eJournals unsere jugend 71/7+8

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2019
717+8

Nächstenliebe

71
2019
Maria Kurz-Adam
Das Motiv der Nächstenliebe ist in der modernen Diskussion um Professionalität und Beziehungsgestaltung in der Kinder- und Jugendhilfe in die Kritik geraten. Doch kann eines der grundlegendsten und historisch frühesten Motive für die Entstehung sozialer Berufe schlicht über Bord geworfen werden? Der Beitrag versteht sich als Plädoyer für die Nächstenliebe.
4_071_2019_7+8_0327
327 unsere jugend, 71. Jg., S. 327 - 332 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art53d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Maria Kurz-Adam Jg. 1961; Diplompsychologin und Autorin, ehemalige Leiterin des Stadtjugendamtes München Nächstenliebe Anmerkungen zu Professionalität und Beziehung in der Kinder- und Jugendhilfe Das Motiv der Nächstenliebe ist in der modernen Diskussion um Professionalität und Beziehungsgestaltung in der Kinder- und Jugendhilfe in die Kritik geraten. Doch kann eines der grundlegendsten und historisch frühesten Motive für die Entstehung sozialer Berufe schlicht über Bord geworfen werden? Der Beitrag versteht sich als Plädoyer für die Nächstenliebe. Nächstenliebe Nächstenliebe ist eine der ältesten und mächtigsten Wurzeln des Helfens. Sie bedeutet mehr als das Helfen aus Freundschaft oder aus Verwandtschaft, mehr als Helfen aus politischem oder staatlichem Willen, denn sie begründet ein Helfen ohne Voraussetzung, ohne Erwartungen. In der Geschichte der Professionalisierung des Helfens nimmt die Nächstenliebe einen wichtigen Platz ein. Die Menschen, die ihren Weg in die sozialen Berufe finden wollen, begründen vielfach auch heute ihre Wahl mit der Liebe zum Nächsten, mit dem Wunsch, helfen zu wollen, unabhängig von Politik, Freundschaft oder inneren familiären Beziehungen. Sie wollen für andere da sein, und diese „Anderen“ sind eine Größe, an der keine Voraussetzung hängt außer der, dass diese Anderen in Not sind, leiden, Hilfe brauchen. Im Zuge der Modernisierung der helfenden Professionen ist dieses Motiv der Nächstenliebe zunehmend infrage gestellt worden. Nächstenliebe erscheint in der professionellen helfenden Arbeit heute als nahezu naives, unterkomplexes Konstrukt, das Fragen der Gewalt, der strukturellen Ungerechtigkeit, der Unterdrückung und der Ausgrenzung völlig ausblendet, ein unpolitischer, ja unkritischer Gestus der Empathie, der ein planvolles und vorausschauendes helfendes Handeln nahezu verhindert. Helfen aus Nächstenliebe sei, so ist es im Standardwerk von C.W. Müller (2013) über „Helfen als Beruf“ zu lesen, ein Handeln frei von kritischer Analyse, es fehle ihm das Bewusstsein gegenüber der Entstehung von Not und Leid, es fehle ihm der Plan, die Weitsicht für die Folgen, der Blick auf die Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse. Helfen aus Nächstenliebe sei Helfen mit dem moralischen Zeigefinger, es führe nicht weiter als bis zur nächsten Straßenecke, wo der nächste Bedürftige liege. All dies wird den Menschen, die aus Nächstenliebe helfen wollen, in den Lehrbüchern der helfenden Professionen entgegengehalten, all dies bekommen die Studierenden der helfenden Berufe in ihren Ausbildungen zu hören. Nächstenliebe in den helfenden Berufen wird als Ausgangsmotiv der Berufswahl vielleicht geduldet, das Engagement geschätzt, als