eJournals unsere jugend 71/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art60d
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Anforderungen an die SGBVIII-Reform aus Sicht des Bundesverbandes katholischer Einrichtungen und Dienste

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Yvonne Fritz
Stephan Hiller
Als Beteiligter im Dialogprozess zur Modernisierung der Kinder- und Jugendhilfe hat der Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste eine Reihe von Vorschlägen zur Reform des SGB VIII entwickelt. Dabei stehen nicht nur die stärkere Beteiligung der Eltern sowie die Unterstützung von Care Leavern, sondern auch der Wandel hin zu einer inklusiven Jugendhilfe im Fokus.
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367 unsere jugend, 71. Jg., S. 367 - 373 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art60d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Anforderungen an die SGB-VIII-Reform aus Sicht des Bundesverbandes katholischer Einrichtungen und Dienste Als Beteiligter im Dialogprozess zur Modernisierung der Kinder- und Jugendhilfe hat der Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste eine Reihe von Vorschlägen zur Reform des SGB VIII entwickelt. Dabei stehen nicht nur die stärkere Beteiligung der Eltern sowie die Unterstützung von Care Leavern, sondern auch der Wandel hin zu einer inklusiven Jugendhilfe im Fokus. von Yvonne Fritz Jg. 1965; Volljuristin, seit 2010 Geschäftsführerin des SkF Geißen e.V. Der Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen e.V. (BVkE) ist ein anerkannter zentraler Fachverband des Deutschen Caritasverbandes. Er ist das Netzwerk der katholischen Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen auf Bundesebene. Zum Verband zählen rund 470 Mitglieder aus allen Bundesländern, die ca. 100.000 Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Familien betreuen. Seinen zentralen Auftrag sieht der BVkE darin, dazu beizutragen, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in und außerhalb von Familien förderliche Lebens- und Entwicklungsbedingungen erfahren, die das Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gewährleisten. Ausgangssituation zur aktuellen Reformdebatte Der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG) ist vom Bundesrat nicht verabschiedet worden und somit in der alten Legislaturperiode nicht umgesetzt worden. Im Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode haben CDU/ CSU und SPD vereinbart, die Kinder- und Jugendhilfe weiterzuentwickeln. Insbesondere der Kinderschutz und die Unter- Stephan Hiller Jg. 1964; Dipl. Sozialpädagoge und Dipl. Betriebswirt, BVkE Geschäftsführer 368 uj 9 | 2019 Die SGB-VIII-Reform aus Sicht des BVkE stützung von Familien sollen verbessert werden. Es geht um ein wirksames Hilfesystem, „das die Familie stärkt und Kinder vor Gefährdungen schützt. Das Kindeswohl ist dabei Richtschnur“ (Koalitionsvertrag 2018, 21). Ziel einer künftigen Gesetzesinitiative ist es, das Hilfesystem ausgehend von den realen Hilfebedarfen der Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien weiterzuentwickeln. Die Basis für diese Modernisierung der Kinder- und Jugendhilfe ist ein breiter Beteiligungsprozess mit Wissenschaft und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Gesundheitshilfe sowie den Ländern und Kommunen im sogenannten Dialogforum „Mitreden - Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe“. Der Dialogprozess startete mit einer Auftaktkonferenz am 6. November 2018. Die Ergebnisse des Dialogprozesses werden auf einer Abschlusskonferenz Ende des Jahres 2019 der Fachöffentlichkeit präsentiert. Dazwischen werden in vier AG-Sitzungen die Leitthemen Kinderschutz und Kooperation, Inklusion, Fremdunterbringung und Prävention im Sozialraum behandelt. Gleichzeitig verfolgt die derzeitige Politik die inklusive Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe mit dem Ziel, dass die Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen, mit oder ohne Behinderung, zuständig wird. Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist ab dem 1. Januar 2018 auch die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen den für alle Rehabilitationsträger geltenden allgemeinen Regeln des Teils 1 und 2 des SGB IX unterworfen und zwar unabhängig davon, ob sie aus dem SGB XII oder dem SGB VIII zu leisten ist. Die Umsetzung wird sich daran messen lassen, wie Hilfeleistungen „barrierefrei“ auch für junge Menschen mit körperlichen und/ oder geistigen Behinderungen erreichbar sind, um Entwicklung und Teilhabe für alle Kinder und Jugendlichen in der Gesellschaft zu ermöglichen. Positionierung des BVkE zur SGB-VIII-Reform Der BVkE hat sich bereits im Mai 2014 zusammen mit dem Deutschen Caritasverband und seinen Fachverbänden mit den Eckpunkten zur sogenannten „großen Lösung“ für die Zusammenführung der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung im Sozialgesetzbuch VIII ausgesprochen. Der Begriff der „großen Lösung“ wurde im Zuge des politischen Prozesses der Jahre 2016 und 2017 durch den Begriff der „inklusiven Lösung“ ersetzt. In der aktuellen Debatte und dem Dialogprozess beteiligt sich der BVkE mit folgenden Vorschlägen: Beteiligung/ Beratung und Unterstützung der Eltern Der BVkE hält die Stärkung der Beteiligungsmöglichkeiten der AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe für einen zentralen Wirkfaktor gelingender Hilfebeziehungen. Dies zeigen die Untersuchungen „Evaluation erzieherischer Hilfen (EVAS)“ (Macsenaere 2016) und „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Jugendhilfe“ (Mascenaere u. a. 2017) im Rahmen der Praxisforschung in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ), Mainz. Das SGB VIII kennt bereits in seiner jetzigen Fassung z. B. eine Pflicht zur Aufklärung. Auch ist Beratung, Elternarbeit oder eine ambulante Hilfe parallel zur Fremdunterbringung möglich, ohne dass das offenbar hinreichend wahrgenommen wird. Dies wird in den Einrichtungen vor Ort umgesetzt und es gibt eigene Konzepte für die Elternarbeit. Unterstützung bei der Verselbstständigung von jungen Volljährigen oder Care Leavern Verpflichtende gesetzliche Regelungen für Care Leaver sind zu begrüßen. Wichtig ist ein Rechtsanspruch auf bedarfsgerechte Beratung und 369 uj 9 | 2019 Die SGB-VIII-Reform aus Sicht des BVkE entsprechend niederschwellige Anlaufstellen. Bisher leisten viele Einrichtungen der stationären Hilfen zur Erziehung unentgeltliche Beratung und Unterstützung von Care Leavern, um die jungen Menschen nicht „im Regen stehen zu lassen“, besonders bei Behördenangelegenheiten und bei der Wohnungssuche. Zur Verselbstständigung und zum Erwachsenwerden gehört die Teilhabe am Arbeitsleben. Für viele Jugendliche, die emotionale, soziale oder kognitive Beeinträchtigungen haben, ist die berufliche Integration mit Schwierigkeiten verbunden - und das trotz Fachkräftemangel. Stationäre Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung bieten Jugendlichen, die im Heim aufwachsen und kognitive und/ oder emotionale Beeinträchtigungen haben, ein breit gefächertes Angebot zur beruflichen Ausbildung an. Durch die pädagogische Qualität dieser Maßnahmen haben viele junge Menschen, die im regulären Ausbildungs- oder Hochschulsystem keinen Platz finden, trotzdem die Chance auf einen guten Start ins Berufs- und Erwachsenenleben. Öffentliche Jugendhilfeträger ziehen sich jedoch aus finanziellen Gründen immer mehr von der beruflichen Förderung im Rahmen der Hilfen zur Erziehung zurück. Daraus ergeben sich weitere Handlungsbedarfe, die zentral sind für einen gelingenden Übergang ins Erwachsenenleben: ➤ Die öffentliche Jugendhilfe ist aufgefordert, die berufliche Qualifizierung in Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung als einen bedarfsgerechten Baustein im Gesamtsystem der beruflichen Bildung anzuerkennen und zu finanzieren. Die Wirksamkeit der beruflichen Bildung innerhalb der Jugendhilfe ergibt sich dabei durch einen Gesamtförderrahmen, in dem die Jugendberufshilfe verknüpft wird mit sozialpädagogischen und gegebenenfalls auch therapeutischen Angeboten sowie schulischen Förderhilfen. Die Qualität der beruflichen Ausbildung in den Hilfen zur Erziehung ist nicht über temporäre Projektförderungen oder öffentliche Ausschreibungen herzustellen, sondern benötigt einen kontinuierlichen Aufbau von Expertise sowie Kontinuität in der Arbeit mit Jugendlichen und jungen Menschen. ➤ Mehr Durchlässigkeit in der beruflichen Bildung: Die Hilfen zur Erziehung bieten die Möglichkeit von Berufsausbildungen mit reduziertem Praxis- und Theorieanteil für Jugendliche und junge Erwachsene, die auf dem regulären Ausbildungsmarkt keine Chance haben. Diese Ausbildung sollte nicht als Berufsausbildung „zweiter Klasse“, sondern als Grundqualifizierung mit Durchlässigkeit nach „oben“ betrachtet werden. ➤ Zeitpunkt zur Beendigung der Hilfen zur Erziehung nach bundesweit einheitlichen Standards und individuellem Bedarf: Die von Region zu Region stark unterschiedliche Bewilligungspraxis von Hilfen für junge Volljährige führt zu regionaler Chancenungleichheit. Viele Jugendämter beenden die Förderung mit Erreichen der Volljährigkeit; häufig werden sinnvolle Qualifizierungsmaßnahmen von den Jugendämtern nicht genehmigt, weil das Erreichen der Volljährigkeit in Sicht ist. Pädagogische Leitlinien oder gar Standards für die Beurteilung eines Hilfebedarfs oder die inhaltliche und zeitliche Ausgestaltung von Hilfen für junge Volljährige gibt es nicht, sodass trotz einer bundeseinheitlichen gesetzlichen Regelung erhebliche regionale Disparitäten in der Bewilligungspraxis von Jugendämtern erkennbar sind. Als Ursachen hierfür sind sowohl unterschiedliche Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster der Fachkräfte als auch Fragen der Effizienz und vielerorts fehlende, spezifisch die Entwicklungsaufgaben dieser Altersgruppe berücksichtigende Konzepte identifizierbar. Prozesse der Verselbstständigung und des Hineinwachsens in die Lebens- und Arbeitswelt der Erwachsenen werden durch die oft rein fiskalisch bestimmte Bewilligungspraxis der öffentlichen Jugendhilfe unnötig erschwert oder drohen zu scheitern. 370 uj 9 | 2019 Die SGB-VIII-Reform aus Sicht des BVkE ➤ Möglichkeit, Hilfen auch nach dem 21. Lebensjahr zu beginnen: Der Hilfeplan bzw. die Beratungsoption für junge Menschen können nach dem 21. Lebensjahr beginnen und z. B. als Beratungsangebot so lange weitergeführt werden, bis der junge Mensch die Begleitung selbst beendet oder die Altersgrenze des SGB VIII für Leistungen für junge Menschen (27 Jahre) erreicht ist. Dies sollte bei allen stationären Leistungen gelten, die für mehr als drei Monate bewilligt wurden. Dabei sind auch die Wiederaufnahme sowie eine mögliche Neubegründung von Leistungen immer wieder zu prüfen. ➤ Konsequente Anwendung der Hilfen für junge Volljährige nach § 41 Abs. 3 SGB VIII: „Der junge Volljährige soll auch nach Beendigung der Hilfe bei der Verselbstständigung im notwendigen Umfang beraten und unterstützt werden“. ➤ Rückkehr-Option für junge Menschen und Care Leaver, die eine Maßnahme abgebrochen haben und danach doch wieder Unterstützung suchen: Abbrüche sind in der Phase des Erwachsenwerdens nichts Ungewöhnliches, denen mit pädagogisch qualifizierten Angeboten zu begegnen ist statt mit „Hinauswurf“ aus der Jugendhilfe oder mit Sanktionen im SGB II. ➤ Ermöglichung einer Teilzeit-Ausbildung: Nach der Elternzeit in Vollzeit in den Ausbildungsbetrieb zurückzukehren oder gar mit Kind eine Ausbildung zu beginnen stellt oftmals eine unüberwindbare Hürde