unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2019
717+8
Rezension
71
2019
Wilhelm Topel
Rezension Oliver Bilke-Hentsch/Kathrin Sevecke (Hrsg. 2017): Aggressivität, Impulsivität und Delinquenz. Von gesunden Aggressionen bis zur forensischen Psychiatrie bei Kindern und Jugendlichen Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 248 Seiten, € 49,99
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uj 7 + 8 | 2019 345 Rezension Ein gewisses Maß an Aggressivität und Impulsivität gehört durchaus zur gesunden Persönlichkeitsentwicklung im Kindes- und Jugendalter dazu. Durch den Einfluss verschiedener Risikofaktoren (u. a. Vernachlässigungen, Misshandlungen) kann es jedoch auch zu einer Störung des Sozialverhaltens und zur Delinquenz kommen. Eine wichtige protektive Funktion haben für die Früherkennung, Prävention und Frühbehandlung die Eltern, die Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, aber nicht zuletzt auch die Experten der Sozialen Arbeit, des Gesundheitswesens und der Justiz. Wichtig ist dabei die gut koordinierte interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die mehr als 50 Autoren des Buches (u. a. Psychiater, Rechtsmediziner, Juristen und Psychologen) vermitteln einen interessanten Überblick über die vielfältigen Aspekte der gesunden und destruktiven Entwicklung von Aggressivität und Impulsivität. Ein besonderes Anliegen der Herausgeber ist, die deutschsprachigen Traditionen (BRD, Österreich, Schweiz und Südtirol) in der Diagnostik, Intervention und Rehabilitation sichtbar zu machen, indem Erkenntnisse und Erfahrungen der Entwicklungspsychopathologie, der Justiz, der Helfersysteme sowie der kategorialen und dimensionalen Psychodiagnostik erörtert werden. Hilfreich für einen konstruktiven Diskurs, vor allem zwischen Vertretern diverser Fachdisziplinen (Psychiatrie, Psychologie, Sozial- und Sonderpädagogik) sind die umfangreichen Literaturangaben (934) und ein Sachverzeichnis. Aufgrund der kurz und prägnant abgefassten Beiträge ist das Buch auch als Nachschlagewerk geeignet. Welche gesellschaftlichen, sozialen, entwicklungspsychologischen und entwicklungspsychiatrischen Gegebenheiten sind für die Herausbildung von Störungen des Sozialverhaltens bedeutsam? Ist Delinquenz eine vorübergehende adoleszentäre Phase? Was ist über die Epidemiologie psychischer Störungen in der jugendlichen Normalbevölkerung bekannt? Wie sollte die Diagnostik und Begutachtung „auffälliger“ Verhaltensweisen gestaltet werden? Welche Bedingungkonstellationen fördern Gruppengewalt und -kriminalität? Diese und viele andere Fragen werden in Teil 1 des Buches (Grundlagen) und in Teil 2 (Interventionen in Praxis und Institutionen) wissenschaftlich fundiert erörtert. Tabellen und Abbildungen veranschaulichen gut die auf empirischen Untersuchungen basierenden Aussagen. Vor allem die Hinweise auf neuere Forschungsergebnisse zur Diagnostik und zu bewährten Interventionsverfahren sind beachtenswert. Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe können den Darlegungen der einzelnen Autoren brauchbare Anregungen für die Gestaltung der eigenen Praxis entnehmen, wenngleich das natürlich auch von der jeweiligen Thematik abhängig ist. Denkanstöße vermitteln beispielsweise die Thematisierungen gesellschaftlicher Entwicklungen, entwicklungspsychologischer und entwicklungspsychiatrischer Aspekte, ambulanter und stationärer Maßnahmen, geschlechtsspezifischer Eigenarten und Intelligenzminderungen mit den damit verbundenen Persönlichkeitseigenschaften (Komorbiditäten). Hingegen dürften für diesen Leserkreis die Ausführungen zur neurologischen Diagnostik oder zur Pharmakotherapie wahrscheinlich weniger Aufmerksamkeit finden. Der Beitrag über Jugendhilfemaßnahmen informiert aus der Sicht eines Arztes einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie über das Kinder- und Jugendhilfegesetz, die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und die Oliver Bilke-Hentsch/ Kathrin Sevecke (Hrsg. 2017): Aggressivität, Impulsivität und Delinquenz. Von gesunden Aggressionen bis zur forensischen Psychiatrie bei Kindern und Jugendlichen Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 248 Seiten, € 49,99 346 uj 7 + 8 | 2019 Rezension Risikogruppen, für die sowohl die Jugendhilfe als auch die Psychiatrie Verantwortung tragen. Für eine zielführende Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie macht er wertvolle Vorschläge (u. a. respektvolle Interaktionen auf Augenhöhe, kenntnisgeleitete Möglichkeiten zur gegenseitigen Perspektivenübernahme oder die interdisziplinäre Verantwortungsgemeinschaft beim Kinderschutz). Alles in allem: Die vorliegende Schrift vermittelt einen differenzierten Überblick über die Phänomenologie, Genese, Prophylaxe und Intervention bei ausgewählten psychosozialen Verhaltensabweichungen, indem sowohl entwicklungspsychologische als auch psychopathologische Aspekte der Aggressivität, Impulsivität und Delinquenz bei Kindern und Jugendlichen transparent gemacht werden. Sie ist nicht nur für Ärzte, Psychologen und Juristen eine gute Handlungsorientierung, sondern auch Sozialpädagogen und Sozialarbeiter können ihr für ein sachkundiges Agieren nützliche Informationen entnehmen. Dr. habil. Wilhelm Topel, Leipzig DOI 10.2378/ uj2019.art56d