Handlungsmaxime gilt sie nicht mehr. 328 uj 7 + 8 | 2019 Nächstenliebe Helfen als Beruf Helfen ist heute ein abschüssiges Gebiet. Wer sich darauf begibt, muss mit Gefahren und Urteilen rechnen. Vor allem die helfenden Berufe sind diesen Gefahren ausgesetzt. Sie müssen sich im Zuge ihrer Professionalisierung mehr und mehr damit auseinandersetzen, ob das, was sie tun, den Anforderungen der Professionalität entspricht, ob sie genügend wissen, genügend Weitblick haben, alle Unwägbarkeiten miteinbeziehen, sich an die Standards halten, die Vorgaben beachten, die Abläufe einhalten, Komplexität erfassen können, die Zahlen kennen. Professionelle Arbeit in sozialen Hilfesystemen versteht sich heute als ein differenziertes und komplexes Geschehen, eingebunden in ökonomische, bürokratische und wissenschaftliche Abfolgen. Der Hilfebegriff selbst, einmal Bestandteil der helfenden Berufe, ist heute allenfalls umstritten, er gilt vom Standpunkt der Moderne aus als rückwärtsgewandt, weil er die Menschen, die Anspruch auf Leistungen der sozialen Hilfesysteme haben, zu bloßen Bedürftigen erkläre, ihnen eine Position der Schwäche zuweise, weil mit dem Begriff der Hilfe selbst eine Machtverteilung vorgenommen werde, die die Macht zuteile - hier die mächtigen Expertinnen und Experten, dort die bedürftigen Hilfesuchenden, die auf den Willen der Helfenden angewiesen sind. Hilfe erscheint als kontingent, nicht im System planbar, ein schwaches, fast beliebiges Tun, das Abhängigkeiten voraussetzt und vervielfacht. Die Hilfe aus Nächstenliebe erscheint in diesem Professionsverständnis als etwas, das nicht systematisch eingefordert werden kann, sie ist abhängig von schwankenden menschlichen Gefühlen und Stimmungen, von moralischen Größen, die nicht einklagbar sind, nicht berechenbar sind. Denn wie lässt sich Zuwendung überprüfen, wie lässt sich Empathie systematisch einfordern, wie lässt sich ein Recht auf Nächstenliebe einklagen? Zeit, Plan, Geld und Techniken für Hilfe lassen sich einfordern, wenn ein Antrag gestellt ist und die Voraussetzungen geprüft worden sind. In der Moderne wird die Hilfe, wird das Helfen heute lieber durch den Begriff der „Leistung“ ersetzt. Auf sie ist Anspruch zu erheben, gezählt in Stunden, Tagen oder Jahren, erbracht in Gesprächseinheiten, Diagnoseverfahren, Trainingsplänen. Man kann Hilfe über einen Antrag einfordern, der geprüft wird, über den ausgehandelt wird, der kontrollierbar ist. Hilfe ist heute Dokument, Teil einer Akte, sie ereignet sich im System einer Mittelverteilung, die unabhängig von Gefühlen und Stimmungen geschehen soll, sie ist mit Geld hinterlegt, mit Zeit, mit prüfbarer Fachlichkeit. In der Kinder- und Jugendhilfe gibt es das Fachkräftegebot und den Hilfeplan, der alle diese Anforderungen erfüllen soll - er ist sowohl Expertise des Helfens als auch ein Dokument, das die Rechte, die Zeit, das Geld und die Art der Hilfe festlegt. Helfen als Beruf ist Teil dieses als gerecht angesehenen Systems geworden. Die Professionen in den sozialen Hilfesystemen finden in diesem System formaler Gerechtigkeit ihren Rahmen und ihre Heimat, ihr Wissen und Können sind darin eingebettet. Die helfenden Berufe in der Moderne verstehen sich heute als Teil eines professionellen Systems, das seine Anerkennung dadurch erhält, dass es sich unabhängig von den Kontingenzen individueller Machtansprüche und subjektiver Empfindungen