für junge Menschen dar. Damit die Ausbildung trotzdem erfolgreich abgeschlossen werden kann, fordern wir den Ausbau der Teilzeitausbildung. ➤ Zur Kostenheranziehung für junge Menschen: Die bisherige Kostenheranziehung von jungen Menschen in den Hilfen zur Erziehung ist demotivierend und trägt nicht dazu bei, dass junge Menschen eigenverantwortlich ihre Zukunft planen können (z. B. durch Sparen für die Zeit nach Beendigung der Jugendhilfe). Umso wichtiger erscheint es, die Rechtsstellung von Care Leavern zu stärken. Keinesfalls darf hinter die in § 94 Abs. 6 SGB VIII KJSG vorgezeichneten Änderungen bei der Kostenheranziehung junger Menschen zurückgefallen werden. Eine vollständige Befreiung wäre im Interesse der jungen Menschen. Zur inklusiven Jugendhilfe Der BVkE setzt sich nachdrücklich dafür ein, dass der aktuelle Reformprozess genutzt wird, um die UN-Behindertenrechtskonvention für alle Kinder und Jugendlichen (oder junge Menschen) in Deutschland endlich Realität werden zu lassen. Anlässlich der Debatte zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz in der letzten Legislaturperiode erörtert der BVkE mit weiteren Erziehungshilfefachverbänden (Bundesverband für Erziehungshilfe e.V. [AFET], Bundesfachverband Evangelischer Erziehungsverband e. V. [EREV], Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen [IGFH]) und den Verbänden für Menschen mit Behinderung (Bundesverband anthroposophisches Sozialwesen e.V. [Anthropoi], Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. [BeB], Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. [BVLH], Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. [bvkm], Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. [CBP]) seit rund 18 Monaten in regelmäßigen Arbeitsgesprächen fachliche Fragen der Zusammenführung der Leistungen für alle Kinder- und Jugendlichen unter dem Dach des SGB VIII. Einer der zentralen Gesichtspunkte bei der Ausgestaltung der inklusiven Hilfen zur Erziehung und der Reform des SGB VIII ist die Frage der Zugänge sowie die Frage der Bedarfsfeststellung und der Rahmung des Hilfeplanverfahrens. Leistungskatalog: Der Leistungskatalog ist zentral im SGB VIII. Nach den derzeitigen Regelungen gibt es einen anspruchsbegründenden Tatbestand für Hilfen zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) und einen anspruchsbegründenden Tatbestand für Eingliederungshilfe (§ 35 a SGB VIII). Beide 371 uj 9 | 2019 Die SGB-VIII-Reform aus Sicht des BVkE Ansprüche zielen auf einen jeweils offenen, aber separaten Leistungskatalog. In Bezug auf den anspruchsbegründenden Tatbestand ist zu überlegen, ob der Tatbestand überhaupt zwischen Behinderung und einem Erziehungsbedarf unterscheiden soll. Wir gehen davon aus, dass Anspruchsberechtigte mit einer Behinderung gleichberechtigt mit anderen Ansprüche auf die Leistungen der Hilfen zur Erziehung haben sollen. Zu den andersherum gerichteten Ansprüchen gibt es jedoch geteilte Meinungen. Die „Weiche“, an der sich entscheidet, ob das SGB IX 1. Teil gilt oder nicht, muss aufseiten des anspruchsbegründenden Tatbestandes gestellt werden. Eine Verschmelzung des bislang einen Anspruch auf Hilfen zur Erziehung begründenden Tatbestands mit einer Behinderung als anspruchsbegründenden Tatbestand würde letztlich den Anspruch darüber hinaus zu unspezifisch machen und könnte sich so als Schwächung der Rechte insbesondere von jungen Menschen mit Behinderung auswirken. Eine Trennung der beiden Bereiche stellt wiederum ein inklusives Gesetz infrage. Die bisherige Trennung der Normierung der Rechtsfolgen hat sich in der Praxis nicht bewährt. Sie hat entscheidend dazu beigetragen, dass erzieherische Bedarfe von jungen Menschen mit einer Behinderung nicht immer ausreichend Berücksichtigung finden. Sie ist eine wichtige Ursache dafür, dass das System der Teilhabeleistungen für junge Menschen mit einer