornow/ Ziegler 2012), immer mehr Fremdregulation. Offene, familienorientierte, niedrigschwellige Maßnahmen im Rahmen der „Hilfen zur Erziehung“ (HzE) (§§ 27 SGB VIII) greifen zunächst nicht. Die Intensität dieser Hilfen muss zunehmen. Temporäre Phasen der Beruhigung innerhalb ambulanter Hilfen laufen ins Leere, da die familiäre Konfliktdynamik nicht ausreichend verändert werden kann. Die Konsequenz ist häufig eine erste wohnortnahe, sozialraumorientierte Unterbringung. Nicht selten ist zu beobachten, dass der junge Mensch scheinbar gegen diese Maßnahme ankämpft. Er bewirkt durch sein Verhalten ein Scheitern dieses Hilfeangebotes, kehrt für kurze Zeit zurück zur Familie und erhält infolgedessen eine weitere Hilfemaßnahme, die häufig nicht nur in größerer Entfernung zur Familie liegt, sondern auch einen intensiveren Betreuungsschlüssel bietet. Eine erneute anfängliche Anpassung an diese Hilfe führt schließlich zur institutionellen Eskalation (Schwabe 1996) und der damit verbundenen Aufgabe des jungen Menschen. An dieser Stelle beginnt dann ein Prozess der Verhärtung. „Das Kind wird zum ‚Profi‘, pädagogische Bemühungen wieder abzuschütteln und ins Leere laufen zu lassen“ (Baumann 2010). Wenn ein junger Mensch erst einmal als schwierig im Hilfesystem definiert ist, ist die Auflösung dieser Etikettierung äußerst schwer. Ein stetiger Wechsel zwischen Maßnahmenneubeginn und Maßnahmenabbruch steht sinnbildlich für die bereits in zahlreichen Beziehungen gemachten ambivalenten Erfahrungen. In der Konsequenz schafft das Hilfesystem seinerseits eine erneute Diskontinuität (Baumann 2018). Wie durch verschiedene Studien unserer Arbeitsgruppe hinreichend belegt, sind die Hilfeverläufe dieser Zielgruppe geprägt von Delegationsmechanismen einzelner Institutionen, und die jungen Menschen werden nicht selten durch verschiedene Hilfesysteme hindurchgereicht. In der Folge ist eine Pendelbewegung zwischen Systemen der Kinder- und Jugendhilfe, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und/ oder Einrichtungen der Justiz zu beobachten. Das Hilfesystem und die einzelnen Akteure dieser Settings kommen an Grenzen ihrer pädagogischen Arbeit, und Hilfeplanungsprozesse scheinen diese jungen Menschen nicht zu erreichen (Baumann 2010; 2014; 2019; Baumann/ Bolz/ Albers 2017). Diese Delegationsmechanismen lassen Muster erkennen, die die „Karrieren durch gesprengte Systeme“ kennzeichnen. Der institutionelle Anteil an eskalierenden Situationen und Hilfen muss somit auch bei der Gestaltung von professionellen Beziehungen berücksichtigt werden. Das vom jungen Menschen ausgehende Verhalten kann weit über der Belastbarkeitsgrenze einer Institution liegen, denn massiv (ver-)störende Verhaltensweisen können von den einzelnen Akteuren der jeweiligen Settings unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. Die Bewertung und Wahrnehmung massiv (ver-)störender Verhaltensweisen sind durch die individuellen (biografischen) Erfahrungen der Mitarbeitenden geprägt. Somit sind die individuellen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster für die Reaktion auf die gezeigten Verhaltensweisen der jungen Menschen von hoher Relevanz. Insofern ist die Begegnung mit (ver-)störenden Verhaltensweisen immer auch eine Begegnung mit sich selbst. Demnach liegen die besonderen Herausforderungen in einer professionellen Beziehungsgestaltung zwischen „Systemsprengern“ und dem Hilfesystem in der Gestaltung eines wechselseitigen Interaktionsprozesses, der Sicherheit, Halt und Orientierung bieten kann und somit verlässliche und berechenbare Erfahrungen für beide Seiten bietet. 