macht. Die helfenden Berufe stellen ein Können bereit, das für alle gleich sein soll und auf das alle gleichermaßen Anspruch haben können. Sie verstehen sich als Teil geordneter staatlicher Gerechtigkeit. Als Gegenleistung erkennen sie das moderne System der verwalteten Hilfe an, seine Voraussetzungen, seine Möglichkeiten, seine Pflichten, seine Anforderungen, seine Grenzen, seine Zwänge. Distanz Distanz ist das Credo der Professionalität. Vor allem in den helfenden Berufen, deren Grundlage und Werkzeug die Beziehung zu den Menschen ist, denen sie helfen sollen, ist die Distanz 329 uj 7 + 8 | 2019 Nächstenliebe zum eigenen Tun gefordert. Die professionelle Beziehungsarbeit braucht die innere und äußere Distanz als ihre Voraussetzung. Das ist Teil des Kanons des professionellen Helfens. Er ist nach außen hin sichtbar - Räume und Türschilder markieren die Distanz, feste Zeiten des Helfens, Sprechstunden, klare Begrenzungen der Erreichbarkeiten stecken den Rahmen der Beziehung ab. Wer ihn verlässt, riskiert das Verlassen der Distanz, geht hinaus aufs offene Gelände, riskiert die Sicherheit, die Professionalität schaffen soll. Die Soziale Arbeit, gerade in der Kinder- und Jugendhilfe, versteht sich als Beziehungsarbeit. Das allein macht es schwer, sich zur Distanz zu verhalten. Denn die Grundlage der professionellen sozialen und pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist eine Form der Beziehung, die auf Empathie gründet. Sie setzt Einfühlung voraus. Die Beziehung gilt als der Ort, an dem Empathie geschieht, Einfühlung in die Not des Anderen, der Ort, an dem Hilfe und Veränderung geschehen kann. Ohne Beziehung zwischen den professionell Helfenden und den Kindern laufe, so die Überzeugung in der Kinder- und Jugendhilfe, jedes Angebot ins Leere, jede Unterstützung erkalte, jedes Konzept, jeder Hilfeplan werde zum Kunstprodukt. Die Beziehung ist das Werkzeug der Profession, Zugang zu den Menschen, die sie erreichen möchte, zu finden, sie ist die eine große Möglichkeit, zwischen den Angeboten und Anforderungen der helfenden Profession und den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen, die Anspruch auf Hilfe haben, zu vermitteln. Aber jede professionelle Beziehung braucht die Distanz. Der Zusammenbruch der Distanz gilt als die größte Gefahr der helfenden Professionen - denn distanzlos würden sich die Helfenden der Macht ihrer eigenen Wünsche ergeben, statt die Grenzen des Anderen zu achten. Sie werden, so die beständige Warnung in der Ausbildung und Begleitung der helfenden Professionen, zu hilflosen Helfenden. Daher gilt es, die professionelle Beziehung als eine Beziehung aus der Distanz einzuüben und zu betrachten. Die Mittel dieser Einübung sind Wissen und Reflexion. Wissen über Lebensverhältnisse, über politische Bedingungen, über die Strukturen und Veränderungsmöglichkeiten in der Gesellschaft, Wissen über die Psychologie der Ausbildung von Subjektivität gibt der Beziehung der professionell Helfenden zu den Kindern und Jugendlichen den nötigen Abstand. Reflexion ist das andere Mittel zur Distanz in den professionellen Beziehungen zwischen Helfenden und Hilfesuchenden. Indem die professionell Helfenden ihre Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen, die ihnen anvertraut sind und sich ihnen anvertrauen, einer dauernden Reflexion unterziehen, gelingt es, die geforderte Distanz zu