Behinderung bis heute dazu neigt, die Behinderung als ein isoliertes Problem der betroffenen Person zu betrachten, anstatt sie in ihrem sozialen Kontext zu interpretieren und Teilhabeleistungen entsprechend auszugestalten (fehlende systemische Perspektive). Der BVkE fordert daher, ein inklusives SGB VIII so auszugestalten, dass ein einheitlicher Leistungskatalog normiert wird, der allen jungen Menschen mit erzieherischen Bedarfen und Behinderungen gleichberechtigt und bedarfsbezogen zur Verfügung steht. Die Verschmelzung der Leistungskataloge wird dazu führen, dass Leistungen besser als bislang auf den Einzelfall zugeschnitten werden können. Wenn sowohl Teilhabeleistungen als auch Hilfen zur Erziehung erforderlich sind, trägt die Verschmelzung der Leistungskataloge dazu bei, dass Synergie-Effekte entstehen. Hilfe- und Teilhabeplanung: Im Selbstverständnis der Kinder- und Jugendhilfe spielt das Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII eine gewichtige Rolle. Das Hilfeplanverfahren wird als der Ort eines partizipativen Aushandlungsprozesses zwischen den Berechtigten und dem öffentlichen Träger (Jugendamt) verstanden, der keineswegs stets zur aus fachlicher Sicht besten, sondern zu einer konsentierten (und deshalb besten) Lösung führen soll. In der Kinder- und Jugendhilfe wird befürchtet, dass durch eine Übernahme von Elementen der Bedarfsermittlung nach dem SGB IX auch die standardisierten Instrumente zur Bedarfsermittlung einzusetzen sind. Dies wird sehr kritisch bewertet. Die inklusive Lösung muss daher Verfahrensregeln umfassen, die auf der einen Seite die Selbstbestimmung der Berechtigten stärken. Das umfasst nicht nur eine stärkere Beteiligung als das Verfahren nach dem SGB IX, sondern auch eine Verankerung der subjektiven Dimension des Bedarfes im Gesetz, die sich nicht auf das Wunsch- und Wahlrecht beschränkt. Kinder, Jugendliche, Heranwachsende und Sorgeberechtigte haben zum frühestmöglichen Zeitpunkt das Recht auf Beratung und Information durch den örtlichen Jugendhilfeträger. Auf der anderen Seite muss das Verfahren sicherstellen, dass Beeinträchtigungen zuverlässig ermittelt und festgestellt werden. Es ist eine große Herausforderung, echte Partizipation der Berechtigten mit dem bestehenden Verwaltungsverfahren in Einklang zu bringen. Daher müssen für die inklusive Bedarfsermittlung und für die Hilfe- und Teilhabeplanung Beteiligungskonzepte sowohl im sozialpädagogischen Fallverstehen als auch im rehabilitativen Fallverstehen Anwendung finden. Die Bedarfsermittlung erfolgt nach den 372 uj 9 | 2019 Die SGB-VIII-Reform aus Sicht des BVkE anerkannten Grundsätzen der sozialpädagogischen Diagnostik mit seinen Instrumenten und Konzepten. Bei einem evtl. vorliegenden oder festgestellten behinderungsspezifischen Bedarf sollen dann zusätzlich die systematischen Instrumente des § 13 Abs. 1 SGB IX hinzugezogen werden. Somit wird für Kinder mit behindertenbedingten Funktionsbeeinträchtigungen eine umfassende Prüfung ihrer Teilhabebeeinträchtigung sichergestellt. Der öffentliche Träger der Jugendhilfe trägt die Verantwortung dafür, die bedarfsgerechte, notwendige und geeignete Hilfe gemeinsam mit den Anspruchsberechtigten zu entwickeln und zu gewähren. Die im Hilfe- und Teilhabeplan vereinbarten Hilfen und Leistungen werden von geeigneten, geprüften und multiprofessionellen Fachkräften im Sinne des § 72 SGB VIII gesteuert. Es muss sich hierbei in aller Regel um sozialpädagogisch ausgebildete Personen und um qualifizierte Fachkräfte der medizinischen Rehabilitation handeln. Ombudsstellen/ Beschwerdesysteme: Eine inklusive Ausgestaltung der Jugendhilfe stellt die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe sicher. Die Stellung der Betroffenen ist durch die Einrichtung von Ombudsstellen und Beschwerdesystemen sicherzustellen. Es sind unabhängige interdisziplinäre