300 uj 7 + 8 | 2019 Beziehungsgestaltung bei Systemsprengern Professionelle Beziehungsgestaltung aus bindungstheoretischer Perspektive Die bereits beschriebenen Prozesse der Verschiebung und des „institutionell getragenen Ping-Pong-Spiels“ sowie die Beziehungserfahrungen aus dem Familiensystem stellen aus Perspektive des jungen Menschen immer wieder Bindungs- und Beziehungsabbrüche dar. Darüber hinaus spiegeln sich die möglichen Diskontinuitätserfahrungen aus dem Klientensystem in der Fallsteuerung und Hilfeplanung wider. Aus bindungstheoretischer Perspektive wirken sich diese Beziehungs- und Bindungserfahrungen auf die Entwicklung des jungen Menschen aus und beeinflussen somit die Gestaltung neuer Beziehungen (Zimmermann 2000). Die Einnahme einer bindungstheoretischen Perspektive kann somit einen Beitrag zum Wahrnehmen, Verstehen und Handeln in der Arbeit mit dieser Zielgruppe leisten. Um die Bedeutsamkeit und Potenziale der Einnahme einer bindungstheoretischen Perspektive auf die professionelle pädagogische Beziehungsgestaltung darzustellen, soll zunächst kurz auf die Grundannahmen der Bindungstheorie eingegangen werden. Unter Berücksichtigung psychoanalytischer, evolutionstheoretischer, ethologischer, informationstheoretischer sowie kognitionspsychologischer Erkenntnisse ging Bowlby (1969) im Rahmen seiner ursprünglichen Bindungstheorie davon aus, dass Menschen von Geburt an nach dem Aufbau emotionaler Beziehungen streben. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse leitet Bowlby (1969) bindungstheoretische Grundannahmen ab, die hier nur verkürzt skizziert werden können: ➤ Bindung an eine Bezugsperson dient der Herstellung und Aufrechterhaltung physischer und psychischer Nähe. ➤ Die Bestrebungen nach physischer und psychischer Nähe sind im Bindungsverhaltenssystem organisiert, welches von der Wechselwirkung zwischen Bindungsverhalten (z. B. Rufen, Anklammern, Weinen, Lächeln sowie Protest) und Explorationsverhalten geprägt ist. ➤ Erfahrung der Präsenz einer primären Bindungsperson schützt vor Angstentwicklung. ➤ Vertrauen in die Zuverlässigkeit/ Verfügbarkeit der Bindungsperson beeinflusst die Bildung eines inneren Arbeitsmodells (Skript oder Konzept von Beziehung). Durch geeignete Fürsorgeverhaltensweisen der Bezugsperson können die Bedürfnisse des Kindes nach Nähe und Sicherheit befriedigt werden. Die primäre Bezugsperson fungiert als sicherer Hafen, zu dem das Kind zurückkehren kann (Ainsworth 1967). Im weiteren Verlauf der Entwicklung werden die verschiedenen Erfahrungen mit den frühen Bindungspersonen in internalen Arbeitsmodellen von Bindung integriert (Bowlby 1969; Main/ Kaplan/ Cassidy 1985). Wie im Rahmen der hier dargestellten bindungstheoretischen Grundannahmen deutlich wird, nehmen die frühen Bindungs- und Beziehungserfahrungen und die daraus entwickelten internalen Arbeitsmodelle einen zentralen Schwerpunkt für die Gestaltung von zukünftigen Beziehungen sowie Betrachtung von Verhaltensweisen ein. Dies gilt sowohl für die jungen Menschen als auch für Pädagogen und Pädagoginnen! Anknüpfend an frühere Erfahrungen werden Erwartungen an das Verhalten von Bezugspersonen ausgebildet, aber auch Rückschlüsse über eigene Fähigkeiten und Eigenschaften vorgenommen. Später ausgebildete Bindungsstile sind letztlich ein Resultat vieler Interaktionen und haben einen bedeutenden Einfluss auf die Gestaltung von Beziehungen, die Ausbildung des Selbst- und Fremdbilds (positiv sowie negativ) und die Bewertung zukünftiger Situationen (Zimmermann 2000). Die Bewältigung von Bildungs-, Lernsowie Entwicklungsmöglichkeiten hängt von diesen Prozessen ab (Zimmermann 2000). 