wahren. Sie können in der Reflexion den Motiven ihres Helfens nachspüren. Und indem sie diese Wünsche und Ängste reflektieren, stellen sie Distanz her. Ihre Hilfe ist empathisch, aber zugleich immer auch eine Hilfe aus der Ferne. Das Maßnehmen der inneren Ferne ist das Kennzeichen moderner professioneller Beziehungsarbeit. Es verhindert die Hilflosigkeit der Helfenden. Die innere Ferne kann Raum der Erkenntnis sein, der Lösung, der Hilfe. Das macht ihren Wert aus, das macht ihr Gewicht aus in der Ausbildung und der hilfreichen Arbeit der helfenden Professionen. Aber Distanz kann auch klaffen. Sie kann sich zu einem leeren Raum ausdehnen, in dem das Ende der Hilfe lauert. Sie schafft eine Leerstelle zwischen den Helfenden und denen, die Hilfe brauchen, die sich ausweiten kann, sich vergrößert. In dieser Leerstelle werden die, die Not und Leid erfahren, alleingelassen. Denn die Ferne, hergestellt mit Wissen und Reflexion, ist ein Ort der Abwägung. Zuwendung und Abwendung liegen nah beieinander. Die Helfenden beginnen zu beobachten. Sie helfen nicht mehr. Die Ferne in den helfenden Beziehungen kann zum Ort des Zögerns werden, zum Ort des Kalküls, möglicher Abwendung, möglicher Urteile. Die Herstellung von Distanz sagt: Wir können nicht immer, nicht allen helfen. Es muss Ordnung in die Hilfe kommen. Prüfprozesse müssen installiert werden. Empathie hilft nicht 330 uj 7 + 8 | 2019 Nächstenliebe weiter. Ohne feste Zeiten, Regeln, Verträge geht gar nichts. Die Forderung nach Distanz sagt auch: Die Türe muss auch einmal geschlossen bleiben. Sie sagt: Hilfe muss für alle gleich sein. Sie sagt: Wir müssen auch über die Folgen nachdenken. Indem die helfenden Professionen diese Ferne mit den Mitteln des Wissens und der Reflexion einüben, stellen sie ihre Hilfe unter das Vorzeichen einer Voraussetzung. Sie setzen der Beziehung Grenzen, sie schaffen einen leeren Raum zwischen sich und dem Anderen, sie lassen die Menschen, denen sie helfen sollen, die Kinder, die Jugendlichen, das wissen. Ihre Beziehung ist da, um sie zu lösen. Autonomie Das Ziel jeder professionellen Beziehungsarbeit in den sozialen Hilfesystemen, in der Kinder- und Jugendhilfe, ist die Autonomie. Autonomie gilt als eine wesentliche Entwicklungsaufgabe, die die Kinder- und Jugendhilfe unterstützen soll. Kinder und Jugendliche sollen erfahren können, dass sie sich aus den Bindungen, den Abhängigkeiten ihrer Lebensumstände und ihrer Lebensführung heraus entwickeln können, ihre eigene Zukunft entwerfen können. Zur Autonomie gehören Selbstachtung und das Wissen und Vertrauen auf die eigene Stärke. Autonomie ist ein Versprechen, das das Helfen in der Kinder- und Jugendhilfe als Paradoxon durchzieht. Indem die helfenden Berufe die Kinder und Jugendlichen unterstützen, machen sie sich selbst überflüssig. Helfen ist Helfen auf Zeit, es folgt den Entwicklungsschritten, dem Wachstum, Helfen zur Autonomie ist ein Helfen vom Ende her gedacht. Das Ziel der Autonomie ist tief verwurzelt in der Aufklärung - Freiheit des Denkens, Freiheit in der Wahl einer Lebensführung, die dem kategorischen Imperativ folgt, ist seine Substanz. Wage, zu denken. Vertraue der Vernunft. Mit diesem Ziel der Autonomie wird die Abhängigkeit verworfen, seither ist sie in Verruf geraten. Wer sich heute in der Abhängigkeit aufhält, ja gar heute in Abhängigkeit lebt, macht sich dem Vorwurf der Unfähigkeit