Ombudsstellen einzurichten, die den Zugang zu multiprofessionellen ExpertInnen sowohl des Sozialversicherungsrechtes als auch des Kinder- und Jugendhilferechts ermöglichen. Anspruchsinhaber: Nach derzeit geltendem Recht haben nur Personensorgeberechtigte Anspruch auf Hilfen zur Erziehung, nicht Kinder und Jugendliche selbst. Dagegen haben wiederum nur Kinder und Jugendliche selbst Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII, nicht ihre Eltern. Mit Eintritt der Volljährigkeit sind stets die jungen Erwachsenen, nicht mehr ihre Eltern Anspruchsinhaber. Es besteht wohl durchgängig Konsens darüber, dass die Anspruchsinhaberschaft der Minderjährigen in Bezug auf Leistungen der Eingliederungshilfe zu erhalten ist. In Bezug auf die Hilfen zur Erziehung ist umstritten, ob Minderjährige selbst Anspruch auf Leistungen erhalten sollen, ob der Anspruch alleine bei den Eltern bleiben soll oder ob beiden nebeneinander Anspruchsinhaberschaft zuzuerkennen ist. Ein Lösungsansatz aus unserer Sicht wäre, die Anspruchsinhaberschaft für Hilfen zur Erziehung den Sorgeberechtigten, Kindern und Jugendlichen gleichberechtigt nebeneinander zuzuerkennen. Alle Personengruppen haben einen Anspruch auf geeignete und notwendige Leistungen zur Unterstützung ihrer Erziehung, Förderung, Entwicklung und Teilhabe. Finanzierung: Ein weiterer wichtiger Aspekt wird die Finanzierung der Ansprüche und Leistungen sein. Dazu müssen wir alle davon ausgehen, wenn Ansprüche aus zwei unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern sinnvollerweise miteinander verknüpft werden, entstehen dadurch unter Umständen höhere Kosten für die Berechtigten. In Zukunft wird es Synergien in der Verwaltung der Kinder und Jugendhilfe geben und dadurch Kosteneinsparungen. Die sind aber nicht kurzfristig zu realisieren. Care Leaving In der Praxis der Pflegekinderhilfe und übrigen stationären Jugendhilfeleistungen stehen öffentliche und freie Träger vor der Aufgabe, nachhaltige Hilfe sicherzustellen und die jungen Menschen im Care Leaving zu unterstützen. Es müssen Ressourcen geschaffen werden für Anlaufstellen und nachgehende Hilfen für alle Fragen von Care Leavern. Der Kontakt mit Care Leavern muss gehalten werden und entsprechende Angebote gemacht werden. Dabei sollten bestehende Beziehungen durch und mit Eltern, ehemaligen VormundInnen oder PflegerInnen, BezugsbetreuerInnen, Pflegeeltern oder sonstigen geeigneten Personen gepflegt 373 uj 9 | 2019 Die SGB-VIII-Reform aus Sicht des BVkE und genutzt sowie Ressourcen dafür bereitgestellt werden. Zur Vorbereitung und Begleitung eines gelingenden Übergangs aus der stationären Jugendhilfe muss Biografiearbeit/ Erinnerungsarbeit Bestandteil der Zusammenarbeit mit den jungen Menschen sein. Auf der Grundlage verbesserter rechtlicher Regelungen und mit einer ausreichend ressourcengestützten Umsetzung in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe kann die Begleitung von Care Leavern - orientiert an deren Wünschen und Bedarfen - gelingen. Literatur Koalitionsvertrag (2018): Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 19. Legislaturperiode. In: https: / / www.cdu.de/ artikel/ koalitionsvertrag-zwi schen-cdu-csu-und-spd-19-legislaturperiode, 21. 5. 2019, https: / / doi.org/ 10.9785/ ovs-ur-2010-8 Macsenaere, M. (2016): Partizipation. In: Weiß, W., Kessler, T., Gahleitner, S. B. (Hrsg.): Handbuch Traumapädagogik. Beltz, Weinheim/ Basel, 106 - 114 Macsenaere, M., Köck, T., Hiller, S. (Hrsg.) (2017): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Jugendhilfe. Erkenntnisse aus der Evaluation von Hilfeprozessen. Lambertus, Freiburg Yvonne Fritz Geschäftsführerin SkF e.V. Wartweg 15 - 27 35390 Gießen Tel. (06 41) 2 00 11 00 E-Mail: y.fritz@skf-giessen.de Stephan Hiller BVkE Geschäftsführer Karlstraße 40 79104 Freiburg Tel. (07 61) 20 07 60 E-Mail: stephan.hiller@caritas.de