301 uj 7 + 8 | 2019 Beziehungsgestaltung bei Systemsprengern Alle Menschen kommen mit unterschiedlichen Bindungs- und Beziehungserfahrungen in das Hilfesystem. Es ist davon auszugehen, dass sie die Beziehungen im aktuellen pädagogischen Kontext orientiert an den Erfahrungen aus der Familie sowie den bisherigen Erfahrungen mit dem Kinder- und Jugendhilfesystem gestalten. Sie übertragen ihr ausgebildetes Konzept von Bindung und Beziehung auf Interaktionen mit Akteuren in pädagogischen Handlungsfeldern (Kißgen 2010; Julius 2009). Ausgehend von diesen bindungstheoretischen Grundlagen können Reflexionsanstöße für das Wahrnehmen und Verstehen von massiv (ver-) störenden Verhaltensweisen abgeleitet und dementsprechend die Gestaltung pädagogischer Beziehungen in der Arbeit mit vermeintlichen „Systemsprengern“ unterstützt werden. Wie bereits einführend dargestellt, werden junge Menschen, die Systeme sprengen, im Verlauf ihres Lebens Zurückweisung, Unzuverlässigkeit oder Vernachlässigung erfahren haben. Mit Beginn einer neuen Hilfe ergibt sich die Herausforderung, neue zwischenmenschliche Beziehung einzugehen bzw. diese überhaupt als sinnvoll zu betrachten. Die Bewältigung dieser Erfahrung kann sich im Versuch äußern, emotionale Beziehungen durch selbstgewählte Isolierung, Ablehnung oder maladaptive Verhaltensweisen zu gestalten. Bestimmte Beziehungsstrategien können als massiv (ver-) störende Verhaltensweisen im pädagogischen Kontext wahrgenommen werden. Junge Menschen dieser Zielgruppe haben meist die Erfahrung gemacht, dass ihre primären Bezugspersonen regelmäßig wenig feinfühlig, oft sogar destruktiv auf die frühen Bindungsverhaltensweisen reagieren. Die daraus ausgebildeten Selbst- und Fremdbilder sowie das entstandene Verständnis von Beziehungsgestaltung können sich in vermeidenden Verhaltensweisen äußern und die Gestaltung pädagogischer Beziehung herausfordernd beeinflussen. Eine „Einteilung“ oder gar Klassifikation von Bindungsstilen nach Ainsworth, Blehar, Water und Wall (1978) erscheint uns hier nicht primär zielführend, aber Untersuchungen zeigen, dass aus bindungstheoretischer Sicht eher von unsicheren Bindungstypen bei dieser Zielgruppe auszugehen ist (Julius 2009). Neben deutlich vermeidend ausgebildeten Beziehungsstrategien, die sich primär durch scheinbare Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung auszeichnen, können die Verhaltensweisen von jungen Menschen ebenfalls durch ambivalente Bindungs- und Beziehungserfahrungen geprägt sein. Bei jungen Menschen, die beispielsweise in den frühen Jahren der Entwicklung die Bezugsperson als unberechenbar hinsichtlich Verfügbarkeit sowie Responsivität erfahren haben und bei denen sich die Bezugsperson mal feinfühlig und mal weniger feinfühlig in angstauslösenden Situationen verhalten hat, kann die Beziehungsgestaltung mit Pädagogen oder anderen jungen Menschen entweder von der ständigen Suche nach Nähe oder von ambivalenten Verhaltensweisen mit massiven Ärgerreaktionen geprägt sein. In der Begegnung mit (ver-)störenden Verhaltensweisen kann das Wissen über die bisherigen Bindungserfahrungen von jungen Menschen zu einer reflektierten Einordnung von bindungs- und beziehungsbezogenen Verhaltensweisen beitragen und eine zielgerichtete Fallsteuerung sowie die konkrete pädagogische Arbeit unterstützen (Julius 2009). Die Analyse der bisherigen „Hilfekarriere“, den darin erlebten Beziehungsabbrüchen sowie der Bindungs- und Beziehungsabbrüche im Familienkontext kann in pädagogischen Situationen genutzt werden, um negative Bindungserfahrungen von vermeintlichen„Systemsprengern“ zu unterbrechen bzw. in anderen Kontexten zu verändern. Werden diese beschriebenen Erfahrungen ebenfalls durch Diskontinuitätserfahrungen im