oder schlimmer noch des Schmarotzertums schuldig, wer heute in Abhängigkeit lebt, wird einem Helfen zugeführt, das zum Ziel hat, diese Abhängigkeit zu beenden. Wenn Hilfe als eine Linie von Abhängigkeit zu Autonomie gedacht wird, wird die Zeit zur mächtigen Größe, sie bestimmt, wann es einen Anfang und wann es ein Ende der Hilfe gibt. Hilfe zur Autonomie ist, so sehr ihre Begründung in der Freiheit des Einzelnen Würde zu entfalten vermag, ein voraussetzungsvolles Helfen, denn es setzt als Voraussetzung die Begrenzung der Zeit, der Mittel, der Ressourcen. Autonomie als Hilfeziel ist nicht großzügig. Autonomie erwartet etwas. Es muss etwas gelingen in der Hilfe. Streng waltet diese Vorgabe in den helfenden Berufen, streng überwacht sie alle Großzügigkeit, alle Beziehung, alle Menschenliebe, die darin möglich ist. Die Voraussetzung der helfenden Beziehung, gedacht als Verbindung und Ort der Empathie, ist immer ihr Ende. Wer ist mein Nächster? Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme. 331 uj 7 + 8 | 2019 Nächstenliebe Der Barmherzige Samariter ist eine Meistererzählung des Helfens. Jesus erzählt sie auf die Frage, was richtiges Leben und Handeln sei, wenn die Maxime der Schrift befolgt werden soll, seinen Nächsten so zu lieben wie sich selbst. Er braucht dazu nicht lange, die Geschichte hat wenige Zeilen. Sie handelt davon, wie Menschen mit Menschen umgehen. Das Helfen ist eine ziemlich unaufwendige Angelegenheit. Kein Haus muss gebaut werden, kein Plan ist dazu notwendig, kein Antrag muss gestellt werden, es wird auch keine Rechtsprechung dazu geben. Keine Beziehung besteht zwischen dem Mann am Straßenrand und seinem Helfer. Keine Erwartung wird formuliert und schriftlich festgelegt. Das Helfen kostet ein wenig Zeit, ein wenig Medizin, ein paar Münzen, eine Ankündigung, wenn du mehr brauchst, werde ich da sein. Es ist keine Geschichte, die zu einer Revolution taugt, keine kritische Provokation steckt, so scheint es, darin. Helfen ist einfach, schwach, unspektakulär, es geschieht in der Gegenwart. Man muss nur stehen bleiben. Man muss nur mitfühlen können, wie es sich anfühlt, am Straßenrand zu liegen, die Wunden bluten. Man muss sich kurz aus allem lösen, was die Zeit und die Vernunft von einem verlangen. Das sind die wenigen Voraussetzungen dieses Helfens. Die Frage, wer mein Nächster sei, ist heute in den helfenden Berufen nicht leicht zu beantworten. Sie wird, mehr noch, vielfach nicht mehr gestellt. In den modernen Hilfesystemen und ihrem Professionalitätsverständnis gibt es heute andere Wörter. Wie sollen wir die Menschen nennen, die an dieses System professioneller Hilfe herantreten? Es gibt Leistungsberechtigte, Leistungsempfänger, Adressatinnen und Adressaten, Klientinnen und Klienten, Kundinnen und Kunden. Es gibt vielfache Wörter für Hilfe - Beziehungsarbeit, Entwicklungsarbeit, Förderung, Leistung, Hilfeplan. Nächstenliebe hat darin, so scheint es, kaum einen Platz. Eingebettet in Sprachformen, Denkformen, Ökonomie und Bürokratie findet ein Helfen als etwas statt, das ohne Voraussetzung kaum mehr zu denken ist. Professionalität definiert sich heute als voraussetzungsvolles Tun, selbst dort, wo Empathie und Zuwendung verlangt werden, in der helfenden Beziehung selbst, herrschen Voraussetzungen. Die Pflicht zur Distanz, die Begrenzung der Hilfe durch das Diktat der Autonomie beherrschen die