pädagogischen System fortgeführt, können die bereits bekannten Muster stabilisiert werden. Die 302 uj 7 + 8 | 2019 Beziehungsgestaltung bei Systemsprengern Aufgabe innerhalb der pädagogischen Beziehungsgestaltung muss es sein, entgegen dieser Erfahrungen Kontinuität, Verlässlichkeit und Stabilität zu bieten, die für den jungen Menschen aber erkennbar und anschlussfähig sein muss - dies kann bei Kindern und Jugendlichen mit sehr destruktiven Vorerfahrungen eine große Herausforderung darstellen (Baumann 2019). Eine zentrale Rolle im Rahmen einer professionellen Beziehungsgestaltung stellt die Feinfühligkeit innerhalb der Interaktion zwischen dem jungen Menschen und dem Pädagogen dar. Feinfühligkeit liegt im pädagogischen Kontext vor, wenn ein Pädagoge sensitiv, angemessen und prompt auf Verhaltensweisen des jungen Menschen reagiert. Pädagogen können im pädagogischen Kontext als professionelle Fürsorgepersonen bzw. Bezugspersonen fungieren. Ein weiterer wesentlicher Ansatzpunkt für die Gestaltung professioneller Beziehungen kann die Betrachtung der Bindungserfahrungen und -repräsentationen von pädagogischen Fachkräften darstellen. Besonders in therapeutischen Arbeitsfeldern ist diese bereits fester Bestandteil der Arbeit. Im pädagogischen Kontext könnte die Betrachtung eigener Bindungs- und Beziehungserfahrungen einen Beitrag zu Fragen der Nähe und Distanz leisten sowie zur Stärkung professioneller Selbstreflexionsfähigkeit liefern. Loyalitätsverstrickung und die Bedeutung des „aktiven Aushaltens“ In der Analyse von scheiternden, aber auch von gelingenden Fallverläufen haben sich in unseren Forschungen im Kontext der „Systemsprenger-Problematik“ zwei Aspekte als zentral herausgestellt (Baumann/ Bolz/ Albers 2017; Baumann 2012): Die besondere Berücksichtigung von Loyalitätsverstrickungen sowie die Bedeutung des „aktiven Aushaltens“. Den Hilfeverlauf als „Systemsprenger“ zu gestalten ist in überdurchschnittlich vielen Fällen für die jungen Menschen, die aus sehr komplexen familiären Beziehungsverstrickungen entstammen, die einzige Möglichkeit der Handlungsgestaltung. Einerseits gibt es viele Kinder, die schon sehr jung die Verantwortung für Familienmitglieder übernehmen - sei es für einen psychisch erkrankten Elternteil, für jüngere Geschwister oder auch für die Beziehung der Eltern zueinander (sowohl in strittigen als auch in erkalteten Elternbeziehungen). Ebenfalls haben wir es überdurchschnittlich häufig mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die gegen den Elternwillen im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe betreut werden oder die befürchten müssen, dass durch ein enges Vertrauensverhältnis zu den pädagogischen Fachkräften Ereignisse und Lebensumstände deutlich werden, die für die Eltern negative Konsequenzen haben. In solchen Konstellationen von Beziehungsvorerfahrungen ist ein Einlassen auf neue Beziehungserfahrungen mit Pädagogen ein tendenziell bedrohlicher, den eigenen Zielen widersprechender Prozess (Baumann 2012). Mit diesen jungen Menschen in eine professionelle Beziehung einzusteigen, erfordert den Spagat, als Beziehungspartner konstant verfügbar zu sein, ohne zu erwarten, dass der Betroffene dieses erkennt oder annimmt. Das Nähe-Distanz-Verhältnis muss in den Händen des jungen Menschen liegen dürfen, und dennoch muss der Pädagoge in den Momenten, in denen das Bindungsverhalten des jungen Menschen für oft nur kurze Zeitfenster aktiviert wird, präsent sein. Dies bedeutet einerseits, extrem sensibel zu beobachten, aber vor allem, Enttäuschungen, widersprüchliche Beziehungsangebote und auch Aggressionen gerade nach gelungenen Interaktionen integrierbar zu machen. Der zweite Aspekt, das „aktive Aushalten“, ist ebenfalls ein bedeutsames Beziehungselement mit vermeintlichen „Systemsprengern“. Viele Verhaltensweisen, die der junge Mensch zeigt, 303 uj 7 + 8 | 2019 Beziehungsgestaltung bei Systemsprengern lassen sich nicht einfach so „abschalten“. Es kommt zwangsläufig zu Überforderungssituationen und Grenzverletzungen, die einen Menschen in natürlichen Beziehungskontexten dazu bewegen würden, den Kontakt zukünftig radikal zu meiden. Bleibt die pädagogische Fachkraft diesen Interaktionserfahrungen - z. B. Gewalt - ohnmächtig ausgeliefert, kann eine Beziehungsgestaltung nicht gelingen, da das Bindungssystem des Erwachsenen permanent auf Distanz bestehen wird. „Aushalten“ und „Symptomtoleranz“ (Baumann 2012) können also keine passiven Prozesse des „Erduldens“ und „über-sich-ergehen-Lassens“ bleiben, da dieser Zustand nicht aushaltbar erscheint. Krankschreibungen und Mitarbeiterfluktuationen sind dann die Folge (Schmid/ Kind 2018). Das Konzept des „aktiven Aushaltens“ dagegen meint, die widersprüchlichen Beziehungsangebote als Teil der Reinszenierung von destruktiven Bindungserfahrungen zu begreifen und daraus Hypothesen abzuleiten, warum das (ver-)störende Verhalten des jungen Menschen wichtiger Teil des Prozesses auf dem Weg neuer Bindungserfahrungen ist. Somit wird eine verstehende Diagnostik zu einem unabdingbaren Baustein professioneller Beziehungsgestaltung in (intensiv-)pädagogischen Kontexten (Baumann/ Bolz/ Albers 2017; Baumann 2019). Fazit Übergeordnetes Ziel pädagogischer Arbeit mit vermeintlichen „Systemsprengern“ ist die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung der Passung zwischen den individuellen Bedarfen des jungen Menschen und den Maßnahmen sowie Settings des Hilfesystems. Die Gestaltung professioneller Beziehungen stellt dabei die Basis pädagogischen Handelns dar. Die angeführten Implikationen können Reflexionsanstöße bieten, bindungs- und beziehungsrelevante Aspekte im Rahmen der Hilfeplanung und Fallsteuerung wahrzunehmen, zu verstehen und Hilfesysteme als sichernde und haltende Orte sowohl für die Kinder und Jugendlichen als auch für die Pädagogen erfahrbar zu machen. Im Rahmen des Beitrags konnte verdeutlicht werden, welche Bedeutung dabei der Berücksichtigung der Beziehungserfahrungen der jungen Menschen selbst, aber auch der der Pädagogen zukommt. Besonders in der Arbeit mit vermeintlichen „Systemsprengern“ muss dieses Wissen in die pädagogische Arbeit integriert werden und kann einen Beitrag dazu leisten, stabile, kontinuierliche und tragfähige Beziehungen zu ermöglichen und Erziehungsprozesse professionell zu gestalten. Tijs Bolz Viviane Albers C. v. O. Universität Oldenburg Postfach 2503 26111 Oldenburg E-Mail: tijs.bolz@uol.de viviane.albers@uol.de Menno Baumann Fliedner Fachhochschule Düsseldorf Alte Landstraße 179 40489 Düsseldorf E-Mail: baumann@fliedner-fachhochschule.de 304 uj 7 + 8 | 2019 Beziehungsgestaltung bei Systemsprengern Literatur Ainsworth, M., Blehar, M., Water, E., Wall, S. (1978): Patterns of attachment. A psychological study of the strange situation. Erlbaum, HIllsdale Baumann, M. (2019): Kinder, die Systeme sprengen - Impulse, Zugangswege und hilfreiche Settingbedingungen für Jugendhilfe und Schule (Band 2). Schneider, Baltmannsweiler Baumann, M. (2018): Kinder, die Systeme sprengen? Die Dynamik scheiternder Hilfeverläufe und (ver-)störender Verhaltensweisen. In: unsere jugend (70) 1/ 2018, 2 - 10, https: / / doi.org/ 10.2378/ uj2018.art02d Baumann, M. (2014): Jugendliche Systemsprenger - zwischen Jugendhilfe und Justiz (und Psychiatrie). 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