professionellen Hilfesysteme. Es gibt einen Anfang, es gibt ein Ende der Hilfe. Das Helfen, gerecht gedacht, entfernt sich, indem es sich Grenzen setzt und setzen lässt, von seinen Wurzeln. Es gibt eine immerwährende Entfernung, die helfenden Professionen entfernen sich von denen, die Hilfe nötig haben, im Zuge ihrer weitergehenden Professionalisierung mehr und mehr, der Abstand vergrößert sich. Helfen ist endlich geworden. Was aber würde geschehen, wenn die Frage „Wer ist mein Nächster? “ wieder gestellt würde, wenn sie, wie ein leiser Ton, den leeren Raum der Distanz betritt? Die Weisheit des Helfens Die Idee der Nächstenliebe, die Erzählung von einem schwachen Helfen, das ohne Zögern geschieht, ohne die Voraussetzung von Vorgaben und Plänen, ohne Skepsis, was morgen sein könnte, ohne die Grenzsetzungen geordneter Gerechtigkeit, entfaltet in den modernen Hilfesystemen heute wieder seine eigene Provokation. Flucht und Armut, Nationalismus, rassistischer, homophober, frauenfeindlicher Hass und Ausgrenzung sind zu Herausforderungen des professionellen Helfens geworden, die der Idee der Nächstenliebe wieder Raum gegeben haben. Denn diese Idee eines Helfens aus Nächstenliebe widersetzt sich den Grenzen, die sich die Professionalität heute selbst setzt. Sie widersetzt sich dem immerwährenden Ende, das alles Helfen heute beherrscht, der Frage, wem geholfen werden soll und wem nicht. Nächstenliebe als Idee widersetzt sich der Vorgabe der Autonomie, des Nutzens, der 332 uj 7 + 8 | 2019 Nächstenliebe Effizienz. Nächstenliebe widersetzt sich dem Nationalismus, dem Rassismus, der Feindseligkeit, der Ausgrenzung von allem, was anders sein könnte. Nächstenliebe widersetzt sich allen großen Entwürfen und Politiken. Sie hat mit alledem nichts zu tun. Eine bescheidene Geschichte, eine Geschichte, die keine politische Begründung und endlose Diskurse braucht, neun Zeilen lang in der Einheitsübersetzung der Bibel. Der Samariter zieht weiter, ohne große Worte. In der Nächstenliebe könnte heute wieder eine Kraft zu entdecken sein, die die Schönheit des Helfens in den helfenden Berufen in ihrem Kern immer noch ausmacht. Diese Schönheit besteht in der kleinen Großzügigkeit, die im umzäunten Alltag die Helfenden denen, die Hilfe brauchen, entgegenbringen. Diese Großzügigkeit besteht darin, inmitten der zahllosen Voraussetzungen eine Zuwendung zu erbringen, die außerhalb aller Diskurse der Professionalität für den Moment der Gegenwart geschieht. Nächstenliebe birgt eine kleine Unendlichkeit. In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hat das Heraustreten aus der Zeit und den Autonomievorgaben eine lange Tradition. Aus dem Blick der Kinder und Jugendlichen, das weiß die Pädagogik seit langer Zeit, gibt es eine Gegenwart, die wichtiger ist als die Zukunft. Es gibt einen Ruhepunkt, von dem aus alles Weitere - in der Erziehung, der Entwicklung, dem Lernen - erst geschehen kann. Dieser Ruhepunkt ist die Gegenwart des Helfens. Sie muss sich sicher anfühlen, bergend, gut und frei. Das kostet ein wenig Zeit, man muss nur stehenbleiben, vielleicht braucht es ein paar Münzen und die Aussicht, dass ich morgen auch noch da bin. Maria Kurz-Adam E-Mail: kurz.adam@t-online.de Literatur Müller, C. W. (2013): Wie Helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der Sozialen Arbeit. 6. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel